Читать книгу Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung - Alfred Bekker - Страница 16
Der Freak aus Kattenvenne
ОглавлениеAls Anna van der Pütten und Sven Haller bei den Heinzes in Ladbergen fertig waren, fuhren sie nach Kattenvenne, um mit Timothy Winkelströter zu sprechen. Die Adresse herauszufinden, war nicht allzu schwierig. Haller brauchte dazu noch nicht einmal im Polizeipräsidium in Münster anzurufen, um seine Kollegen zu bitten, das zu ermitteln. Er hatte sein Laptop dabei, ging damit über einen Stick ins Internet und hatte die Adresse wenig später ermittelt.
Timothy Winkelströter wohnte in einer Einliegerwohnung, die in einem zweistöckigen Haus mit Walmdach lag. Das Haus schätzte Haller auf gut hundert Jahre, auch wenn es gut in Schuss war. Es hatte einige kleine Erker und die Wände waren von wildem Wein überwuchert. Im Zeitalter der roten Verklinkerung hätte der Bauherr wohl niemals die Genehmigung für den Bau dieses Hauses bekommen, insofern verdankte es seine Errichtung der Gnade des frühen Baubeginns.
Winkelströter war allerdings offenbar nicht zu Hause. Auf das Klingeln an seinem Schild reagierte auch nach dem fünfzehnten Mal niemand.
Stattdessen öffnete der im Haus wohnende Vermieter die Tür.
„Der ist nicht da“, sagte er.
„Kripo Münster. Wir wollen zu Herrn Winkelströter.“
„Hab ich kapiert!“, sagte der Mann. Er war von mittlerem Alter und trug ein kariertes Hemd, das ihm vielleicht vor zwanzig Jahren mal gepasst hatte, dessen Knöpfe jetzt aber zum zerreißen gespannt waren. „Iss abba nich da!“
„Ist das Ihr Haus?“
„Jooo.“
„Wann kommt Herr Winkelströter denn zurück?“
„Weiß nich.“
„Heute noch?“
„Kann sein. Kann auch nich sein. Immer unterwegs. Hatten Geländewagen – fallse ihn verfolgen wollen.“
„So dringend ist es auch nicht. Aber vielleicht rufen Sie uns an, sobald er auftaucht – oder noch besser: Sie sagen ihm, dass er sich dringend bei uns melden soll!“
Haller gab ihm seine Karte.
Der sah mit einem Stirnrunzeln darauf.
„Kannnixsehen“, sagte er, so als würde der ganze Satz nur aus einem einzigen Wort bestehen. „Keine Brille.“
„Schon gut“ murmelte Haller resignierend. Er warf Anna einen Blick zu, der zu sagen schien: Ja, so steht es wirklich mit der berühmt-berüchtigten Mithilfe der Bevölkerung.
„Sachihmabbabescheid“, versprach der Hauseigentümer, dessen Name dem Schild an der Tür zufolge Möller war.
„Danke, sehr nett von Ihnen“, meinte Haller.
Als sie zum Wagen zurückgingen verdrehte er die Augen.
*
Anna van der Pütten gähnte. Es war Sonntagabend. Sie befand sich in einem der Konferenzräume des Münsteraner Polizeipräsidiums, der zum Lagezentrum umfunktioniert worden war.
„Will jemand noch Kaffee. Sonst nehme ich den Rest!“, meldete sich Raaben zu Wort. Haller antwortet nicht. Er schien in seine Gedanken vertieft zu sein. Schon seit einer ganzen Weile starrte er auf die zahllosen Fotos, die am Tatort gemacht worden waren. Auf dem Großbildschirm waren sie in aller Deutlichkeit und mit vielen Details zu sehen, die man ohne die vorliegende immense Vergrößerung gar nicht bemerkt hätte.
Das Telefon klingelte. Eine Kollegin, deren Namen Anna bisher nicht kannte, ging dran. „Wenden Sie sich doch bitte an die Pressestelle“, sagte sie freundlich aber bestimmt. „Nein, ich kann Ihnen leider keine Auskünfte geben.“ Es folgte noch eine Bekräftigung in Form eines „Wirklich nicht!“ und ein ziemlich gereiztes „Bitte!“. Sie wandte sich an Haller.
