Читать книгу Sammelband 7 Krimis: Tuch und Tod und sechs andere Thriller auf 1000 Seiten - Alfred Bekker - Страница 16
5. Kapitel: Verdächtigungen
ОглавлениеBerringer verließ den Tatort, noch ehe die Untersuchungen der Polizei abgeschlossen waren. Was die Durchsuchung von Frank Severins Wohnung betraf, so vertraute er darauf, dass Kommissar Dietrich ihn über die wichtigsten Erkenntnisse, die daraus resultierten, informieren würde.
Berringer fuhr Richtung Bockum. Vom Elfrather See aus war es nur ein Katzensprung bis zur Villa der Geraths. Von unterwegs telefonierte er. Zunächst mit Vanessa Karrenbrock. Sie hielt die Bürofront, aber über das Internet hatte sie inzwischen einiges über Garol ImEx und seinen Besitzer Ferdinand Commaneci herausgefunden, der offenbar über eine ganze Reihe sehr dubioser Firmen herrschte.
Bukarest, Düsseldorf und Budapest hießen die Standort, allerdings auch Liechtenstein und die Kaiman-Inseln.
„Ich hab ja immerhin etwas BWL studiert, aber vielleicht wäre es für diesen Fall gar nicht schlecht, wenn ich noch ein paar Semester drangehängt hätte“, meine sie.
„Kannst du ja bei Gelegenheit noch nachholen.“
„Dein Geld hat mich korrumpiert und der hehren Wissenschaft enthoben“, behauptete sie.
„Ich dachte, du hättest das Studium vorher schon abgeschrieben.“
„Na ja, wenn ich ganz ehrlich bin, war das wohl von Anfang an nicht das Richtige für mich. Zurück in die Gegenwart, Meister: Ich hab 'n Foto von Commaneci aufgetan.
Stammt aus 'nem Zeitungsartikel aus Rumänien. Ist darauf mit ein paar lokalen Größen abgelichtet. Den Inhalt des Artikels kenn ich natürlich nicht, dazu müsst ich Rumänisch können. Aber ich kann ja mal den einen oder anderen Ex-Kommilitonen ansprechen. Es muss doch irgendjemanden geben, der Rumänisch lesen kann!“
„Verzettle dich nicht“, riet Berringer ihr. „Ich hatte Mark doch beauftragt, sich vor den Büros von Garol ImEx auf die Lauer zu legen und ein paar Bilder zu machen, damit wir wissen, wer da so ein- und ausgeht.“
„Hat er auch gemacht“, bestätigte Vanessa.
„Ist dabei schon irgendwas rausgekommen?“
„Das wissen wir wohl erst, wenn wir die Leute auf den Bildern identifizieren können.“
Er antwortete mit einem Brummen, das halb Zustimmung, halb Verärgerung ausdrückte, und sagte dann: „Ich fahre jetzt zu den Geraths.“ In knappen Worten fasste er zusammen, was es über den Fund von Severins Leiche im Elfrather See zu berichten gab.
„Das wird für Herrn Gerath keine angenehme Stunde der Wahrheit, würde ich sagen“, war Vanessa überzeugt.
„Irgendwann muss man reinen Tisch machen. Das ist nun mal so.“ Sie seufzte. „Man muss das ja nicht gleich philosophisch sehen. So wie du das sagst, klingt das so düster wie bei Clint Eastwood.“
„Ist das neuerdings ein Philosoph?“
„Vergiss es, Robert. Wir sind eben 'ne unterschiedliche Generation.“
„Daran muss es wohl liegen. Bis nachher.“
Robert Berringer unterbrach die Verbindung. Dann meldete er sich telefonisch bei den Geraths an. Als Grund nannte er nur, dass es zu wichtigen Ermittlungsergebnissen gekommen sei. Einzelheiten würden er während des Gesprächs preisgeben.
Eine gute Viertelstunde später fuhr Berringer auf das Grundstück der Geraths und wurde dort von den angestellten Sicherheitskräften der Firma SAFE & SECURE in Empfang genommen.
„Ihr kennt mich doch schon, Jungs“, meinte er.
Aber die Männer, die in gewisser Weise Berringers Branchenkollegen waren, schienen auf Humorlosigkeit gedrillt. Nur der mannscharfe Schäferhund mit dem Maulkorb über der Schnauze schien Berringer zu verstehen - er wedelt mit dem Schwanz.
Ein Hausmädchen öffnete Berringer die Tür und führte ihn die Freitreppe hinauf.
So sah er wenigstens noch etwas von dem Palast, dachte er und fragte sich, ob er sein Hausboot gegen eine solche Hütte nicht doch eingetauscht hätte.
Berringer scheuchte den Gedanken fort. Er musste sich auf das Gespräch mit dem Ehepaar Gerath konzentrieren. Er war wirklich gespannt, was insbesondere Regina Gerath zu den Dingen zu sagen hatte, die er ihr in ein paar Augenblicken auf dem Silbertablett präsentieren würde.
Das Hausmädchen führte Berringer in einen salonartigen, lang gezogenen Raum.
Alles war in Blau gehalten. Es gab kräftiges Blau, Marineblau, Violett, ein Himmelblau, das beinahe schon an ein blaustichiges Weiß erinnerte, und so fort.
Wie in der sogenannten guten alten Zeit, die es wahrscheinlich nie gegeben hat, dachte Berringer. Aber wenn sie schon nicht tatsächlich existiert hatte, dann konnte man sie sich ja selbst erschaffen. Otto Normalreich musste dazu seine Fantasie bemühen – jemand wie Gerath hatte es besser. Er braucht nur Innendekorateure zu finden, die diese nach rückwärts gerichteten Träume in Kunst und Mobiliar umsetzten und alles richtig kombinierten.
Berringer ließ den Blick schweifen. Die Front der hohen Fenster sorgte dafür, dass stets viel Licht diesen blauen Salon erhellte. Man sollte sich offenbar wie im siebten Himmel fühlen. Mit der Wirklichkeit hatte das wohl nicht viel zu tun. Jedenfalls stand das ach so harmonische Ambiente dieses Hauses in einem geradezu diametralen Gegensatz zu den zwischenmenschlichen Beziehungen der Familienmitglieder untereinander.
„Herr und Frau Gerath werden gleich erscheinen“, versprach das Hausmädchen und ließ Robert Berringer einen Augenblick allein.
Berringer atmete tief durch und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er trat an die Fensterfront. Man konnte bequem über die hohe Mauer schauen, die das gesamte Anwesen von den angrenzenden Grundstücken isolierte. Selbst die Straße war –
abgesehen von einem kleinen Streifen im unmittelbaren Sichtschatten der Umgrenzungsmauer – gut zu überblicken.
