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Anderthalb Stunden später waren Clive Caravaggio und Orry Medina auf dem Weg Richtung Buckners Bay. Ein Dienstfahrzeug der Connecticut State Police folgte ihnen. Zuvor hatten sich die beiden G-men noch die Ermittlungsergebnisse vom Fundort der Leiche angesehen, der nach Ansicht von Captain Van Doren und seinen Leuten mit dem Tatort identisch war. Die State Police Beamten hatte den Ort des Geschehens sorgfältig per Video abgefilmt. Jedes Einzelbild ließ sich bei Bedarf vergrößern und genauer unter die Lupe nehmen. Nach der Rekonstruktion von Van Dorens Ermittlern ergab sich folgendes Bild: Smith und sein Mörder hatten sich mit jemandem auf dem Parkplatz getroffen. Die Spuren eines zweiten Wagens waren unverkennbar. Es handelte sich den Reifenspuren nach um eine überlange Limousine, wahrscheinlich ein Mercedes. Der Umstand, dass der Parkplatz nicht asphaltiert, sondern lediglich mit Schotter ausgelegt war, hatte Van Dorens Leuten die Arbeit wesentlich erleichtert. So war eindeutig festzustellen, dass der Mann, der sich Smith genannt hatte, zu der Limousine und wieder zurückgegangen war, bevor er erschossen worden war.

"Sieht nach einer Art Geldübergabe oder dergleichen aus", meinte Zeeery während der Fahrt nach Buckner Bay.

Clive nickte. "Fragt sich nur, worum es da genau ging und was das mit den Dexters zu tun hatte."

"Die zwei waren Lohnkiller, so schätze ich das ein", war Orrys Meinung.

Clive Caravaggio hob die Augenbrauen. "Und du meinst, die beiden nahmen gerade ihr Blutgeld in Empfang?"

"Ja. Und einer von ihnen hatte offenbar keine Lust, die Summe zu teilen."

"Möglich."

"Hast du eine bessere Erklärung?"

"Warten wir erst einmal ab, was wir in dem Haus vorfinden. Wenn die beiden nämlich Profis wären, wären sie kaum so unvorsichtig gewesen, genetisches Material zu hinterlassen."

"Sie konnten doch nicht ahnen, dass die State Police in ihrem Unterschlupf in Buckner Bay das Unterste zu oberst kehrt!"

"Aber der Mörder, der seinen Komplizen auf dem Parkplatz umgebracht hat, hätte normalerweise nichts dringenderes zu tun gehabt, als sämtliche Spuren zu beseitigen. Schließlich muss er sich doch an fünf Fingern ausgerechnet haben, dass die Polizei dort früher oder später auftauchen wird..."

Orry atmete tief durch, ließ den Blick über die malerische Küste entlang des Long Island Sounds schweifen.

"Vielleicht hat ihn irgendetwas davon abgehalten, nach Buckner Bay zurückzukehren..."

"Dann muss es aber verdammt wichtig gewesen sein..."

Buckner Bay war ein kleines, verschlafenes Nest. Eine Kirche, ein paar Häuser und Geschäfte, das war alles.

Das Haus, in dem Smith die letzte Zeit über gelebt hatte, lag etwas abseits. Es gehörte einem Geschäftsmann aus Manhattan namens Jarvis M. Browning, wie die State Police Kollegen inzwischen herausbekommen hatten. Es handelte sich um ein blau gestrichenes Holzhaus und lag auf einer Landzunge. Ein paradiesischer Platz für jeden Angler oder Bootsfahrer. Ein Motorboot lag am Landungssteg. In der Zufahrt parkte ein Geländewagen vom Typ Ford Maverick.

Clive parkte den unscheinbaren metallicfarbenen Chevrolet aus dem Fuhrpark des FBI Field Office New York dahinter. Die beiden G-men stiegen aus.

Der State Police Officer, der ihnen gefolgt war, hielt ebenfalls, sprang förmlich aus dem Wagen und hatte schon seine Waffe in der Faust.

Etwas irritiert drehte sich Clive zu ihm herum.

"Was ist los?"

"Der Maverick war nicht hier, als ich das Haus versiegelt habe", erklärte der State Police Officer. Name und Rang standen an seinem Uniformhemd: Lieutenant S. Rogers.

Beinahe reflexartig griffen auch Clive und Orry zu ihren SIGs.