„Ich frage mich, woher die diese Nummer haben!“
„Ich habe es aufgegeben, mich noch über irgendetwas zu wundern“, meinte Haller. „Auf der Leitung, die frei bleiben soll, ruft die Presse an und die Nummern, auf denen Hinweise eingehen sollten, kommt jede Menge Müll, aber nichts Brauchbares!“
Die Tür ging auf. Markus Friedrichs von der Spurensicherung trat ein. Anna kannte ihn. Er war an dem Tatort auf der Planwiese gewesen und hatte sich auch bereits an den Ermittlungen bei den vorangegangenen Morden des sogenannten Barbiers beteiligt. Dunkles Haar, glattes Gesicht und eine Brille, die irgendwie nie wirklich dort zu sitzen schien, wo sie hingehörte. Vielleicht lag das daran, dass die wenig markante Nase dafür einfach nicht den rechten Halt bot. Man konnte Friedrichs für Mitte zwanzig halten, wenn man übersah, dass sich an den Schläfen und im Nacken bereits erste graue Strähnen zeigten. Jemand, der mit vierzig immer noch so aussah, als hätte Mutti ihm die Sachen zum Anziehen rausgelegt und für den es kein höheres Ziel gab, als mit größtmöglicher Akribie seine Arbeit zu machen.
Während sich unter den Polizisten alle anderen duzten, war Friedrichs der Einzige, der alle siezte und auch von allen gesiezt wurde. In diesem Sinn gehörte er nicht wirklich dazu, dachte Anna – und das hatte Friedrichs mit ihr gemeinsam. Aber der Unterschied war, dass sie wirklich nicht dazugehörte – Friedrichs aber eigentlich längst hätte dazugehören müssen, es aber offenbar nicht wollte.
„Ich muss Ihnen was zeigen“, sagte Friedrichs und legte den vergrößerten Computerausdruck eines Tatortfotos auf Hallers Tisch.
Anna erkannte sofort, worum es ging. Es zeigte die Flecken am Anhänger-Aufbau, die nach Branagorns Ansicht zusammengenommen einen Handabdruck ergaben.
„Was soll das?“, fragte Haller.
„Sehen Sie sich das hier an!“ Friedrich legte einen weiteren Ausdruck vor Haller auf den Tisch. „Es handelt sich um einen ähnlichen Abdruck. Der Fotoausschnitt ist sieben Jahre alt und stammt aus der Damentoilette der alten Jovel Music Hall an der Grevener Straße vom Tag des Schandmaul-Konzerts!“
„Dort wurde Franka Schröerlücke, das zweite Opfer des Barbiers, gefunden!“, entfuhr es Haller.
„Es ist ein Ausschnitt eines Tatortfotos, allerdings hat man diese Spur damals nicht zuordnen können und auch nicht richtig gesichert. Die Ausdrucke entsprechen übrigens dem Maßstab eins zu eins. Ich habe jetzt genaue Messungen durchgeführt und mit einer neuen Vergleichssoftware für isometrische Daten gearbeitet.“
„Und mit welche Ergebnis?“, fragte Haller.
„Also, wenn es eine Hand ist, dann vermutlich dieselbe. Und es dürfte auch derselbe Handschuh gewesen sein. Sehen Sie die Linien hier? Ich kann Ihnen das noch auf einer anderen Vergrößerung zeigen.“
„Nicht nötig!“
„Das dürften sehr charakteristische Nähte sein. Ich habe den Abdruck außerdem fachgerecht gesichert. Es sind Strukturen erkennbar, die auf stark strukturiertes Leder schließen lassen.“
„Eigenartig“, meinte Haller stirnrunzelnd. „Dieser Spinner scheint das sogar erkannt zu haben.“
„Sie meinen Branagorn?“, echote Anna.
„Ich meine Frank Schmitt. Dass Sie diesen Firlefanz mit dem Fantasy-Namen mitmachen, ist meiner Meinung nach selbst für eine Therapeutin etwas zu viel der Einfühlung. Oder ist es kein Therapieziel mehr, sich der Realität zu stellen?“
Anna ging darauf nicht weiter ein. Stattdessen wandte sie sich an Friedrichs. „Das heißt, unser Täter trägt bei seinen Taten immer dieselben Lederhandschuhe!“
„Ja“, bestätigte Friedrichs. „Und vermutlich gibt es irgendein orthopädisches Problem bei ihm.“
„Wieso das?“, fragte Haller.