Ein Wagen fiel Berringer auf. Er parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Jemand saß am Steuer, ließ dann das Fenster herunter und entsorgte eine Zigarettenkippe. Eine der Polizeistreifen, die rund um Geraths Haus für Ruhe und Ordnung sorgen sollten, fuhr heran. Ein Beamter stieg aus und forderte den Fahrer des Fahrzeugs – es handelte sich um einen altersschwachen Golf – aus dem Auto zu steigen. Er kam dem auch nach. Er musste Papiere und Ausweis zeigen und außerdem den Kofferraum öffnen.
Das hatte er davon, dass du die Straße befleckt hatte, dachte Berringer. Es gab eben Bereiche, da kannten deutsche Gesetzeshüter kein Pardon. Und das Entledigen einer Kippe auf die Straße gehörte inzwischen dazu. Ordnungswidrigkeit mit einer kostenpflichtigen Verwarnung von zehn Euro, erinnerte sich Berringer und fragte sich insgeheim, ob die Preise auch in dieser Branche inzwischen gestiegen sein mochten.
Wahrscheinlich ja. Schließlich war alles teurer geworden.
Der Mann aus dem Golf wirkte auf die Entfernung völlig konturlos. Schütteres Haar.
Jemand, dessen Züge einem wahrscheinlich nicht in Erinnerung bleiben, selbst wenn man ihm im Zugabteil vielleicht einen halben Tag lang gegenübersaß. Er gestikulierte wild herum und versuchte, gegenüber den Polizisten sein vermeintliches Recht durchzusetzen. Doch die blieben hart. Schließlich bezahlte er, und die Streife fuhr weiter. Der Golffahrer ebenfalls.
„Herr Berringer?“
Es war die Stimme von Peter Gerath, die Berringer förmlich zusammenzucken ließ.
Da sprach ein Mann, der es gewohnt war, Untergebene zu führen.
Berringer drehte sich um.
Gerath war zusammen mit seiner Frau eingetreten. Regina Gerath wirkte etwas verlegen, als sie Berringer erblickte. Sie rieb dauernd die Handinnenflächen gegeneinander und trat von einem Fuß auf dem anderen. Da hatte jemand keinen festen Stand im Leben, hätte da der Amateurpsychologe gesagt, ging es Berringer durch den Sinn.
„Ich nehme an, dass sich im Laufe des heutigen oder morgigen Tages die Polizei noch bei Ihnen melden wird, um Sie zu befragen“, sagte Berringer.
„Worum geht es denn?“, wollte Gerath wissen.
„Um den Tod von Frank Severin, der Sie– wenn auch aus unterschiedlichen Gründen
- beide betrifft“, eröffnete ihnen Berringer. „Er wurde heute Morgen im Elfrather See gefunden. Frau Gerath, vielleicht können Sie uns etwas dazu sagen?“ Berringer wartete ihre Reaktion ab. Peter Gerath schien ehrlich überrascht. Er wandte ruckartig den Kopf, sah seine Frau an. „Hast du davon etwas gewusst? Was ist geschehen?“
„Nun, ich denke, dass wird uns Herr Berringer sicher gleich noch berichten“, erklärte sie ziemlich angespannt. Sie presste die Lippen zusammen und wich Berringers Blick aus.
„Warum sagen Sie uns nicht, was Sie schon wissen?“, forderte Berringer sie auf.
„Tut mir leid, ich weiß nicht, wovon Sie reden, Herr Berringer!“ Peter Gerath runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe keine Ahnung, was Sie da für ein Spiel treiben, Herr Berringer, aber ich weiß genau, wofür ich Sie eigentlich bezahle – nämlich dafür, dass Sie mir Informationen liefern!
Informationen, an die die Polizei aus irgendwelchen Gründen nicht herankommt, Sie aber schon, denn Sie können sich voll und ganz dieser Sache widmen und brauchen keinerlei Rücksicht auf Vorschriften und Paragrafen zu nehmen. Also reden Sie schon.“
Berringer trat auf die beiden zu. Regina Gerath hatte sich zur Seite gewandt. Sie beobachtete den Detektiv aus den Augenwinkeln heraus. „Sie waren doch ungefähr zur Tatzeit am Tatort, Frau Gerath“, stellte Berringer fest. „Dafür gibt es Zeugen. Angeblich waren Sie schwimmen, aber entweder, Sie haben an diesem Morgen Ihre Bahnen im Badezentrum in einem Rekordtempo hinter sich gebracht, oder Sie sind einfach früher aufgestanden. Oder Sie waren nie dort und haben das nur als Ausrede benutzt. Letzteres halte ich für das Wahrscheinlichste.“
„Sie haben eine blühende Fantasie, Herr Berringer“, sagte sie mit schneidender Stimme.
„Aber warum sollte meine Frau den Geschäftsführer von Avlar Sport umbringen?“, fragte Gerath. „Das ist doch absurd! Ich meine ...“
„Wollen Sie es Ihrem Mann sagen oder muss ich es tun?“, fragte Berringer an Regina Gerath gewandt.
Sie schluckte, schien noch mit sich zu ringen und nach einer Ausrede zu suchen. Aber was hätte sie sich da ausdenken können? Die Fakten ließen sich kaum schönreden, egal, wie man es auch formulierte.
„Ihre Frau hatte ein Verhältnis mit Frank Severin“, erklärte Berringer, als Regina Gerath noch immer nichts sagte. „Dafür gibt es ebenso Zeugen wie für ihre Anwesenheit am Tatort, dem Ufer des Modellsegelweihers am Elfrather See. Herr Severin war nämlich leidenschaftlicher Modellsegler und hat am See geübt. An diesem Morgen nahm er sich kurzfristig Urlaub dafür. Vielleicht, um sich dabei zu entspannen, weil ihm der Stress überm Kopf stieg.“ Gerath blieb vollkommen ruhig. Die Nachricht von der Untreue seiner Frau schien ihn in keiner Weise zu überraschen oder emotional zu tangieren. Er nahm das hin wie schlechtes Wetter, dachte Berringer. Er selbst könnte das nicht. Aber wer mochte schon wissen, was die Eheleute Gerath tatsächlich noch miteinander verband. Allzu viel schien es jedenfalls nicht zu sein.
Genauso wenig schien es Gerath zu erschüttern, dass seine Frau möglicherweise eine Mörderin war.
„Ich ... äh, ich habe mir nach Ihren ersten Hinweisen auf Severin mal die Bücher vorgenommen, beziehungsweise vornehmen lassen“, erwiderte Gerath schließlich und nachdem er sich ausgiebig geräuspert hatte. „Da gibt es ein paar seltsame Dinge, die auf dem ersten Blick keinen Sinn ergeben.“
Was das wirklich alles, was er dazu zu sagen hatte?, ging es Berringer durch den Kopf; er war fassungslos. Wie konnte jemand nur so kalt sein! Er musste sehr an sich halten, um seine Meinung nicht lauthals zu äußern. Aber so etwas brachte nichts, das wusste Berringer aus leidvoller Erfahrung.
