Читать книгу Sammelband 4 Fürstenromane: Liebe, Schicksal, Schlösser - Alfred Bekker - Страница 15

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Bis zum Studienbeginn dauerte es noch ein paar Tage. Jenny war, um sich zu akklimatisieren, extra eine Woche früher nach Deutschland gekommen. Dadurch fand sie Gelegenheit, sich ein bisschen umzuschauen und sich mit der Umgebung vertraut zu machen. Als sie den Fürsten am nächsten Vormittag um ein Pferd bat, wurde es ihr bewilligt.

»Brich dir aber nicht die Knochen!«, ermahnte er sie. »Sonst macht mir deine Mutter die Hölle heiß. Nichts mag ich weniger als das Gezänk aufgeregter Weiber.«

»Keine Angst, Onkelchen«, erwiderte Jenny lachend. »Bei uns in Texas lernt man eher reiten als laufen.«

»Schön und gut«, meinte der Fürst, »aber du kennst dich hier noch nicht aus. Deshalb möchte ich, dass Wildhirt dich begleitet und dir die Gegend zeigt. Ich hoffe, du hast nichts dagegen?«

»Was sollte ich dagegen haben?«, versetzte sie. »Thomas scheint ein netter Kerl zu sein.«

»Thomas?« Der Fürst runzelte die Stirn. »Du nennst ihn schon beim Vornamen?«

Jenny erklärte auch ihm, dass es in ihrer Heimat durchaus üblich war, sich mit dem Vornamen anzusprechen.

»Na schön«, erwiderte der Fürst. »Wenn es dabei bleibt.«

»Wie meinst du das, Onkelchen?«

»Kannst du nicht dieses blöde Onkelchen unterlassen?«, raunzte sie der Fürst an. »Ich komme mir bei dieser Anrede fast schon senil vor.«

»Ich werde es mir merken, Onkelchen ... äh ... Onkel«, versprach Jenny. »Trotzdem möchte ich immer noch wissen, wie du das eben gemeint hast?«

»Was denn?«

»Du hast gesagt: Wenn es dabei bleibt. Das klang wie eine Warnung.«

»Das sollte auch so etwas wie eine Warnung sein«, räumte Fürst Boris ein. »Ich möchte nämlich nicht, dass du dich mit Wildhirt auf ein Techtelmechtel einlässt.«

»Aber Onkel Boris!«, entrüstete sich Jenny. »Wie kommst du denn auf diese Schnapsidee? Ich bin so gut wie verlobt.«

»Dann vergiss es nicht!«, ermahnte sie der Fürst. »Eigentlich sollte ich euch gar nicht gestatten, allein in der Gegend herumzutraben. Aber was soll ich machen? Ich selbst habe keine Zeit, dich zu begleiten. Karl kann nicht reiten. Ich sehe außer Wildhirt keine andere Möglichkeit.«

»Darüber musst du dir wirklich nicht den Kopf zerbrechen«, meinte Jenny. »Dein Verwalter bedeutet keine Gefahr für mich.«

Wirklich nicht?, fragte sie sich im Stillen. Und wieso hast du dann die halbe Nacht von ihm geträumt und nicht von Ted? Du hast Thomas im Traum sogar geküsst, und wenn der verdammte Hahn nicht gekräht hätte, wer weiß, was noch passiert wäre ...

»Warum lächelst du jetzt wie eine verliebte Makrele?«, erkundigte sich Fürst Boris und sah sie misstrauisch an. »Gibt es vielleicht doch etwas, das mich davon abbringen könnte, dir Wildhirt als Begleiter zuzuteilen?«

»Nein, Onkelchen ... äh ... Onkel Boris, da gibt es gar nichts«, beruhigte ihn Jenny. »Warum auch? Schließlich kenne ich Thomas kaum.«

»Dann sorge dafür, dass es so bleibt!«, knurrte der Fürst.