Friedrichs atmete tief durch, so als wäre er genervt davon, seinen vergleichsweise unwissenden Mitmenschen etwas erklären zu müssen und als verstünde er nicht wirklich, weshalb die anderen nicht selbst darauf kamen. „Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie diese Abdrücke zustande gekommen sind. Es lastete jeden Fall sehr viel Gewicht auf der Hand. Da ist nicht einfach nur mal so an die Wand gepatscht worden! In dem Fall auf der Planwiese ist außerdem vorher auf die feuchte, grasbewachsene Erde gefasst worden. Das ist sicher! Ich denke Folgendes: Der Täter hat sowohl in der alten Jovel Music Hall vor sieben Jahren als auch auf der Telgter Planwiese das Opfer zuerst getötet und dann in eine sitzende Haltung gebracht. Anschließend rasierte er es und dabei musste er in die Knie gehen oder hocken. Anschließend kam er aber offenbar nicht hoch, ohne sich abzustützen.“
„Also irgendein Problem mit dem Bewegungsapparat – im weitesten Sinne!“, zog Anna ein Resümee.
Friedrichs nickte. „Ja, ich bin gerade mit einem Orthopäden in Kontakt, der mir da vielleicht ein paar Hinweise geben kann. Also wenn wir ganz konservativ argumentieren, könnte man so sagen: Der Barbier hat die Angewohnheit, sich beim Aufstehen abzustützen und irgendwo Halt zu suchen.“
„Und die Spuren können nicht während eines Kampfes entstanden sein?“, fragte Haller.
„Die beiden Toten selbst geben keine Hinweise, die in diese Richtung deuten, Herr Haller. Ich halte das für unwahrscheinlich.“
Haller seufzte. „Also müssen wir jetzt alle humpelnden Handschuhträger im Münsterland überprüfen – oder wie sehe ich das?“
„Lässt sich was zur Größe der Täterhand sagen?“, fragte Raaben dazwischen.
Friedrichs nickte. „Größe 7 mit einem geschätzten Handumfang von 19,6 Zentimetern würde ich sagen. Das entspricht der Größe S bei Männern, der Größe M bei Frauen und der Größe XL bei Kindern.“
„Mit anderen Worten: Der Handschuh passt jedem!“, resümierte Haller.
„Ich möchte die Bilder gerne jemandem zeigen“, kündigte Anna an. „Auch das aus dem alten Jovel.“
„Aber nicht Ihrem Elbenkrieger!“, verlangte Haller.
„Doch - - genau dem.“
„Aber ...“
„Herr Haller, er wusste es! Er hat auf einen Blick im Grunde dasselbe gesehen, was Ihr Kollege mit Hilfe seiner aufwändigen Methodik schließlich auch herausbekommen hat! Bitte!“
Haller seufzte. „Ende der Diskussion! Das kommt nicht in Frage! Und verlangen Sie nicht von mir, dass ich in Zukunft an Magie glaube!“
„Ganz sicher nicht! Aber das Branagorn das Haar auf dem Boden gesehen hat, dass er diesen Abdruck und die Struktur erkannt hat ... Das ist alles nicht so verwunderlich, wie Sie vielleicht denken!“
„Es reicht mir völlig, wenn die Psychologie mir erklärt, warum jemand Vater oder Mutter hasst oder jemanden umbringt. Ich brauche nicht auch noch wissenschaftliche Erklärungen für Dinge, die es nicht gibt!“, erwiderte Haller jetzt schroff.
Friedrich ergriff jetzt noch einmal das Wort, nachdem er sich schon zum Gehen gewandt hatte. „Ach ja, Herr Haller – da sitzt draußen noch jemand, der Sie gerne sprechen würde“, meinte Friedrichs beiläufig. „Er sagt, er würde das letzte Opfer kennen!“
Haller hob die Augenbrauen.
„Und das sagen Sie mir erst jetzt?“
Friedrichs zuckte mit den Schultern. „Es hat mich ja niemand gefragt!“
„Der Zeuge soll schon mal ins Zimmer 2 gehen!“„Ich werde es ihm sagen“, versprach Friedrichs.