„Severin war in illegale Geschäfte verwickelt, die über Avlar Sport liefen“, berichtete Berringer daher äußerst sachlich. „Wie tief er in diesen Sumpf verstrickt war, wird die polizeiliche Untersuchung ergeben, Herr Gerath. Sie werden damit leben müssen, dass die Presse und die Öffentlichkeit Avlar Sport in nächster Zeit immer wieder mit diesen schmutzigen Geschäften und Severins Ermordung in Verbindung bringen wird.
Ganz bestimmt keine gute Werbung für Ihre Sportkleidung.“
„Und ich habe ihm vertraut!“, stieß Peter Gerath bitter hervor. Berringer fragte sich, woher diese Bitterkeit in erster Linie rührte. War es der private Betrug? Der schien ihn weit weniger zu kümmern als der geschäftliche, wie Berringer verwundert feststellte.
„Wenn es wirklich so wäre, wie Sie behaupten, und ich hätte ein Verhältnis mit Herrn Severin gehabt ...“, begann Regina Gerath.
Aber Berringer unterbrach sie. „Tun Sie nicht so, als wäre er für Sie Herr Severin gewesen, das ist ja lächerlich!“
„Kein Wunder, dass der Polizeidienst nichts für Sie war“, versetzte sie, „da Sie offensichtlich so etwas wie die Unschuldsvermutung gar nicht kennen!“ In diesem Moment reagierte Gerath. Er wandte sich seiner Frau zu und hielt ihr vor:
„Es ist nicht zu fassen! Ich biete dir hier ein Leben in allem nur erdenklichen Luxus, seitdem unsere Kinder groß sind, hast du nichts weiter zu tun, als dich deinen pseudokreativen Anwandlungen zu widmen, und da fällt dir nichts Besseres ein, als dich mit meinem Geschäftsführer einzulassen? Ausgerechnet Severin!“ Meine Güte, dieser Ausbruch von Emotionen kam aber mit deutlicher Verzögerung, dachte Berringer. Gefühlsmäßig schien Peter Gerath tatsächlich eine lange Leitung zu haben. Vielleicht hatte er sich zu lange und zu intensiv seinen Pferden gewidmet.
„Wenn ich wirklich ein Verhältnis mit Frank gehabt hätte, wieso hätte ich ihn dann umbringen sollen?“, hielt Regina Gerath dem Privatermittler vor. „Können Sie mir das vielleicht erklären, Sie Superdetektiv? Das ist doch alles völlig hirnrissig und an den Haaren herbeigezogen, was Sie uns da auftischen!“ Und an ihren Gatten gerichtet, fuhr sie fort: „Dieser Mann will uns doch nur auseinander bringen. Keine Ahnung, was er sich davon verspricht, einen Keil zwischen uns zu treiben, aber ...“
„Dann bestreitest du, ein Verhältnis mit Severin gehabt zu haben?“, fiel ihr Peter Gerath ins Wort. „Du nanntest ihn gerade Frank ...“ Er schüttelte den Kopf, trat an die Fensterfront und blickte hinaus in den Garten, wo die Wachmänner patrouillierten. „Ich habe mich schon längere Zeit gefragt, ob da wohl irgendetwas läuft. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass es Severin ist. Ausgerechnet Severin!“ Er schüttelte erneut den Kopf und fuhr sich dann mit einer fahrigen Geste übers Gesicht.
„Sie wollten Ihren Mann psychisch fertig machen und wahrscheinlich auch umbringen“, sagte Berringer zu Regina Gerath. „Severin war Ihr Komplize dabei. Er hat bei der Bundeswehr schießen gelernt.“
„Das ist doch alles nicht wahr!“, kreischte sie, die ihre brüchig gewordene Fassung allmählich verlor.
Endlich, dachte Berringer. Er hatte schon gedacht, diese Frau wäre ein einziger Felsklotz, an den selbst er sich die Zähne ausbeißen würde. Endlich schien zumindest ein wenig von dem heißen Magma hervorzubrechen, was da unter der dicken, lange erkalteten Kruste brodelte, mit der sie ihre Seele umgeben hatte.
Ihre Augen funkelten voller Wut, als sie sich wieder an ihren Mann wandte. „Ich will nicht verhehlen, dass du es durchaus verdient hättest, ein bisschen gequält zu werden, und dass ich deine Pferde noch nie leiden konnte! Ein bisschen von der Liebe, die du deinen Viechern entgegengebracht hast, hättest du vielleicht ja auch mal in deine Kinder oder deine Frau investieren können!“ Sie lachte hysterisch auf. „Investieren –
das ist doch der passende Begriff, wenn ich mich nicht irre! Glaubst du, Maja wäre sonst in die Arme dieses obskuren Gurus gelaufen und hätte nichts Besseres zu tun, als ihren Vater um Geld anzubetteln, das sie dann umgehend an diesen Spinner weitergibt? Glaubst du, Andreas wäre spiel- und kokainsüchtig geworden, wenn du nicht ständig nur an seiner Arbeit in der Firma herumgemäkelt hättest, anstatt ihm die Anerkennung zu zollen, die er verdient gehabt hätte!“
„Er hat Gelder veruntreut!“, verteidigte sich Peter Gerath.
„Aber erst, nachdem er krank geworden war. Was sollte er denn auch tun? Da er deine Liebe und Anerkennung schon nicht bekommen konnte, hat er wenigstens dein Geld genommen.“
„Er hat mich betrogen! Was erwartest du da?“
„Mir hat er sein Herz ausgeschüttet, aber du hast ihm nie – nie! - zugehört!“
„Ach, was redest du da!“
„Und Till! Dessen künstlerische Fähigkeiten hast du nie anerkannt. Seine Ambitionen waren für dich immer nur Hirngespinste – auch als längst klar war, dass er zu allem anderen, nur nicht zu einer Existenz als freier Unternehmer taugt! Aber dich hat das ja nicht gekümmert! Wer sich deinen Plänen nicht unterordnete, der wurde mit Verachtung oder Geldentzug bestraft – so war es doch!“
„Ach, jetzt bin ich allein an der Misere unserer Kinder Schuld? Dabei hast du sie doch erzogen, sie an deinem Rockzipfel gehalten und nicht zugelassen, dass sie selbstständige Menschen wurden! Du gibst Till doch immer noch Geld, damit er über die Runden kommt! Ist doch wahr, oder glaubst du, ich merke das nicht?“
„Till ist auf dem Weg, ein wirklich großer Künstler zu werden. Ein kreativer Mensch, dem einfach eine andere Art von Leben vorschwebt, als du es dir vorstellen kannst.
Und in gewisser Weise trifft das auch auf Maja zu. Nein, du hättest es weiß Gott verdient, das man dich leiden lässt, und ich trauere kein bisschen um deine Pferde!
Und die blauen Flecken, die du dir beim Sturz von deinem verfluchten Island-Gaul zugezogen hast, die hast du dir redlich verdient!“ Der pure Hass sprach aus ihren Worten, ihren Augen, ihrer Gestik und der zur grimmigen Maske erstarrten Mimik.