Sie nahmen hinter dem Chevy Deckung, beobachteten dabei die Fenster.

"Da muss jemand drin sein!", war Lieutenant Rogers überzeugt. Er griff zum Handy und rief Verstärkung. "Es wird etwa zwanzig Minuten dauern, bis unsere Leute hier sind", erklärte er. "Ich schlage vor, wir warten so lange ab!"

Im nächsten Augenblick peitschte ein Schuss.

Rogers schrie auf, sank getroffen zu Boden.

Der State Police-Mann blieb regungslos liegen.

Clive und Orry warfen sich zu Boden.

Der Schuss, der Lieutenant Rogers niedergestreckt hatte, war aus einem Dachfenster heraus abgegeben worden, das einen Spalt breit geöffnet war.

Jetzt aber wurde auch aus dem Untergeschoss heraus gefeuert. Fensterscheiben gingen zu Bruch. Ein Bleihagel aus einer MPi regnete auf die G-men nieder.

Orry und Clive blieb nichts anderes übrig, als sich an den Boden zu pressen und abzuwarten. Die Schüsse perforierten das Blech des Chevy.

Dann ebbte der Geschosshagel ab.

Das Knattern der MPi verstummte.

Offenbar hatte der Schütze sein Magazin leergeschossen und war gezwungen, es auszuwechseln.

Clive Caravaggio war blitzschnell auf den Beinen. Er fasste die SIG mit beiden Händen, tauchte hinter der Motorhaube des Chevy hervor und feuerte auf jenes Fenster, aus dem die MPi-Salven gekommen waren. Von der Fensterscheibe steckten nur noch Bruchstücke im Kitt. Clive glaubte eine schattenhafte Gestalt zu erkennen.

Orry feuerte oben zum Dachfenster.

Ein kurzer Seitenblick in Richtung von Lieutenant Rogers sagte ihm, dass für den State Police-Mann jede Hilfe zu spät kam.

"Gib mir Feuerschutz!", rief Orry und rannte vorwärts, während Clive Schuss um Schuss abgab.

Orry schaffte es bis zum Maverick, feuerte dann selbst noch ein paar Schüsse in Richtung des Fensters und spurtete schließlich in einem Bogen zur Hauswand.

Clive hatte sein komplettes SIG-Magazin leergeschossen. Er tauchte wieder hinter den Chevy.

So schnell es ging lud er seine Waffe nach und ging wieder in Stellung.

Auf der anderen Seite rührte sich nichts.

Orry presste sich gegen die Hauswand, tauchte unter einem Fenster hindurch und erreichte die Tür.

Das Siegel der State Police war erbrochen. Das Schloss ebenfalls. Die Tür stand einen Spalt offen.

Orry stürmte vorwärts.

Er hielt die SIG in beiden Händen. Mit einem wuchtigen Tritt ließ er die Tür zur Seite fliegen.

"Waffe weg, FBI!", rief Agent Medina.

Im Inneren herrschte Halbdunkel.

Orry sah eine Gestalt im Gegenlicht, das durch ein Fenster auf der anderen Seite hereinkam. Die Gestalt wirbelte herum, riss eine Waffe empor. MPi-Feuer ratterte. Mündungsfeuer blitzte auf. Orry schoss um den Bruchteil einer Sekunde früher als sein Gegenüber.

Mit einem Schrei flog der Getroffene auf den Rücken.

Er blieb regungslos liegen. Mit wenigen Schritten durchquerte Orry den Raum. Es handelte sich um ein großzügig angelegtes Wohnzimmer, das fast das gesamte Erdgeschoss einnahm. Eine Treppe führte hinauf unter das ausgebaute Dach. Wahrscheinlich befanden sich dort die Schlafzimmer.

Die Tür zur Küche stand halb offen.

Orry konnte eine Kaffeemaschine erkennen, die auf einer Anrichte stand.

Auf der rechten Seite gab es zwei weitere Türen. Bad und Abstellkammer, schätzte Orry. Ein Keller existierte nicht. Der Untergrund war hier an der Connecticut-Küste so felsig, dass sich diesen Luxus kaum jemand leisten konnte.

Orry erreichte den am Boden liegenden MPi-Schützen.

Er war zweifellos tot.

Orry lauschte. Es gab mindestens noch eine weitere Person im Haus. In der Küche zerbarst eine Scheibe.

Die Tür flog zur Seite.