*
Zimmer 2 war ein spartanisch eingerichteter Besprechungsraum mit unbequemen Mobiliar. Dieses Mobiliar entsprach nicht einer besonderen Verhörtaktik, die die Folter durch unbequemes Sitzen und schmerzende Druckstellen im Gesäß sowie Rückenschmerzen bei längerer Dauer des Gesprächs schleichend wieder einführen wollte. Es war schlicht eine Frage fehlender finanzieller Mittel. Anna war das schon unangenehm aufgefallen, als sie zum allerersten Mal ein längeres Gespräch mit einem Verdächtigen in diesen Räumlichkeiten hatte führen müssen und sich hinterher gefragt hatte, ob dessen Aggressivität nun wirklich Ausfluss einer soziopathischen Persönlichkeit oder vielleicht doch nur das unweigerliche Resultat schlechten Sitzmobiliars war.
Der Zeuge hatte schon Platz genommen.
„Ich bin Timothy Winkelströter“, sagte er. „Herr Möller hat mir gesagt, dass ich mich bei Ihnen melden soll.“
„Das ist richtig“, bestätigte Haller und setzte sich. Er stellte seine Kaffeetasse ab und plemperte dabei. „Wollen Sie auch einen Kaffee?“
„Nein. Es geht um Jennifer, nehme ich an.“
„Ja. Sie waren Ihr Freund?“
„Also, wie soll ich sagen ...?“
„Ja oder nein. Das ist doch nicht allzu schwierig!“
Timothy Winkelströter beugte sich vor. Anna musterte ihn dabei. Er trug einen langen Ledermantel, der fast bis zu den Knöcheln reichte. Seine Finger waren von Ringen besetzt. Um den Hals hing ein Amulett mit verschnörkelten Schriftzeichen, die Anna entfernt an die magischen Runen erinnerten, die auf Branagorns Schwertscheide zu sehen waren. Seine Haare reichten bis weit über die Schultern und waren ziemlich strähnig.
„Die Sache ist die: Wir hatten eigentlich Schluss gemacht. Oder noch genauer gesagt: Ich hatte mit ihr Schluss gemacht, weil sie genervt hat.“
„Hm“, meinte Haller. „Wann war das?“
„Das war am Freitag vor acht Tagen. Wir haben uns dann einige Zeit nicht gesehen und als ich dann am Samstag zum Mittelalter-Markt nach Telgte gefahren bin ...“
„Sie waren also dort?“, unterbrach ihn Haller.
„Ja sicher!“
„Fahren Sie bitte einfach fort“, ermutigte ihn Anna, denn sie hatte das Gefühl, dass sich Haller nicht gerade einen günstigen Augenblick ausgesucht hatte, um den Gesprächsfluss seines Gegenübers zu stören.
Timothy Winkelströter schluckte. „Einen leckeren Met haben Sie nicht zufällig, oder?“
„Tut mir leid“, meinte Haller. „Kaffee oder Wasser, mehr gibt's hier nicht.“
„Dann lassen Sie es besser. Ich will mich ja nicht vergiften.“
„Wie kam es, dass Sie doch mit Jennifer Heinze zum Markt gefahren sind?“, ging Anna nun dazwischen und wunderte sich selbst über ihre Ungeduld, die eigentlich jeglichen Konventionen ihres Berufsstandes widersprach.
„Das habe ich doch noch gar nicht gesagt!“, wunderte sich Timothy.
„Nein, aber ich habe es angenommen, weil alles andere keinen Sinn machen würde!“
Timothy seufzte. „Wie gesagt, ich war auf dem Weg nach Telgte, sie hat mich auf dem Handy angerufen und gesagt, sie sei auch auf dem Weg dorthin. Und ob wir nicht noch mal über alles reden könnten und so. Na ja, ich bin ja kein Unmensch. Wir hatten ja auch schöne Zeiten. Also haben wir einen Treffpunkt an einem Parkplatz vereinbart, sie ist in meinen Wagen eingestiegen und wir sind dann zum Markt gefahren.“
„Wie ging es dann weiter?“, fragte Anna. Ihr fiel eine Tätowierung am Unterarm auf, als der Ärmel seines Mantels etwas hochrutschte. Es war ein Stierkopf auf einem Kreuz. Irgendwo hatte sie dieses Zeichen schon einmal gesehen, konnte es aber im Moment nicht recht einordnen. Aber kultische Geheimlehren waren ebenso wenig ihr Spezialgebiet wie die alchemistischen Geheimzeichen des Mittelalters oder was auch immer Timothy Winkelströter sonst als Vorlage für diesen leider ziemlich dauerhaften Körperschmuck gewählt hatte.
„Tja, ich will nicht drumrum reden“, sagte Timothy.