„Wie kannst du mich nur so verabscheuen? Und was war jetzt mit Severin?“ Seine Worte trafen sie wie Schläge. Plötzlich wankte sie zurück. „Ja, es ist wahr“, sagte sie mit leiser Stimme. „Ich hatte ein Verhältnis mit ihm.“
„Und wenn ihr beide mich umgebracht hättet, dann wärt ihr aus dem Schneider gewesen. Du hättest mit deinen Kindern eine Erbengemeinschaft bilden können, und Severins dubiose Geschäfte wären nicht ans Licht gekommen!“
„Aber dann kam es zum Streit, nehme ich an“, sagte Berringer. „Worum ging es?“, fragte er Regina Gerath. „Haben Sie Ihren Geliebten nur deswegen getötet, weil er Sie hätte verraten können?“
Sie starrte ihn fassungslos an. „Warum hätte Frank das tun sollen?“
„Weil er früher oder später aufgeflogen wäre. Er machte Geschäfte mit Ferdinand Commaneci, einem Mann, der seit langem im Verdacht steht, zu einer mafia-
ähnlichen Organisation zu gehören oder sie sogar zu leiten. Severin wurde verprügelt
– wahrscheinlich von Commanecis Leuten. Vielleicht wollte er aussteigen, aber dann wäre Ihre Rechnung nicht mehr aufgegangen.“
„Das ist doch Unfug!“, schrie sie ihn an.
„Frank Severin starb wahrscheinlich durch einen Handkantenschlag, den Sie bei Ihrem Aikido-Training gelernt haben.“
Sie schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. „Wer - wer sagt das?“
„Die Gerichtsmedizinerin. Sie waren am Tatort, dafür gibt es einen Zeugen. Der Tod wurde höchstwahrscheinlich durch eine Verletzung herbeigeführt, die ebenfalls in Ihre Richtung deutet. Erklären Sie’s mir, wenn’s anders war, aber mir fällt im Moment keine plausiblere Lösung ein, als dass Sie Severin ermordet haben.
Vielleicht bringt die Wohnungsdurchsuchung etwas an den Tag. Aber wie auch immer die Sache weiterlaufen wird, stellen Sie sich darauf ein, dass die Polizei Ihnen die gleichen Fragen stellt wie ich!“
„Nein, das ist alles nicht wahr!“, beteuerte Regina Gerath erneut und sah ihren Mann flehend an. „Frank war genauso geschockt darüber, dass auf dich und deine Pferde geschossen wurde wie ich!“
„Die Krokodilstränen kannst du dir sparen“, sagte Peter Gerath hart.
Seine Frau richtete den Blick wieder auf Berringer. „Ich habe nichts damit zu tun! Es waren die Leute, mit denen Frank Geschäfte gemacht hat.“
„Wissen Sie mehr darüber?“, hakte Berringer sofort nach.
„Ich weiß nur, dass es sich um eine Organisation handelt, die Firmen zwingt, irgendwelche Scheingeschäfte abzuwickeln. Ob das der Geldwäsche dient oder irgendetwas anderem – keine Ahnung. Frank kam mit Avlar Sport aus der Nummer nicht raus. Diese Schweine haben ihn unter Druck gesetzt und sogar auf offener Straße brutal zusammengeschlagen.“
„Nennen Sie Namen, Daten, Umstände ...“
„Ich weiß nicht mehr. Ehrenwort!“
Warum klang dieses Wort nur so eigenartig, wenn sie es aussprach? Berringer sah Peter Gerath an.
„Ich weiß von nichts“, sagte dieser. „Mit mir haben diese Leute nie Kontakt aufgenommen ...“
„Weshalb ich bislang auch nicht wirklich geglaubt habe, dass diese Anschläge mit irgendeiner Textil-Mafia zu tun haben“, bekannte Berringer. „Aber angenommen ...“ Berringer sprach nicht weiter.
„Was?“, fragte der Unternehmer.
„ Wenn Commaneci und seine Leute geglaubt haben, dass Sie Bescheid wüssten, und gleichzeitig hat Severin seinen Partnern vielleicht signalisiert, dass er aussteigen will, dann könnte es in den Augen dieser Leute durchaus sinnvoll gewesen sein, Druck auf Sie auszuüben, Herr Gerath.“ Und zu Regina Gerath sagte Berringer: „Das würde erklären, was mit den Pferden passiert ist, obwohl ich von dieser Theorie nicht hundertprozentig überzeugt bin. Und es ist auch keine Antwort auf die Frage, weshalb Sie sich mit Frank Severin am See getroffen haben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schluckte. Ihr Blick ging ins Nichts.
Tränen glitzerten in ihren Augen. „Okay“, sagte sie. „Also die Wahrheit, Herr Berringer. Die Wahrheit ist, dass ich Frank an diesem Morgen sehen wollte. Ich hatte Angst. Angst vor allem um ihn. Ich wollte genauer wissen, was das für Geschäfte sind, die er da betrieb. Ich meine, diese Typen haben ihn zusammengeschlagen, und er tat so, als wäre nichts gewesen. Und dann die Anschläge auf die Pferde. Ich wollte jetzt endlich wissen, worum es ging. Dass Frank ein paar Sachen nebenbei laufen hatte, fand ich in Ordnung – nach allem, was er für die Firma getan hat.“ Sie sah ihren Mann an. Ihr Make-up war verlaufen. Sie wischte sich mit der Hand über die Augen und machte es noch schlimmer, sodass sich ein abstraktes Aquarell bildete. „Gib es zu, du hast doch auch weggeschaut. Und zwar, weil du genau weißt, was die Firma Frank verdankt. Wir sind nur durch ihn da, wo wir jetzt stehen. Da beißt keine Maus einen Faden ab.“
„Dankbarkeit hat auch bei dem kompetentesten Mitarbeiter seine Grenzen!“, erwiderte Peter Gerath.
Seine Frau lachte heiser auf. „Ja, und bei dir wahrscheinlich ganz besonders enge Grenzen.“
„Sie wollten über das sprechen, was heute Morgen geschehen ist“, erinnerte sie Berringer.
Frau Gerath schluckte. „Ich ... ich bin schwimmen gefahren, habe aber nur ein paar Bahnen gezogen und bin dann raus aus dem Wasser. Ich hatte einfach keine Lust und fühlte mich so elend ... Ich kann es kaum beschreiben. Ich musste einfach mit jemandem reden und wollte Gewissheit. Also habe ich Frank in der Firma angerufen, erhielt aber die Auskunft, dass er bereits nicht mehr im Hause sei. Also versuchte ich es über sein Handy und erwischte ihn. Er war am See. Das machte er oft, wenn er Stress hatte und ihm die Dinge über den Kopf zu wachsen drohten. Ich kann es zwar nicht nachvollziehen, was so entspannend daran ist, ein Modellsegelboot in einem See herumfahren zu lassen und darauf zu hoffen, dass die Fernbedienung auch funktioniert, aber wie heißt es so schön? Jedem Tierchen sein Pläsierchen.“
„Was war, als Sie den Elfrather See erreichten?“, wollte Berringer wissen. Er hatte keine Lust mehr, sich von Frau Gerath langwierig ihr Gefühlsleben auseinanderlegen zu lassen. Es ging um einen einzigen Punkt: Wer hatte Frank Severin mit einem Schlag die Kehle eingedrückt und ihn damit getötet.