Jenny lachte. »Aber wie soll ich denn das anstellen? Es kann doch gar nicht ausbleiben, dass ich Thomas im Laufe der Zeit besser kennenlerne.«

»Ich denke, dass du verstanden hast, was ich damit ausdrücken wollte«, entgegnete Fürst Boris. »Das gilt übrigens auch für andere Männer. Ich möchte deiner Mutter nicht mitteilen müssen, dass du schwanger bist.«

»Aber Onkel!«, rief Jenny verärgert. »Für wen oder was hältst du mich? Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um die hiesige Männerwelt auszuprobieren, sondern um zu studieren. Und ich wiederhole es auch gern noch einmal: Ich bin so gut wie verlobt. Genügt das jetzt endlich, um dich von meinen moralischen Absichten zu überzeugen? Ich möchte weder deinen Verwalter verführen, noch sonst jemanden. Mein Ted genügt mir voll und ganz.«

»Nun reg dich nicht auf!«, grummelte der Fürst. »Diese Sache musste ja von Anfang an zwischen uns geklärt werden. Schließlich hat mir deine Mutter eine gewisse Aufsichtspflicht für dich auferlegt.«

»Auf mich muss niemand aufpassen«, stellte Jenny klar. »Ich bin alt genug, um es selbst zu tun. Gibt es sonst noch etwas?«

»Nein«, erwiderte Fürst Boris. »Das soll für heute genügen.«

»Das waren ja auch genügend Verhaltensregeln«, meinte Jenny. »Wie komme ich jetzt zu einem Pferd? Sagst du Thomas Bescheid?«

»Ja, ich werde ihn informieren, dass er für dich und sich selbst ein Pferd satteln lässt und dich begleitet«, bestätigte der Fürst. »Sieh zu, dass du pünktlich zurück bist. Wir essen um zwölf Uhr zu Mittag.«

Damit war sie entlassen und begab sich in ihr Zimmer, um sich für den Ausritt mit Thomas umzuziehen. Als sie zu den Stallungen kam, wurde sie bereits erwartet.

»Guten Morgen, Jenny«, empfing Alexander sie mit einem vergnügten Lächeln. »Ich hoffe, du hast trotz des Theaters gestern Abend gut geschlafen?«

»Wie ein Bär im Winter«, entgegnete sie. Von ihren Träumen erzählte sie ihm nichts. »Vielen Dank übrigens, dass du dir Zeit für mich nimmst.«

»Nichts zu danken. Es geschieht auf allerhöchsten Befehl.«

»Nur deshalb?« Jenny wirkte ein wenig enttäuscht. »Und ich dachte, du würdest gern mitkommen.«

»So ist es ja auch. Nur hätte ich es von mir aus nie gewagt, dir meine Begleitung anzubieten, weil Seine Hoheit mich dann wahrscheinlich wieder gerügt hätte.«

»Wieso das denn?«

»Weil ein biederer Verwalter es sich nicht erlauben darf, sich an die blaublütige Verwandte eines Fürsten annähern zu wollen«, klärte Alexander das Mädchen mit den Worten seines Brötchengebers auf. »Denn genau so hätte es in seinen Augen vermutlich ausgesehen, wenn ich vorgeschlagen hätte, mit dir auszureiten. Zum Glück ist er jetzt selbst auf diese glorreiche Idee gekommen. Was mich wiederum wundert, weil er mir den Umgang mit dir praktisch verboten hat.«

»Bei mir hat er gerade ähnlich geredet«, berichtete Jenny.

»Über mich?«

»Über dich und über andere Männer. Ihm wäre es offensichtlich am liebsten, wenn er mich unter eine große Glasglocke stecken könnte, damit ich mit niemandem in Berührung komme. Aber lassen wir das jetzt. Sehen wir uns lieber ein bisschen die Gegend an. Welches Pferd ist für mich gedacht?«

»Der braune Hengst«, antwortete Alexander. »Er heißt Attila und ist ein braves Tier. Du wirst nicht viel Mühe mit ihm haben.«

»Mit anderen Worten - er ist eine lahme Ente«, spöttelte Jenny.

Alexander hob die Schultern. »Auch das ist eine Anweisung Seiner Majestät. >Geben Sie ihr Attila<, hat er befohlen. >Mit dem kann ihr nicht viel passieren.< Also gebe ich dir Attila. Und setz bitte auch diese Schutzkappe auf!«

»Ich möchte aber lieber die schwarze Stute da reiten.«

»Tut mir leid«, bedauerte Alexander. »Eine größere Auseinandersetzung mit dem Fürsten pro Woche genügt mir. Die von dieser Woche hatten wir gestern Abend. Also wirst du dich diesmal fügen müssen. Und ganz so übel ist Attila auch gar nicht. Du wirst schon sehen.«

»Na schön«, willigte Jenny missmutig ein. »Aber die Schutzkappe trage ich nicht. Das ist bei uns in Amerika nicht üblich.«

»Du bist aber nicht drüben, sondern hier in Deutschland. Also, tu mir bitte den Gefallen!«

Jenny tat, wie ihr befohlen ward, dann band sie den Hengst los und schwang sich in den Sattel. »Auf geht’s, mein Freund! Zeig mal, was noch in dir steckt.«

Das Tier reagierte brav und trabte los, war aber zu einer etwas schnelleren Gangart nicht zu bewegen.