Orry zielte mit der SIG, ließ aber im nächsten Augenblick die Waffe sinken.

Vor ihm stand Clive, der inzwischen einen Bogen geschlagen und durch ein Küchenfenster in das Haus eingestiegen war.

Clive Caravaggio hatte seine SIG ebenfalls im Anschlag. Beide atmeten tief durch. Keiner sagte ein Wort. Orry deutete zuerst auf die Türen, die vermutlich zum Bad und zum Abstellraum führten, dann auf die Treppe.

Clive verstand auch ohne Worte. Der stellvertretende SAC nickte.

Orry nahm sich zuerst das Bad vor. Ergebnislos. Clive sicherte von hinten, behielt gleichzeitig die Treppe im Auge. Die zweite Tür kam an die Reihe. Orry öffnete sie. Es handelte sich tatsächlich um einen Abstellraum, kaum drei Quadratmeter groß. Licht fiel nur durch ein winziges Fenster.

Ein Geräusch ließ Orry und Clive aufhorchen. Es klang, als ob ein schwerer Sack aus einem der Dachgeschossfenster geworfen worden war.

Beiden G-men war sofort klar, was passiert war.

Der zweite Gangster hatte einen Sprung aus dem Fenster gewagt. Die Höhe mochte etwa drei Meter fünfzig bis vier Meter betragen.

Ein Ungeschickter brach sich den Hals, aber für jemanden, der einigermaßen durchtrainiert war, bestand die Chance, unverletzt davonzukommen.

Clive rannte zur Haustür, stürzte mit der SIG im Anschlag heraus.

Ein Mann humpelte in Richtung des Bootsstegs.

In der Rechten hielt er eine Automatik.

"Stehenbleiben!", rief Clive und legte an. "FBI, Sie sind verhaftet!"

Der Kerl keuchte. Offenbar hatte er sich bei dem Sprung den Knöchel verstaucht. Etwa zehn Meter lagen noch zwischen ihm und dem Landungssteg. Zehn Meter ohne jede Deckung.

Er blieb stehen, zögerte.

"Die Waffe fallen lassen!", rief Clive.

Und Orry, der inzwischen auch das Freie erreicht hatte, ergänzte: "Sie haben keine Chance, uns beide zu erledigen, bevor wir nicht ein paar Kugeln in Ihren Körper gejagt haben!"

Eine quälend lange Sekunde noch hing alles in der Schwebe. Offenbar spielte der Kerl noch immer mit dem Gedanken, die Waffe herumzureißen und wild drauflos zu feuern. Schließlich sah er ein, dass das sein Tod gewesen wäre.

Seine Automatik ließ er fallen, hob die Hände.

Clive und Orry waren Augenblicke später bei ihm. Orry legte ihm die Handschellen an, Clive erklärte ihm seine Rechte. "Alles, was Sie von nun an sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Aber selbst, wenn Sie nichts sagen, werden unsere Kollegen da drinnen so viele Beweise gegen Sie sichern können, dass es schwer werden wird, Ihren Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen!"

Der Festgenommene verzog das Gesicht. Clive schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er hatte eine hohe Stirn, auf der eine V-förmige Narbe knapp unterhalb des Haaransatzes zu sehen war.

"Sie brauchen Ihre Spielchen gar nicht erst zu versuchen", knurrte er.

"Jetzt hätte Ihre Aussage noch einen Wert. Jeder District Attorney würde das positiv berücksichtigen. Aber wenn Sie erst warten, bis andere auspacken oder das Verfahren, das auf Sie zukommt, durch Indizien entschieden wird..."

"Leck mich doch, G-man!"

"Ich weiß nicht, ob Ihnen wirklich klar ist, was Sie getan haben! Sie haben einen State Police Officer erschossen! Und Sie wissen ja sicher, wie Gerichte bei Polizistenmord urteilen..."

Er verzog nur das Gesicht.

Orry durchsuchte ihn. Er trug einen Führerschein bei sich, der auf den Namen Barry Martinson ausgestellt war. Außerdem fand Orry eine Skizze, auf der der Weg von Stamford hier her beschrieben war.

Clive griff zum Handy.

Mit Hilfe einer Kurzwahl-Taste war er Sekunden später mit Mister McKee verbunden. "Sir, wir brauchen ein Team von Erkennungsdienstlern und den besten Gerichtsmedizinern, das sich auftreiben lässt..."

Alfred Bekker Krimi Trio #1

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