Regina Gerath atmete tief durch. Nervös rieb sie sich mit den Fingern der linken Hand das Kinn und strich sich dann eine verirrte Haarsträhne aus den Augen. „Unser Telefongespräch wurde unterbrochen“, erklärte sie schließlich. „Ich dachte zunächst, dass ein Funkloch dafür verantwortlich wäre, aber andererseits ... Wir leben hier ja nicht in der Wildnis, und Berge gibt’s hier auch nicht. Jedenfalls keine erwähnenswerten oder solche, die den Handyempfang behindern. Als ich dann zum Elfrather See kam, sah ich ihn nirgends. Nur sein Modellboot steckte irgendwo im Schilf fest. Da schwante mir schon Übles. Ich sah zu, dass ich wegkam.“
„Die Polizei haben Sie nicht verständigt“, stellte Berringer fest.
„Nein“, flüsterte sie. „Ich war völlig durcheinander, verstehen Sie?“
„Ich hoffe für Sie, dass die Kripo das versteht“, erwiderte Berringer hart. Er wandte sich wieder an Peter Gerath. „Sie werden übrigens auch noch einiges durchzustehen haben.“
„Ich? Wieso?“
„Weil Kommissar Dietrich annimmt – annehmen muss! –, dass Sie vielleicht schon früher etwas von dem Verhältnis Ihrer Frau zu Severin ahnten und dementsprechend gehandelt haben.“
„Aber wenn ich Ihre Ausführungen richtig verstehe, habe ich doch ein perfektes Alibi“, meinte er. „Sie haben zur Tatzeit mit mir gesprochen.“
„Sie könnten jemanden beauftragt haben. Vielleicht die Schläger, die Severin schon mal in die Mangel genommen haben und jetzt einfach etwas zu fest hingelangt haben.“
„Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich, Berringer?“, fragte Peter Gerath ärgerlich.
„Sie behaupten hier Dinge, die ...“
„Ich stehe immer auf der Seite des Klienten“, beharrte Berringer. „Deshalb bereite ich Sie auf das vor, womit Sie sich in Kürze konfrontiert sehen werden.“
„Ich werde meine Sachen packen und erst mal woanders unterkommen“, kündigte Regina Gerath an. Sie hob das Kinn und fuhr an die Adresse ihres Mannes fort: „Ich denke, damit tue ich auch dir einen Gefallen. Dann musst du nicht mehr in einem Haus mit einer Person leben, von der du annimmst, dass sie dich umbringen will.“
„Damit sollten Sie warten, bis die Polizei hier war“, mischte sich Berringer ein.
„Alles andere würde so aussehen, als wollen Sie sich den Ermittlungen entziehen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen.“
„Wo wirst du unterkommen, Regina?“, fragte Peter Gerath.
„Wer weiß? Vielleicht trete ich ja dieser Sekte bei, von der Maja so begeistert ist. Da gibt es zwar keinen persönlichen Besitz, aber man bekommt immerhin was zu essen.“ Sie verzog das Gesicht und bleckte ihre perfekten weißen Zähne wie ein fauchendes Raubtier. „Irgendeines meiner Kinder wird mich schon aufnehmen. Oder ich ziehe in ein Hotel. Du musst es bezahlen, denn geschieden sind wir ja noch nicht.“
„Im Fall einer Scheidung würde sie nur eine Abfindung bekommen“ sagte Peter Gerath zu Berringer. „Herr Berringer, ich will, dass Sie alles aufklären - ohne Rücksicht auf die Familie, auf die Firma oder sonst wen!“
„Schön, dass du die Familie mal zuerst erwähnst!“, versetzte Regina ihrem Mann noch einen verbalen Kinnhaken. „Jetzt, da sie in Trümmern vor dir liegt, fällt dir ein, wie wichtig sie ist! Reizend, dieser Familiensinn, den du da entwickelst! Wirklich reizend!“
Berringers Blick glitt hinaus durch die breite Glasfront. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er erneut den Golf. Vom Fahrer war nur der Schatten zu sehen. Das Kennzeichen war aus Düsseldorf und fiel allein deswegen schon auf.
Plötzlich erinnerte sich Berringer an die Beschreibung, die Petra Rahmeier, die Besitzerin des Rahmeier-Hofs, von dem mysteriösen Gast namens Meyer abgegeben hatte. Wie hatte der Golffahrer noch mal ausgesehen? Er grübelte darüber nach, kramte in seinem Gedächtnis, aber es kamen nur verschwommene Bilder zutage, und dabei war es nur wenige Minuten her, dass der Polizei den Mann aufgefordert hatte, aus seinem Wagen zu steigen.
Wie ein Hintergrundgeräusch nahm Berringer den weiteren Streit zwischen den Eheleuten Gerath wahr. Währenddessen drehten sich die Gedanken in seinem Kopf.
„Herr Gerath, kennen Sie jemanden, der einen Golf fährt?“, fragte Berringer.
„Äh ... nein.“
„Sie, Frau Gerath?“
Beide traten neben ihn.
„Was ist mit dem Kerl?“, fragte Peter Gerath.
„Der scheint sich sehr für Ihr Anwesen oder für Sie oder für beides zu interessieren“, stellte Berringer fest. „Jedenfalls steht er schon eine ganze Weile dort. Erst hat ihn die Polizeistreife kontrolliert, jetzt setzt er seine Beobachtungstätigkeit fort ...“
„Ich sage den Wachleuten Bescheid.“
„Nein, ich kümmere mich um den Mann“, sagte Berringer. „Lassen Sie Ihre Leute gar nichts unternehmen. Ich bin überzeugt davon, dass er sofort weg ist, sobald er misstrauisch wird. Ihre Leute sollen sich nur bereithalten, das wäre nett. Nur für alle Fälle. Ich hab schließlich keine Ahnung, was für ein Typ das ist.“
„Sind Sie bewaffnet?“, fragte Frau Gerath überraschenderweise.
„Nein. Aber Ihre Leute - und das reicht.“
„Wo ist das Funkgerät?“, schimpfte Herr Gerath.
Berringer lief ins Erdgeschoss, nahm dabei immer mehrere Stufen auf einmal, stürzte ins Freie und rannte auf das gusseiserne Tor zu.
„Aufmachen!“, rief er einem der Wachleute zu.