»Das ist ein Opa!«, rief Jenny ihrem Begleiter zu, der sie inzwischen eingeholt hatte und an ihrer Seite ritt. »Der schläft ja beim Laufen ein. Eine Frechheit, mir ein altersschwaches Tier anzudrehen. Ich möchte unseren Ausritt am liebsten abbrechen und meinem Onkel gehörig die Meinung sagen.«

»Das ist deine Entscheidung, Jenny«, erwiderte Alexander. »Ich richte mich ganz nach deinen Wünschen.«

»Dann überlass mir dein Pferd, Thomas!«

Alexander schüttelte den Kopf. »Das darf ich, wie gesagt, leider nicht.«

»Also gut«, fauchte Jenny verärgert. »Lassen wir’s heute dabei bewenden. Ein zweites Mal setze ich mich allerdings nicht mehr auf dieses Tier, so lieb es auch sein mag.«

Sie überquerten eine blühende Wiese und gelangten zum nahen Wald. In diesem Moment vernahmen sie wütendes Gekläff, und dann sprang auch schon einer dieser gefährlichen Kampfhunde aus dem Gebüsch und ging, ohne zu zögern, auf Attila los. Dieser wieherte erschrocken, stieg mit den Vorderhufen auf, um gleich danach mit den hinteren zu bocken.

Jenny, die mit so etwas nicht gerechnet hatte, stürzte aus dem Sattel, fiel mit dem Kopf zuerst auf den Boden und blieb regungslos liegen. Und schon war Alexander neben ihr, um sie vor etwaigen Angriffen des Hundes zu schützen. Doch dieser beschäftigte sich weiterhin mit Attila, der sich erstaunlich geschickt wehrte und den Kläffer nicht an sich herankommen ließ.

Jetzt stürmte eine aufgeregte Gestalt aus dem Wald, bei der es sich offenbar um den Besitzer des Hundes handelte, schrie und wedelte mit den Armen. Als er sie erreicht hatte, gelang es ihm, das Vieh am Halsband zu packen und festzuhalten.

»Entschuldigen Sie bitte tausendmal«, rief er. »King hat sich losgerissen. Ich hoffe, Ihnen ist nichts passiert? Ich komme selbstverständlich für jeden Schaden auf.«

Alexander hatte Jenny, die unterdessen wieder zu sich gekommen war, aber noch etwas benommen wirkte, aufgerichtet und stützte ihren Körper von hinten mit seinem Schoß und seinen Knien.

»Geht’s wieder?«, fragte er besorgt, und als sie nickte und erklärte, gebrochen habe sie wohl nichts, legte er los. Er beschimpfte den Hundebesitzer als unverantwortlichen Idioten, der samt seinem Köter hinter Schloss und Riegel gehöre.

»Es zeugt von geistiger Armut, ein solches Vieh überhaupt zu halten«, brüllte er außer sich vor Zorn. »Tut’s ein Dackel, Pudel oder meinetwegen ein Schäferhund nicht auch? Nein, eine solche Kampfmaschine, für die man einen Waffenschein bräuchte, muss es sein.«

»King ist sonst der friedlichste Hund auf der Welt«, jammerte sein Besitzer. »Ich weiß nicht, was heute in ihn gefahren ist. Vielleicht liegt es am Wetter? Ist Ihnen wirklich nichts passiert?«

»Mensch, gehen Sie bloß fort!«, donnerte Alexander. »Sonst passiert Ihnen noch was. Und lassen Sie sich hier nie mehr blicken.«

Diese Aufforderung ließ sich der Hundebesitzer nicht zweimal sagen. Er stotterte noch einmal eine Entschuldigung und war kurz darauf samt Köter, den man noch eine Weile kläffen hörte, im Wald verschwunden.

Aber auch von den beiden Pferden war nichts mehr zu sehen. Sie hatten sich wohl auf den Weg nach Hause gemacht, als niemand sich um sie gekümmert, hatte.

»Geht es wirklich wieder?«, erkundigte sich Alexander noch einmal bei Jenny.

»Ja, wirklich«, antwortete sie. »Nur der Schädel brummt halt noch ein wenig.«

»Sei froh, dass du den Reithelm getragen hast«, meinte Alexander. »Sonst hätte die Sache schlimmer enden können.«

»Hilf mir bitte auf die Beine!«, bat sie ihn.