Drumrum – dieses eine Wort wies ihn als jemanden aus, der in dieser Gegend geboren und aufgewachsen war. Anna war das erst während ihres Studiums in Köln aufgefallen, dass man daran münsterländische Landsleute in der Fremde erkennen konnte. Drumrum und drumzu – zwei akustische Erkennungszeichen, die jeden Münsterländer so eindeutig identifizierten, wie das 'Woll' den Sauerländer. Anna hatte sich bis dahin immer eingebildet, reines Hochdeutsch zu sprechen, und es war ihr erst in dem Moment klar geworden, als sie einen Kommilitonen, der wie sich herausstellte, aus Emsdetten kam, diese beiden Worte benutzen hörte, die sie bis dahin ebenfalls bedenkenlos gebraucht und sich danach mühsam abgewöhnt hatte.
Nach seiner verheißungsvollen Ankündigung 'nicht drumrum' zu reden, schwieg Timothy Winkelströter allerdings erst einmal eine Weile. Er wirkte plötzlich in sich gekehrt und seine Hand umfasste das Amulett mit den Runen, so als würde er sich davon irgendeine Art von Schutz oder Stärkung erhoffen. Der Stierkopf auf dem Kreuz an seinem Arm wurde dadurch sehr gut sichtbar, sodass Anna jede Einzelheit daran erkennen konnte.
„Wann haben Sie Jennifer denn zuletzt gesehen?“, fragte Anna jetzt behutsam. Ihre Stimme hatte einen samtweichen Klang. Sie hatte sich diesen Tonfall für schwierige Therapiesituationen angewöhnt. Er half besser als jeder Trick, den man in einem Seminar für Gesprächsführung erlernen konnte.
„Das war an einem der Stände. Ich wollte ein Trinkhorn aussuchen und Jennifer hat mich so vollgequatscht, da sind wir dann etwas aneinandergeraten. Mir war dann klar, dass es keine gute Idee gewesen ist, sich noch mal zu treffen, obwohl wir früher immer gerne zusammen auf den Markt auf der Planwiese gegangen sind. Sie werden das vielleicht kennen. Da gibt dann ein Wort das andere und schließlich ist sie ziemlich wutentbrannt abgedampft. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Und von ihrem Tod habe ich erst später erfahren, als da dieser große Tumult entstand und Ihre Kollegen mit Megafonen ihre Durchsage machten. Aber da waren so viele Menschen, ich konnte nichts sehen.“
„Wann war Ihnen klar, was geschehen ist?“
„Lutz Brackenhorst hat es mir gesagt. Der hat den Stand ganz in der Nähe, wo Jennifer gefunden wurde. Ich kenne Lutz gut, weil ich ihn über meinen Internet-Shop mit Amuletten beliefere.“ Timothy schüttelte den Kopf. „Furchtbar, was dieser Irre ihr angetan hat.“
„Aber Sie fanden es nicht nötig, sich bei unseren Beamten zu melden“, stellte Haller fest. „Wieso nicht?“
„Ich hätte doch gar nichts dazu sagen können“, verteidigte sich Timothy Winkelströter. „War ich vielleicht dabei, als Jennifer starb? Nein!“
„Jede Information, die wir bekommen, kann uns weiterhelfen, den Täter zu fassen“, widersprach Haller. „Oder wollten Sie nur nicht selbst verdächtig erscheinen?“
„Ich?“
Er ist wirklich überrascht!, erkannte Anna. Allerdings erschien es ihr letztlich doch ziemlich verwunderlich, wie unbeteiligt er den Tod seiner Ex-Freundin hinnahm. Ob das nur eine coole Maske war oder ob da noch etwas anderes dahintersteckte, hatte Anna für sich selbst noch nicht entschieden. Jedenfalls stimmte da irgendetwas nicht. Er verschwieg etwas.
„Sie haben sich mit Ihrer Freundin oder Ex-Freundin, oder was immer sie in dem Moment auch gerade für Sie gewesen ist, heftig gestritten, wie Sie selbst erklärt haben“, stellte Haller fest. „Und wenig später ist sie tot! Haben Sie für die Zeit nach Ihrem Streit ein Alibi?“
„Sehe ich etwa aus, als wäre ich irre und würde Frauen erst umbringen und dann einer Radikalrasur unterziehen? Sehe ich wirklich so aus.“
„Wenn wir Tätern ihre Schuld ansehen könnten, dann wäre unser Job etwas leichter, Herr Winkelströter. Leider ist das nicht der Fall und so sind wir auf solche Sachen wie Alibis und dergleichen angewiesen, um den Täterkreis einzugrenzen oder jemanden auszuschließen.“
„Ich habe ein paar Kumpels getroffen und bin mit denen über den Markt gezogen. Und abgesehen davon hatte ich noch eine Auseinandersetzung mit einem der Händler.“
„Weswegen?“
„Deswegen!“
Timothy Winkelströter erhob sich urplötzlich, und riss seinen Mantel auseinander, als würde er einen Exhibitionisten parodieren wollen.