Der lauschte an seinem Walkie-Talkie und schien gerade von Peter Gerath neue Anweisungen zu erhalten. Die Sekunden rannen dahin. Mann, bist du begriffsstutzig!, schrie Berringer in Gedanken.
Das Tor öffnete sich. Berringer stürzte hinaus. Der Mann im Golf zuckte zusammen.
Berringer konnte sein Gesicht aus diesem Blickwinkel durch die Seitenscheibe gut sehen. Er schätzte ihn auf Mitte fünfzig.
Berringer verlangsame seinen Lauf, ging schließlich mit schnellen Schritten auf den Wagen zu und klopfte gegen die Seitenscheibe. Auf dem Beifahrersitz lagen mehrere Zeitschriften, darunter „Der Spiegel“, der „Stern“ und ein Exemplar von „Jagd und Hund“.
Auf der Stirn des Golffahrers standen Schweißperlen – und das, obwohl der Mann schon längere Zeit in einem unbeheizten Wagen saß.
Er startete den Wagen, ließ den Motor aufheulen, und Berringer sprang zur Seite, während der Golf mit quietschenden Reifen losbrauste. Die beiden Security Guards, die gerade das Grundstück der Geraths verließen, kamen zu spät. Der Golf bog um die nächste Ecke. Einige Augenblicke lang hörte man noch den aufheulenden Motor; der Fahrer trat das Gaspedal offenbar ohne Rücksicht auf das Getriebe oder andere Verluste voll durch, und die Hoffnung, dass er geradewegs einer Polizeistreife entgegenfuhr, bewertete Berringer nicht allzu hoch.
Er atmete tief durch.
Dich kriege ich auch anders, dachte er und kehrte ins Haus zurück. In der Eingangshalle wartete Peter Gerath.
„Wo ist Ihre Frau?“, fragte Berringer.
„Die packt.“
„Ich habe das Kennzeichen des Golf und werde auch herausbekommen, wie der Besitzer heißt“, versprach Berringer.
„Sie glauben, dass dieser Vorfall irgendetwas zu bedeuten hat?“
„Das sagt mir mein Instinkt.“
„Etwas Handfestes wäre mir lieber, Herr Berringer.“
„Hören Sie, es könnte sich um einen Mann namens Meyer handeln, der sich auf dem Rahmeier-Hof danach erkundigte, ob Ihre Pferde zu verkaufen wären.“
„Frau Rahmeier hat mich seinerzeit deswegen angerufen. Ich wollte von diesem Spinner nicht belästigt werden. Meine Pferde hätte ich niemals verkauft. Freunde verkauft man ja auch nicht!“
Berringer musste grinsen. „Na ja, das sehen manche Leute anders.“ Er nahm das Handy ans Ohr und wählte Dietrichs Nummer.
„Du bist bei den Geraths?“, fragte der Kriminalhauptkommissar. „Trifft sich gut. Sorg bitte dafür, dass beide nicht gerade im letzten Moment noch verreisen. Wir sind nämlich auf dem Weg dorthin.“
„Was hat die Hausdurchsuchung ergeben?“
„Sage ich dir, wenn wir bei dir sind.“
Damit unterbrach Dietrich die Verbindung
Zehn Minuten später traf die Kripo ein. Dietrich und Kleppke fuhren einen nicht mehr ganz taufrischen Opel als Dienstwagen.
Regina Gerath hatte in der Zwischenzeit zwei Koffer gepackt und in ihrem Wagen verstaut. Kleppke eröffnete den beiden Geraths, dass sie zur Vernehmung mit aufs Präsidium müssten. „Das ist unerlässlich. Wir müssen ein Protokoll anfertigen und
...“
„Ich bin unschuldig“, sagte Frau Gerath trotzig.
„Wenn Sie möchten, dass Anwälte Ihres Vertrauens an der Befragung teilnehmen, sollten Sie die jetzt bitte anrufen“, erklärt Arno Kleppke. „Und zwar zwei verschiedene Anwälte, wenn ich bitten darf. Es ist nämlich nicht möglich, dass ein und derselbe Rechtsbeistand für Sie beide die Mandantenschaft übernimmt, da er durchaus in Interessenkonflikte geraten könnte.“
„Wir werden ohnehin bald Anwälte in anderer Sache beschäftigen“, sagte Regina Gerath schnippisch.
Peter Gerath hingegen raunte in Berringers Richtung: „Sehen Sie zu, dass Sie die Wahrheit rauskriegen!“
Der Detektiv wandte sich an Dietrich. „Ich brauche dringend eine Halterabfrage.“ Dietrich braust auf. „Ich komme in Teufelsküche!“
„Es hat mit diesem Fall zu tun. Und du willst doch nicht, dass ich gezwungen bin, zu lügen, indem ich behaupte, dass mir dieser Wagen hinten reingefahren ist oder so 'n Käse. Das wäre außerdem viel zu langwierig.“
Dietrich brummelte etwas Unverständliches, nickte dann und sagte: „Wir können die Halterabfrage vom Laptop in unserem Dienstfahrzeug machen.“
„Okay. Es geht um einen Golf mit Düsseldorfer Kennzeichen.“ Sie gingen zum Wagen. Dietrich fuhr den Laptop hoch. Er legte das Gerät einfach auf die Kühlerhaube, weil er keine Lust hatte, zu sitzen. Per Handy stellte er eine Onlineverbindung her.
Berringer nannte ihm die Nummer. Augenblicke später lag das Ergebnis vor: In der Rubrik HALTER war der Name Gabriele Hoffmann eingetragen.
„Eine Frau!“, stieß Dietrich hervor.
„Vielleicht hat er sich den Wagen von der Ehefrau oder Freundin geliehen“, meinte Berringer.
„Ein Mann ohne Auto ist wie Cowboy ohne Colt. Mit anderen Worten: sehr ungewöhnlich!“
„Schickst du jemanden vorbei, um der Sache nachzugehen?“, fragte Berringer.
„Alles der Reihe nach. Im Moment wüsste ich noch nicht wirklich, weshalb ich das tun sollte.“
„Ich schreibe mir mal die Adresse auf.“
„Tu, was du nicht lassen kannst.“
„Fragen wir doch mal die Geraths, ob sie eine Gabriele Hoffmann kennen“, schlug Berringer zu. „Oder den Mann dazu.“
„Was ist mit diesem Golf?“, hakte Dietrich nach.
Berringer erklärte es ihm in kurzen Sätzen, und Dietrichs Gesicht wurde immer skeptischer. „Und wegen so etwas lässt du mich hier eine Halterabfrage durchziehen und machst so 'nen Aufstand?“
„Der Mann hat das Grundstück der Geraths beobachtet“, verteidigte sich Berringer.