»Selbstverständlich.«

Er stand auf, reichte ihr seine Hände und hob sie hoch. Und als sie sich plötzlich so nah gegenüberstanden und sich vor Aufregung noch leicht zitternd in die Augen sahen, konnte er nicht anders: Er nahm sie in seine Arme und küsste sie. Und Jenny erwiderte seinen Kuss wie in ihrem Traum in der vergangenen Nacht. Bis sie sich bewusst wurde, was sie tat. Da stemmte sie ihre Hände gegen seine Brust, löste ihre Lippen erschrocken aufstöhnend von seinen und schob ihn von sich.

»Bist du verrückt geworden?«, stammelte sie verwirrt. »Wie kannst du es wagen? Nutzt eine Situation wie diese schamlos aus!«

»War es denn so schlimm?«

Jenny senkte den Kopf. »Nein«, wisperte sie. »Das ist es ja gerade, was mich zugleich ärgert und erschreckt. Ich hätte es erst gar nicht zulassen dürfen.«

»Und doch hast du es getan!«

»Ich möchte mich ohrfeigen dafür.«

»Warum eigentlich?«

»Wegen Ted«, flüsterte sie, und jetzt traten ihr auch noch die Tränen in die Augen. »Ich hatte mir so fest vorgenommen, mich hier in Deutschland mit keinem Mann einzulassen. Nun bin ich kaum einen Tag hier, und schon lasse ich mich küssen. Und hatte im Grunde nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei.«

»Was davon zeugt, dass du diesen Ted vielleicht gar nicht so sehr liebst, wie du geglaubt hast«, vermutete Alexander.

»Ich weiß es nicht«, murmelte Jenny hilflos. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Dann lass es uns doch herausfinden«, schlug Alexander lächelnd vor.

»Wie denn?«

»Indem wir uns noch einmal küssen. Wenn du dann immer noch kein schlechtes Gewissen verspürst, weißt du, was los ist.«

»Lieber nicht«, meinte Jenny leise. »Ich muss das alles erst noch einmal in Ruhe überdenken. Vielleicht finde ich die Antwort auch so.«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen. Ein Geländewagen, von Fürst Boris höchstpersönlich gelenkt, näherte sich von vorn und hielt wenig später neben ihnen an. Seine Durchlaucht kletterte heraus, erdolchte die beiden jungen Leute mit Blicken und fing - was auch sonst? - zu schreien an.

»Kann ich euch denn keine Minute aus den Augen lassen? Was habt ihr denn jetzt schon wieder angestellt? Wieso kehren die Pferde ohne ihre Reiter in den Stall zurück? Hätte ich Hertas Bitte doch nie nachgegeben und aus meinem Schloss ein Mädchenpensionat gemacht! Das habe ich nun davon! An den Rand eines Herzinfarktes werde ich getrieben! Also, was ist los?«

Alexander berichtete mit wenigen Worten, was sie gerade erlebt hatten. Fürst Boris, gereizt, wie er war, geriet nun völlig aus dem Häuschen.

»Schon wieder dieser Rietmüller mit seinem verdammten Hund«, rief er. »Die ganze Gegend versetzt er mit seinem Köter in Angst und Schrecken. Ein Wunder, dass bis jetzt noch nichts Ernsthaftes passiert ist, sieht man von dem heutigen Zwischenfall und einigen Wildereien, die ich diesem Hund durchaus zutraue, ab. Aber damit ist jetzt endgültig Schluss. Ich werde dafür sorgen, dass dieser Höllenhund keinen mehr anfällt.«

»Ganz Ihrer Meinung, Durchlaucht«, pflichtete Alexander seinem Vater bei. »Die Haltung solch gefährlicher Hunde gehört verboten oder zumindest durch strenge Auflagen eingeschränkt.«

»Dann sind wir wenigstens einmal einer Meinung«, knurrte der Fürst. »Sonst ist alles in Ordnung mit euch beiden?«

Alexander und Jenny bestätigten, dass dem so war.

»Dann steigt ein!«, forderte der Fürst sie auf. »Ich bringe euch ins Schloss zurück. Nichts als Ärger und Aufregung hat man mit euch.«

»Dafür konnten wir aber wirklich nichts«, verteidigte sich Jenny. »Und ich kann mir auch eine andere Bleibe suchen, wenn dir mein Besuch nicht passt. Was ja der Fall zu sein scheint, denn dein ganzes Benehmen deutet darauf hin.«

»Hätte ich mein Schloss beflaggen und die hiesige Feuerwehr einen Willkommensgruß blasen lassen sollen, als du gestern ankamst?«, versetzte der Fürst missmutig.