„Sehe nichts“, sagte Haller.
„Die Elbenrunen an der Gürtelschnalle. Die habe ich designt! Solche Schnallen biete ich auch über meinen Shop an und dieser Sack hat einfach das Design geklaut! Das ist ein Verstoß gegen das Urheberrecht, falls Ihnen das was sagt!“
„Namen und Adressen der Personen, die Ihre Geschichte bestätigen können, bitte“, verlangte Haller. „Dann dürfte sich das doch rasch klären lassen, oder?“
Timothy Winkelströter zögerte aus irgendeinem Grund. Warum?, fragte sich Anna unwillkürlich und das Gefühl, dass da etwas faul war, verstärkte sich. War es die Tatsache, dass sein Lächeln maskenhaft war und ohne Beteiligung der Schläfenmuskulatur zustande kam? War es die sehr eindringliche Sprechweise, dieser Tonfall, der besonders überzeugend wirken sollte und es genau deswegen nicht war?
„Okay“, sagte Timothy Winkelströter schließlich und lehnte sich zurück. Er wich Annas Blick aus. Haller schrieb sich eine Reihe von Namen auf, die der Zeuge ihm sagte. Bei manchen Adressen wusste Timothy die Straßennummer nicht, aber dafür die Handynummer, was die ganze Angelegenheit wohl erheblich vereinfachen würde. Außerdem wollte Haller noch genau wissen, wo Jennifer Heinzes Wagen abgestellt worden war.
„War es das?“, fragte er.
„Ja, das war's“, nickte Haller. „Zumindest fürs Erste. Haben Sie ein Handy? Für den sehr wahrscheinlichen Fall, das wir an Sie noch Rückfragen haben.“
„Oder Sie mich orten wollen!“, grinste Timothy.
„Na, da wir doch beide davon ausgehen, dass die von Ihnen benannten Zeugen Ihr Alibi bestätigen können und Sie uns auch sonst die Wahrheit gesagt haben, wird das ja wohl kaum nötig sein!“
Timothy nannte Haller seine Handy-Nummer.
„Einen Moment. Der Kuli funktioniert nicht mehr“, stellte Haller nach dem ersten Strich fest. „Tja, das Zeitalter der Schriftlichkeit scheint unwiderruflich zu Ende zu gehen.“ Haller nahm sein Handy hervor. „Ich tippe die Zahlen direkt ins Menü ein, wenn Sie sie mir sagen.“
„Falls Sie sich vertan haben sollten, können Sie ja die Audio-Aufzeichnung abhören, die Sie von meine Aussage gemacht haben.“
*
Bevor Timothy Winkelströter wenig später die Tür erreichte, fragte Anna ihn noch: „Herr Winkelströter, zwei Fragen noch ...“
Timothy grinste. „Die psychologische Masche, was? Harmlos tun und hintenrum kommen! Bitte, ich habe nichts zu verbergen und auch wenn Jennifer und ich uns nicht im Guten getrennt haben, will ich genauso wie Sie, dass der Verrückte Killer-Frisör endlich das Handwerk gelegt bekommt!“
„Frage Nummer eins: Waren Sie eigentlich auf dem Schandmaul-Konzert vor sieben Jahren?“
Er sah Anna irritiert an. „Häh?“
„Jovel Music Hall, Grevener Straße!“
„Ja, richtig, die ist doch abgerissen worden und die sind dann in so ein Pleite gegangenes ehemaliges Autohaus umgezogen.“
„Waren Sie dort?“
Er zeigte ihr seine Ringe, strich dann mit den Händen an seinem Ledermantel herab. „Jeder im Umkreis von hundert Kilometern, der so aussieht wie ich oder sich auch nur ansatzweise für Mittelalter-Rock interessiert, war an dem Tag dort! Eigentlich jedenfalls.“
„Was heißt das?“
„Ja, ich leider nicht! Ein Kumpel von mir wollte Karten besorgen und ich habe mich auf ihn verlassen. Tja, der hat es leider verpennt und deswegen musste ich dann draußen bleiben. Leider.“ Er runzelte die Stirn. „Was ist das für eine Frage? Ah, ich verstehe schon die Frage ... Damals ist auch was passiert, nicht wahr? Ist doch richtig!“
„Frage Nummer zwei: Welche Handschuhgröße haben Sie eigentlich?“
Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Dann sah er auf seine Hände. Zierliche Hände mit den schlanken Fingern eines Pianisten. Die Ringe mit den Geisterfratzen, Totenköpfen und magischen Runen ließen sie noch zarter erscheinen. Eine Mischung aus Grufti-Design und der beringten Schrumpelfinger-Tarnung eines Karl Lagerfeld, wie Anna fand. „Bin ich ein Mädchen und friere?“, fragte Timothy. „Ich trage nie Handschuhe. Da passen auch meine Ringe nicht drunter.“
„Mag ja sein“, sagte Anna. „Aber ...“
„Ist Ihnen außerdem aufgefallen, dass Sommer ist?“
„Hätten Sie was dagegen, wenn wir Ihre Hände einfach vermessen?“, ließ sich Anna nicht beirren.