„Außerdem ist er wahrscheinlich Jäger oder interessiert sich für die Jagd.“
„Woher weißt du das?“
„Weil auf dem Beifahrersitz ein Exemplar von Jagd und Hund lag.“
„Das heißt noch nicht, dass er auch eine Waffe besitzt und damit Pferde tötet.“
„Es ist eine Spur wie viele andere, aber hinzu kommt noch, dass die Beschreibung diese Mannes auf jemanden passt, der sich Meyer nannte und sich auf dem Rahmeier-Hof nach Herrn Geraths Pferden erkundigt hat.“
„Ich dachte, du hättest dich auf Frau Gerath eingeschossen?“
„Man soll immer mehrgleisig denken.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“
„Hör mal, kannst du herausfinden, welche Streifenpolizisten den Kerl im Golf kontrolliert haben? Ich nehme an, dass sie sich den Ausweis haben zeigen lassen, also könnten sie den Namen des Golffahrers wissen.“
Dietrich seufzte. „Ich kümmere mich darum!“
Was soviel hieß wie: Ich schiebe es auf die lange Bank. Also würde Berringer die Sache selbst in die Hand nehmen müssen.
„Ich muss weg, Björn.“
„Willst du gar nicht wissen, was die Hausdurchsuchung bei Severin ergeben hat?“ Berringer stutzte. „Was denn?“
„Er scheint sehr viel tiefer in dubiose Geschäfte verwickelt gewesen zu sein, als wir erst geglaubt haben. Seine Kontakte zu Garol ImEx waren zweifellos sehr intensiv, und außerdem hatte er offenbar ein Nummernkonto in der Schweiz, über das eine ganze Reihe eigenartiger Transaktionen liefen. Genaues kann ich dir noch nicht sagen, unsere Experten brauchen ein paar Tage, um alle Unterlagen und vor allem den Computer, den wir sichergestellt haben, zu untersuchen.“ Berringer überlegte. Dann sagte er, nachdem er sich am Hinterkopf gekratzt hatte:
„Ich bleibe doch noch kurz hier, um die Geraths nach dieser Gabriele Hoffmann zu fragen.“
„Gut.“
Die Geraths konnten mit dem Namen Gabriele Hoffmann nichts anfangen. Berringer fragte sie in Anwesenheit von Kommissar Dietrich danach.
„Tut mir leid, ich habe ein gutes Namensgedächtnis und würde mich bestimmt erinnern“, sagte Peter Gerath. „Und die Beschreibung, die Sie von dem Typen gegeben haben, passt auf fast jeden.“
„Sie kennen also niemanden, der vielleicht Hoffmann heißt und mit einer Frau namens Gabriele verheiratet ist?“, hakte Berringer noch einmal nach. „Oder der einmal eine Lebensgefährtin mit diesem Namen bei irgendeiner Gelegenheit erwähnte?“
„Was ist mit deiner Freundin Gabriele?“, fragte Peter Gerath seine Frau.
Diese machte eine wegwerfende Geste. „Die heißt Hallmann, nicht Hoffmann.“
„Und ihr Mädchenname?“
„Glaubst du, sie könnte darauf noch einen Wagen zulassen? Meine Güte, wie weit bist du nur von der Realität entfernt, Peter! Sitzt da in deinem Unternehmer-Elfenbeinturm und kriegst vom normalen Leben gar nicht mehr mit!“
„Ich schätze, dass war ein Reporter, der scharf auf ein paar spektakuläre Bilder war“, wandte sich Dietrich an Berringer. „Sein Wagen sprang nicht an, die Freundin musste aushelfen. So wird’s gewesen sein. Spätestens morgen früh hab ich mich aber bei den uniformierten Kollegen erkundigt.“
„Okay!“
Berringer fuhr zurück nach Düsseldorf. Die Adresse von Gabriele Hoffmann gehörte zu einem Reihenhaus in Düsseldorf-Unterbilk. „G. Hoffmann“ war auf dem Namensschild zu lesen. Berringer klingelte.
Aber es öffnete niemand. Der Postkasten war an diesem Morgen und wahrscheinlich auch am Tag davor nicht geleert worden. Die Zeitung quoll heraus. Außerdem eine zusammengerollte Ausgabe von „Jagd und Hund“.
„Suchen Sie was?“, fragte plötzlich jemand in Berringers Rücken.
Der Detektiv drehte sich um. Ein rüstig wirkender Rentner stand dort mit einem hechelnden Münsterländer an der Leine.
Berringer deutete mit dem Daumen über die Schulter und auf die Tür. „Niemand zu Hause?“
„Sehen Sie doch.“
„Und wer sind Sie?“
„Ich bin der Nachbar und achte ein bisschen darauf, was hier so geschieht.“
„Verstehe.“
„Und Ihr Name? Oder rufe ich besser gleich die Polizei?“
„Mein Name ist Berringer, und ich bin Privatermittler.“ Berringer zeigte dem Rentner seinen Ausweis. Dieser musste erst sehr umständlich eine Brille aus seiner Jacke hervorholen, sie mit dem Exemplar, das er bereits auf der Nase trug, austauschen und war dann endlich in der Lage, den Ausweis im Detail zu betrachten.
„Es geht um eine Verkehrssache“, behauptete Berringer, was so weit von der Wahrheit nicht entfernt war.
„Tut mir leid.“ Der misstrauische Nachbar deutete auf die Haustür. „Die beiden sind für ein paar Tage in Urlaub. Deswegen habe ich auch den Hund.“
„Die beiden?“, echote Berringer.
„Was weiß ich, ob sie verheiratet sind oder nur eine Lebensgemeinschaft führen, wie man das heute nennt.“
„Ein Mann und eine Frau.“
„Für 'n Privatschnüffler sind Sie aber schwer von Begriff. Kommen Sie morgen wieder.“
„Bis dahin sind sie wieder zurück?“
„Bis dahin sollte ich den Hund nehmen und mich um die Post kümmern, an die Sie mich jetzt bitte freundlicherweise mal ranlassen!“ Berringer trat beiseite und kündigte an: „Dann schaue ich morgen noch mal vorbei.“
„Soll ich etwas ausrichten?“
„Nicht nötig.“
Es war gegen siebzehn Uhr, als Berringer in sein Büro zurückkehrte.
Vanessa Karrenbrock war noch dort. „Du hast Glück, dass du mich noch erwischst, eigentlich ist längst Feierabend.“
„Du weißt doch inzwischen wohl, dass es so etwas wie einen festen Feierabend in diesem Job nicht gibt“, entgegnete Berringer.
Sie lächelte. „Für dich vielleicht nicht. Du bist schließlich auch der Chef. Als selbstständiger Unternehmer hast du rund um die Uhr für deine Klienten da zu sein.
Aber für Angestellte gilt das ja wohl nicht.“
„Das ist dein erster Job als Angestellte, oder?“
„Ja.“
„Na siehst du.“
„Was soll das heißen?“
Berringer grinste. „Natürlich, dass ich selbstverständlich von meinen Angestellten das gleiche Engagement erwarte, das ihnen ihr Chef vorlebt. Ist doch ganz einfach.“
„Oh“, meinte sie.