»Das nicht«, entgegnete Jenny. »Es würde schon genügen, wenn du dich mir gegenüber etwas freundlicher verhalten würdest.«

»Ich bin nun mal, wie ich bin«, brummte Fürst Boris. »Ob dir das nun passt oder nicht. Entweder du gewöhnst dich daran, oder ...«

»Oder?«, hakte Jenny nach.

»Nichts«, erwiderte der Fürst. »Du bleibst natürlich bei mir wohnen. Ich habe es deiner Mutter versprochen. Und was ich verspreche, pflege ich zu halten. Wir werden uns schon irgendwie zusammenraufen.«

»Aber nicht auf meine Kosten«, stellte Jenny klar. »Denn dann verschwinde ich lieber von hier.«

Was wohl am besten wäre, dachte Fürst Boris, aber laut sprach er das nicht aus. Was eigentlich nicht seine Art war; denn normalerweise trat Seine Durchlaucht grundsätzlich mit beiden Füßen in jedes Fettnäpfchen, das sich ihm bot. Warum diesmal nicht? Ob er vielleicht gar nicht mehr wollte, dass Jenny ging? Sehnte er sich auf seine alten Tage nach so etwas wie ein bisschen Familienleben? Wer außer ihm selbst konnte diese Fragen beantworten? Er schwieg.

Am nächsten Tag erhielt Alexander erneut den Auftrag, Jennys Begleiter zu spielen. Diesmal ging es darum, den Weg nach Heidelberg und die Stadt selbst zu erkunden. Außerdem beabsichtigte Jenny, sich einen gebrauchten Kleinwagen zuzulegen, um nicht auf Bus oder Bahn angewiesen zu sein, wenn sie ab kommender Woche zur Uni fahren musste.

»Mir ist klar, dass ich Sie damit von Ihrer eigentlichen Arbeit abhalte«, meinte Fürst Boris, nachdem er Alexander mit seinem neuen Sonderwunsch vertraut gemacht hatte. »Aber wen außer Ihnen könnte ich Jenny sonst zur Seite stellen? Außerdem ist momentan ja auch nicht mehr ganz so viel zu tun.«

»Auf einem Gut wie Ihrem gibt es für den Verwalter immer etwas zu tun«, belehrte Alexander den Fürsten, obwohl es diesem sicher bekannt war. »Aber ich kann mir meine Arbeit einteilen und übernehme es gern, Jenny nach Heidelberg zu begleiten.«

Also setzten sich die beiden jungen Leute nach dem Mittagessen in Alexanders Schorschi und gondelten los. Es war das erste Mal seit dem Zwischenfall mit dem Kampfhund, dass sie allein miteinander sprechen konnten. Flüchtig gesehen hatten sie sich ein paarmal, aber das war dann auch schon alles gewesen.

»Und?«, begann Alexander, kaum dass sie losgefahren waren, das Gespräch. »Hast du die Antwort inzwischen gefunden?«

»Die Antwort auf welche Frage?«, gab sie zurück, obwohl sie genau wusste, was er meinte.

»Du wolltest deine Gefühle zu Ted erforschen«, half ihr Alexander auf die Sprünge. »Liebst du immer noch ihn, oder gehört dein Herz mittlerweile einem anderen?«

»Wem denn?«

»Mir zum Beispiel«, entgegnete Alexander. »Schließlich hast du mich gestern geküsst.«

»Du hast mich geküsst«, stellte Jenny klar. »Das ist wohl ein feiner Unterschied.«

»Das schon«, räumte er ein. »Aber du hast meinen Kuss erwidert. Willst du das etwa leugnen?«

»Können wir nicht über etwas anderes sprechen?«. fragte sie unwillig. »Warum müssen Männer immer auf einem Thema wie diesem herumreiten?«

»Weil es ein interessantes Thema ist«, befand Alexander. »Immerhin geht es um deine und meine Zukunft.«

»Jetzt spinnst du aber«, begehrte Jenny auf. »Du kannst doch nicht von einem einzigen Kuss ...«

»... von einem überaus süßen, reizvollen Kuss!«, warf er ein.

»... von einem einzigem Kuss unser beider Zukunft abhängig machen«, fuhr sie fort. »Zumal dieser Kuss ein Fehler war.«

»Ich empfinde ihn nicht als Fehler.«

»Aber ich«, fauchte Jenny. »Und ich kann es auch damit entschuldigen, dass ich von meinem Sturz wohl noch etwas benommen war.«

»Dafür hast du aber recht leidenschaftlich geküsst«, feixte Alexander.