Er zuckte mit den Schultern. „Kein Problem!“
*
„Handumfang 16,6 Zentimeter – das passt doch in Größe 7 hinein“, meinte Anna – später. Da saßen Anna und Haller in einem Restaurant in der Nähe des Friesenrings. Anna knurrte gewaltig der Magen. Genau wie Haller war sie den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen, sondern hatte sich mehr oder weniger nur von einem Schokoriegel und einigen Tassen des dünnen Kaffees ernährt, den es im Polizeipräsidium gab. Auch eine Art von Diät, dachte sie. Aber auf die Dauer wohl nicht sehr empfehlenswert.
„Herr Friedrichs hat die Hände von Timothy Winkelströter gescannt, aber er sagt, dass man daraus überhaupt keine Aussage schließen könne! Der Täter hat Handschuhe getragen und wahrscheinlich sind nicht mal die erkennbaren Teile der Lederstruktur beweiskräftig genug, um am Ende die Handschuhe eindeutig zu identifizieren – vorausgesetzt, sie fallen in unsere Hände.“
„Er könnte es gewesen sein“, stellte Anna klar. „Wir können ihn nicht einfach ausschließen, was möglich wäre, wenn er jetzt riesengroße Ork-Pranken hätte.“
Haller kaute auf seinem Bissen herum und verzog das Gesicht. „Entweder, Sie waren zu oft im 'Herr der Ringe' oder Sie sind zu häufig mit diesem Spinner befasst – Frank Schmitt alias Branagorn.“
„Vielleicht trifft ja beides zu“, meinte Anna.
„Dann sollten Sie auf die notwendige professionelle Distanz achten.“
„Dazu gibt es für unsereins sogenannte Supervisionen. Da kann man dann mit einer ausgebildeten Fachkraft über die eigene persönliche Verstrickung in einen Fall oder das Bearbeitungsthema eines Patienten sprechen, um zu vermeiden, dass man blinde Flecken hat, wenn man seinen Job zu machen versucht.“
„Und?“
„Was und?“
„Gehen die blinden Flecken davon weg?“
„Nein, das nicht ...“
„Warum spart man sich diesen Mist dann nicht? Das ernährt doch nur eine aufgeblähte Therapeutenkaste.“
„Die blinden Flecken gehen nicht weg, aber man sieht sie besser und ist sich ihrer bewusst. Man weiß dann, wie sehr sie das eigene Urteilsvermögen trüben.“
„Na ja, jedenfalls gab es bei weitem keinen Grund, Timothy Winkelströter festzuhalten, Anna.“
Nur beiläufig registrierte Anna, dass Haller sie beim Vornamen genannt hatte. Es fiel ihr erst ein paar Augenblicke später auf, nachdem sie zuvor für einige Momente nur das unbestimmte Gefühl gespürt hatte, dass sich irgendetwas verändert hatte.
„Mag sein.“
„Und seine Motivlage spricht auch gegen ihn als Täter. Schließlich hat er mit Jennifer Heinze Schluss gemacht und nicht umgekehrt.“
„Vorausgesetzt, er sagt die Wahrheit.“
„Eins zu null für Sie, Anna, äh, Frau ...“ Er sah sie an. „Es wäre praktisch, wenn wir uns langsam duzen könnten.“
„Praktisch?“, echote Anna.