„Was heißt hier ›oh‹?“
„Na, wenn das so ist, habe ich schon viel zu viel getan. Wird nicht wieder vorkommen, Robert. Versprochen.“
Berringer lag noch eine bissige Erwiderung auf der Zunge, aber in diesem Augenblick ging die Tür auf, und Mark Lange schneite herein. Er hatte eine Kamera in der Hand. „Lasst mich mal an den Rechner! Ich hab vor Garol ImEx auf der Lauer gelegen und mir die Finger wund geknipst.“
Mark Lange fuhr den Rechner, den Vanessa bereits abgeschaltet hatte, wieder hoch, nahm den Chip aus der Kamera und steckte ihn in die entsprechende Buchse des Rechners. Wenig später konnte man auf dem Schirm die Bilder sehen, die Lange geschossen hatte.
Das Firmengelände von Garol ImEx lag in Hafennähe. Immer wieder fuhren Lastwagen mit rumänischen oder ungarischen Kennzeichen auf das Gelände. Hinter ihnen schlossen sich die Tore. Man konnte nicht sehen, was dort mit der Ladung geschah. Besonders aufschlussreich war es jedoch immer, wenn Personen das Gelände verließen oder dort eintrafen.
„Das ist er!“, rief Vanessa plötzlich und zeigte auf einen grauhaarigen Mann im kobaltblauen Anzug und in einem mit Pelz besetzte Jacke, die vorne offen war. Die Rolex an seinem Handgelenk und die Jackettkronen, die sein Lächeln offenbarte, zeigten, dass es ihm wirtschaftlich nicht allzu schlecht ging. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein seriöser Geschäftsmann. Der Ohrring links und die tätowierte Träne knapp drei Zentimeter unterhalb des rechten Auges gaben seinem Erscheinungsbild allerdings etwas Halbseidenes.
„Das ist Commaneci“, sagte Vanessa.
„Bist du dir sicher?“, fragte Mark.
„Ja, hundertprozentig. Er ist zwar faltiger im Gesicht geworden, aber ansonsten hat er sich im Verhältnis zu den Fotos, die ich im Internet von ihm gefunden habe, kaum verändert.“
„Der Chef bei Garol ImEx ist aber ein anderer Mann. Nämlich dieser hier!“, berichtete Mark und öffnete ein anderes Bild. Es zeigte einen Mann mit hoher Stirn, gedrungenem Wuchs und sehr starken Augenbrauen.
„Da ist Lajos Carescu“, meinte Berringer. „Ich weiß, dass er offiziell als Chef von Garol ImEx firmiert, aber es ist bekannt, dass er nur ein Handlanger ist.“
„Ich schätze, das wird so leicht nicht zu beweisen sein.“
„Im Moment ist noch gar nichts zu beweisen“, meinte Berringer resigniert. Nur nicht zu viele Hoffnungen machen, dachte er. Schon gar nicht darauf, dass die Eminenz vielleicht endlich enttarnt würde. Die Chance standen eins zu tausend.
Berringer setzte sich vor den Rechner und sah sich die Bilder noch einmal an. Eines klickte er nicht nach ein paar Sekunden weg, sondern betrachtete es sich genauer.
Eine Gruppe von Männern verließ das Firmengelände, und eines der Gesichter glaubte Berringer zu erkennen.
Unmöglich!, dachte er.
Alles in ihm sträubte sich dagegen.
Er spürte plötzlich die sengende Hitze auf seiner Haut. Die Explosion ... die Flammen ...
Berringer schluckte. Schweißperlen standen ihm mit einem Mal auf der Stirn, und er merkte, wie eine rätselhafte Starre seinen gesamten Körper befiel.
Das ist er!, hämmerte es in ihm.
Seine Gefühle waren sehr zwiespältig. Einerseits wühlte es ihn auf, dieses Gesicht endlich gefunden zu haben, nach all den Jahren. Andererseits führte ihn das wieder zurück in die Vergangenheit, ein Gebiet, das er meiden musste wie der Teufel das Weihwasser. Er stand am Rand der Klippe, und es genügte ein kleiner Schubs, um ihn in den Abgrund zu stoßen. Dann war alles aus. Vielleicht war dann Frieden. Wer wusste das schon ...
„Hey, was ist los, Robert?“, fragte Vanessa.
Berringer gab ihr keine Antwort. Hektisch hantierte er mit der Maus herum und vergrößerte das Bild. Er zoomte das Gesicht des einen Mannes so nah heran, dass die einzelnen Pixel sichtbar wurden und sich schließlich nur noch ein Teppich aus quadratischen Farbflächen zeigte. Es hat keinen Sinn, dachte er. Die Auflösung, die Mark gewählt hatte, ließ eben nur einen gewissen Zoom-Faktor zu, wenn man noch etwas erkennen wollte.
„Wer ist dieser Mann?“, hörte er Vanessas Stimme wie aus weiter Ferne. Er achtete auch nicht auf sie, sondern war mit seinen Gedanken ganz bei diesem Mann, bei diesem Gesicht ...
Berringer glaubte einen Mann an der Straßenecke gesehen zu haben, kurz bevor sein Wagen samt Insassen in die Luft geflogen war.
Einen Mann, der genauso aussah wie der Kerl auf dem Bild.
Berringer war schon viel zu lange in diesem Geschäft tätig, um noch an Zufälle zu glauben. Der Kerl musste etwas mit der Bombe zu tun gehabt haben, denn er war damals in der Nähe des Tatorts gewesen, hatte sich aber später nicht als Zeuge zur Verfügung gestellt, sondern war stattdessen abgetaucht.
Das macht doch Sinn, durchfuhr es den Detektiv. Wahrscheinlich hatte er in aller Ruhe und Sicherheit abgewartet, bis die Bombe hochging. Er hatte sich davon überzeugen wollen, dass das Höllending auch explodierte!
Ob er je einen Gedanken an die Opfer verschwendet hatte?
Wahrscheinlich nicht, dachte Berringer.
Er lehnte sich zurück.
Vanessa hatte es inzwischen aufgegeben, ihn ansprechen zu wollen. In Berringers Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Immer schneller, bis sie einen Strudel bildeten, dessen Sog sich der Detektiv einfach nicht mehr entziehen konnte.
Und was, wenn er völlig falsch lag? Konnte er wirklich sicher sein, dass dieses Allerweltsgesicht dem Typen von damals gehörte?
„Ja“, sagte er laut. „Ja!“
Von den beiden Mitarbeitern der Detektei erntete er dafür befremdete Blicke.
Berringer schloss die Augen. Er versuchte die Erinnerung zu reaktivieren, sich das Bild wieder ins Bewusstsein zurückzuholen, das er damals gesehen hatte. Aber es war unmöglich.
„Es ist nichts“, sagte er schließlich mit brüchiger Stimme. „Wir machen Schluss für heute.“