»Du bist gemein«, schimpfte Jenny. »Ich sollte mich gar nicht mehr mit dir unterhalten.«

»Ich möchte aber noch so viel wissen.« Alexander ließ nicht locker. »Was ist nun mit Ted?«

»Ach, lass mich doch in Ruhe«, knurrte Jenny, drehte den Kopf zur Seite und schaute demonstrativ aus dem Fenster, an dem die sanften, dicht bewaldeten Hügel des Odenwaldes vorüberflogen.

Bis Heidelberg sprach sie kein Wort mehr mit Alexander, auch wenn er mehrfach den Versuch startete, wieder eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen. Schließlich gab er auf, drehte das Radio lauter und pfiff fröhlich die Melodien mit, die aus den Boxen tönten.

In Heidelberg musste sie zwangsläufig wieder mit ihm reden, weil er nämlich die Frage an sie richtete, ob sie zuerst das Auto kaufen oder sich die Stadt ansehen wollte.

»Das Auto ist wichtiger«, meinte Jenny. »Die Stadt läuft uns nicht davon.«

Alexander hatte zu Hause die Adressen verschiedener Auto und Gebrauchtwagenhändler herausgesucht. Diese klapperten sie nun der Reihe nach ab, fanden schließlich, was sie suchten, und Jenny unterschrieb den Vertrag. Der Verkäufer versprach ihnen, dass der Wagen am kommenden Tag gegen fünfzehn Uhr zugelassen und TÜV-geprüft für sie bereitstehen würde.

Dann war Heidelberg an der Reihe.

Wie kaum eine andere deutsche Stadt wurde Heidelberg von den Dichtern geliebt. Namen wie Goethe, Hölderlin, Eichendorff, Mark Twain und viele andere sind mit dieser Stadt verbunden, und immer noch kann man sein Herz nicht nur in, sondern auch an Heidelberg verlieren.

Jenny interessierte natürlich zuerst, wie sie später am günstigsten zu ihrer Universität gelangen konnte. Anhand einer Stadtkarte suchten sie ein in der Nähe der Altstadt gelegenes Parkhaus heraus, stellten Schorschi dort ab und machten sich zu Fuß auf den Weg. Bis zum Universitätsviertel war es nicht weit. Wenn Jenny sich einen Dauerplatz in diesem Parkhaus reservieren ließ, musste sie zum Studieren keine längeren Strecken zurücklegen.

Nachdem dies geklärt war, konnten sie mit der Besichtigung der restlichen Stadt beginnen. Sie bestaunten die zahlreichen historischen Gebäude und Kirchen, genossen von der Alten Brücke mit den beiden barocken Tortürmen den klassischen Blick auf die Altstadt und das Schloss und fuhren schließlich mit der Bergbahn hinauf, um dieses alte Gemäuer zu besichtigen. Bei der obligatorischen Schlossführung sahen sie dann auch das berühmte große Fass, das neun Meter lang und acht Meter hoch war, 221.726 Liter fasste und vom Zwerg Perkeo in einem Zug ausgetrunken worden sein sollte.

»Das glaube ich nicht«, meinte Jenny und lachte. »Der wäre doch nach zwanzig oder dreißig Litern geplatzt.«

»Sag das nicht«, erwiderte Alexander mit todernster Miene. »Wir Deutsche haben einen gesegneten Durst.«

Er fragte sich, ob es Jenny nicht aufgefallen war, dass sie seit geraumer Zeit Hand in Hand gingen. Wer sie sah, musste sie unweigerlich für ein Liebespaar halten. Zumal sie auch ständig miteinander lachten, turtelten und sich mit Blicken anschauten, die man kaum noch als freundschaftlich bezeichnen konnte.

Natürlich hatte Jenny bemerkt, dass sie Händchen hielten. Sie selbst war es schließlich gewesen, die nach seiner Hand gegriffen hatte, als es hinunter in den düsteren Keller mit dem riesigen Fass ging. Und als Alexander nicht wieder losgelassen hatte, ließ sie es dabei bewenden. Was war schon dabei, ein wenig Händchen zu halten?

Später spazierten sie Hand in Hand durch den wunderschönen Schlosspark und sahen sich Alt Heidelberg noch einmal von oben an. Auf einer Parkbank gestand Alexander ihr, dass er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte, und dass es ihm wirklich ernst sei.

»Das fing eigentlich schon auf dem Frankfurter Flughafen an«, erzählte er. »Ein Blick genügte, und mein Herz stand in Flammen. Lach mich aus, aber so war es.«

»Ich lach’ doch gar nicht«, versetzte sie leise. »Ich weiß nur nicht, was ich dazu sagen soll. Natürlich bist du mir sehr sympathisch. Vielleicht ist es mehr. Ich befürchte sogar, dass es mehr ist. Aber ich habe Ted nun mal Treue versprochen. Ich käme mir schäbig vor, sie nach so kurzer Zeit zu brechen.«

»Aber Liebe ist doch keine Frage der Zeit«, erwiderte Alexander. »Wenn es einen erwischt, ist es doch egal, was vorher war. Das Herz ist entscheidend. Wenn es dir zu verstehen gibt, dass es für einen anderen schlägt, sollte man das nicht überhören. Versteh mich bitte nicht falsch. Ich möchte dich zu nichts drängen, wäre allerdings der glücklichste Mensch dieser Erde, wenn du dich für mich entscheiden würdest.«

»Das alles geht mir einfach zu schnell«, seufzte Jenny und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Vor drei Tagen habe ich dich noch nicht gekannt, und heute möchte ich deinetwegen am liebsten den Mann verraten, der mir bis dato sehr viel bedeutet hat.«

»Sehr viel, aber nicht alles - oder?«

»Wahrscheinlich.« Sie seufzte wieder. »Sonst käme ich jetzt nicht auf diese dummen Gedanken.«

Alexander wandte ihr sein Gesicht zu, küsste sie zärtlich aufs Haar. »Ich habe das nicht gewollt«, beteuerte er. »Ich wollte deine Gefühle nicht in einen Zwiespalt stürzen. Ehrlich nicht. Aber ich habe mich nun mal in dich verliebt. Hätte ich das in meinem Herzen vergraben sollen, zumal ich doch so etwas wie Gegenliebe verspüre?«

»Ich hätte gar nicht nach Deutschland kommen sollen«, meinte Jenny seufzend. »Dann wäre alles viel einfacher für mich. So aber wohne ich bei einem Onkel, dem meine Anwesenheit offensichtlich zur Last fällt, verliebe, ja, verliebe mich in einen Mann, von dem ich nichts, aber auch gar nichts weiß. Und überhaupt ...« Ein dritter Seufzer entrang sich ihrer gequälten Brust. »Lieber Gott, warum machst du es einem nur so schwer?«

»Das mit dem Mann, von dem du nichts weißt, können wir ändern«, erwiderte Alexander. »Du musst mir allerdings versprechen, keinem ein Wort zu verraten; selbst deinen Eltern nicht, wenn du mit ihnen telefonierst.«

Jenny setzte sich gerade und runzelte die Stirn. »Sag nur, hinter deiner Person verbirgt sich ein Geheimnis? Bist du am Ende gar nicht der, für den du dich ausgibst, sondern ein verwunschener Prinz?«

Alexander lachte. »So könnte man es nennen. Ja, ich bin so etwas wie ein verwunschener Prinz.«

»Das mit dem Prinzen sollte ein Spaß sein«, stellte Jenny klar.

»Ich weiß. Aber es entspricht so ziemlich den Tatsachen. In Wahrheit heiße ich Alexander von Hambach und bin der leibliche und - wie ich vermute - auch der einzige Sohn des Fürsten.«

»Jetzt treibst du aber deinen Scherz mit mir«. Jenny schaute ihren Begleiter an, als habe dieser ihr soeben erklärt, er wäre der Liebe Gott persönlich. Oder zumindest der Erzengel Gabriel.

»Du willst mich auf den Arm nehmen, nicht wahr?«

»Das täte ich zwar liebend gern«, entgegnete Alexander, »aber in dem Sinn, wie du es meinst, nicht. Ich bin Alexander von Hambach. Soll ich dir meinen Ausweis zeigen, damit du mir glaubst? Dort werde ich allerdings nur Alexander Hambach genannt, weil ich auf Titel und solche Sachen keinen Wert lege. Meine Mutter ist, weil nie eine Scheidung erfolgte, immer noch die dem Fürsten angetraute Frau.«

»Die er vor über zwanzig Jahren samt Sohn aus seinem Schloss geekelt hat«, spann Jenny den Faden weiter. »Meine Mutter hat mir diese Geschichte erzählt.« Sie blickte ihn kopfschüttelnd an. »Und du bist wirklich ...«

»Ja, ich bin es«, bestätigte Alexander noch einmal.

»Es ist unglaublich.« Jenny konnte es nicht fassen. »Und dein Vater weiß nicht, dass er seinen eigenen Sohn unter falschem Namen eingestellt hat?«

»Er ahnt es nicht einmal.«

»Warum hast du das getan?«, wollte Jenny wissen, und Alexander erklärte es ihr mit den Worten, mit denen er es schon seiner Mutter auseinandergesetzt hatte.

»Das ist vielleicht ein Ding!«. befand Jenny. »Stellt dieser Mensch seinen eigenen Sohn als Verwalter ein und merkt es nicht einmal! Ich könnte mich totlachen!«

»Bitte nicht!«, widersprach Alexander. »Du wirst noch gebraucht. Ich hoffe nur, dass mein Geständnis nichts an deiner gerade aufkeimenden Liebe zu mir ändert?«

»Bestimmt nicht«, versicherte Jenny und lehnte ihren Kopf wieder an seine Schulter. »Im Gegenteil. Dein Geständnis beweist mir, dass du Vertrauen zu mir hast und es ehrlich meinst. Ach, Alex, meine innerlichen Konflikte sind damit aber noch lange nicht gelöst.«

»Tu mir einen Gefallen, Liebes!«, bat Alexander. »Nenne mich weiterhin Thomas, damit du gar nicht erst Gefahr läufst, dich zu verplappern.«

»Gern, Thomas. Und wie lange gedenkst du dieses gefährliche Spiel mit deinem Vater noch zu treiben?«

»Das weiß ich selbst noch nicht«, bekannte er. »Wahrscheinlich wird die Bombe platzen, wenn ich dich bitte, meine Frau zu werden. Dann wird es Streit geben, weil nach Meinung des Fürsten, blaues Blut und ein bürgerlicher Verwalter nicht zusammengehören. Also werde ich ihm dann die Wahrheit gestehen müssen.«

»Woher willst du denn jetzt schon wissen, ob ich überhaupt deine Frau werden möchte?«, erkundigte sich Jenny.

»Ich hoffe es einfach mal, denn irgendwann wirst du dir über deine Gefühle ja sicher im Klaren sein.«

»Das bin ich mir eigentlich jetzt schon«, gestand sie leise ein. »Wenn nur dieses schlechte Gewissen wegen Ted nicht wäre. Und die Angst, dass er sich etwas antut, wenn er erfährt, dass es aus ist zwischen uns.«

»Hat er dir damit etwa gedroht?«

»Direkt nicht«, erklärte sie. »Er hat nur gesagt, dass er, wenn ich ihn verlasse, nicht mehr leben möchte.«

»Meine Güte, dass ist so ein Allerweltsspruch, den jeder Verliebte seiner Angebeteten auftischt«, meinte Alexander. »Ich könnte das jetzt genau so zu dir sagen, tu es aber nicht, weil ich es für kindisch halte. Jeder Mensch kann weiterleben, wenn ihm etwas Liebes genommen wird. Er muss es einfach, weil ihm letztlich gar keine andere Wahl bleibt.«

»Das habe ich ihm ja auch klarzumachen versucht«, entgegnete Jenny. »Er wollte es nicht einsehen und hat mich mit seiner unerträglichen Eifersucht genervt. Ich wurde wütend und habe mich ziemlich kühl von ihm verabschiedet. Und jetzt stellt sich im Nachhinein heraus, dass er mit seiner Eifersucht gar nicht so unrecht hatte. Ich bin auf dem besten Weg, die versprochene Treue zu brechen, habe es eigentlich längst schon getan. Wenn nicht durch Taten, abgesehen von dem Kuss gestern, dann doch in Gedanken.«

»Du musst ihn anrufen«, schlug Alexander vor. »Du musst ihm sagen, was geschehen ist.«

»Ja, das werde ich wohl irgendwann tun müssen«, erwiderte Jenny. »Aber nicht jetzt und nicht heute. Heute möchte ich nur noch ein bisschen glücklich sein mit dir.«

Diese Worte verstand Alexander als Einladung, sie in die Arme zu nehmen und voller Zärtlichkeit zu küssen. Diesmal stieß sie ihn nicht von sich, und es störte sie auch nicht, dass einige Leute stehenblieben und sie verständnisvoll schmunzelnd beobachteten. Sie bekam es gar nicht mit.

Sammelband 4 Fürstenromane: Liebe, Schicksal, Schlösser

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