„Tun wir alle in der Abteilung.“
„Alle, außer Herrn Friedrichs.“
„Das ist ein eigenes Kapitel. Den duzt niemand, er selbst umgekehrt auch niemanden. Ich glaube, es ist für alle Beteiligten auch das Beste, wenn das so bleibt. Aber bei Ihnen ... Sie sind im Moment so oft bei uns, dass Sie quasi dazugehören.“
„Wenn Sie das so sehen ...“
„Also in Ordnung? Ich heiße Sven, wie Sie inzwischen ja mitgekriegt haben.“
„In Ordnung.“
Hallers Telefon klingelte. Er nahm es aus der Innentasche seines Jacketts. „Ja, bitte? Hier Haller.“ Er sagte eine ganze Weile gar nichts und schließlich brachte er dreimal hintereinander ein langgezogenes „Hmmm ...“ heraus, bevor er das Gespräch schließlich mit einem „Na, das ist ja wenigstens etwas!“, beendete.
„Gibt's was Neues, was mit unserem Fall zu tun hat?“
„Ja. Das war mein Kollege Raaben. Er hat den Wagen von Jennifer Heinze gefunden.“
„Und?“
„Ihr Handy war noch dort. Ich hatte mich schon gewundert, eine junge Frau unter neunzig im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert ohne Handy. Friedrichs glaubte schon, dass es eventuell vom Täter mitgenommen wurde, weil vielleicht Daten – Telefonnummern oder SMS – darauf waren, die den Täter betrafen. Aber das war wohl ein Irrtum.“
Anna runzelte die Stirn. „Jennifer hat sich mit diesem Timothy auf einem Parkplatz getroffen und ihr Handy im Wagen gelassen? Das ist aber auch sehr eigenartig!“
„Nein, nicht unbedingt“, widersprach Haller. „Das Handy steckte noch in der Freisprechanlage. Es war sogar noch eingeschaltet und Raaben hat festgestellt, dass sie tatsächlich vorher mit Timothy Winkelströter telefoniert hat. Das spricht dafür, dass dessen Aussage der Wahrheit entspricht. Ich nehme an, dass sie das Handy einfach in der Freisprechanlage vergessen hat. Das ist mir auch schon passiert, weshalb ich in der Regel auch die Freisprechanlage nicht benutze.“
„Obwohl es Vorschrift ist?“
„Welcher Schaden ist größer? Wenn mich ein wichtiger Anruf nicht erreicht, oder wenn ich nur mit einer Hand lenken kann, was ich sowieso überwiegend tue!“
„Eigenartige Einstellung, Herr ... Sven!“
„Wieso?“
„Sind Gesetze nicht für alle da? Auch für die Polizei?“
„Jetzt wollen wir mal nicht päpstlicher als der Papst oder meinetwegen pedantischer als Herr Friedrichs sein“, wehrte Haller ab. „Jedenfalls sagt mein Kollege, dass das Menü des Handy voller Nummern von Bekannten ist. Das hilft uns auf jeden Fall weiter.“ Haller blickte in sein Glas mit Mineralwasser und Anna hatte auf einmal den Eindruck, dass er ziemlich niedergeschlagen war.
„Ich habe in den nächsten Tagen einige Termine, aber ich werde versuchen, dir zur Verfügung zu stehen, wenn du meine Hilfe brauchst“, sagte Anna.
„Wir haben nichts“, stellte Haller fest. „Keine einzigen brauchbaren Zeugen, keine Spuren, die etwas taugen, kein Motiv, das sich aufdrängt und weswegen wohl der Schluss naheliegt, dass wir es tatsächlich mit einem Verrückten zu tun haben. Die Opfer haben, außer dass sie jung und weiblich waren, wenig gemeinsam. Es scheinen einfach noch wesentliche Informationen in diesem Puzzle zu fehlen – und wenn der Mörder sich diesmal wieder so lange Zeit lässt, bis die ganze Fahndungsmaschinerie, die ihn jagt, wieder eingeschlafen ist, dann hat er auch dieses Mal leider sehr gute Chancen, vollkommen unerkannt davonzukommen. Es ergibt sich nicht einmal ein vages Bild!“
„Das trifft leider zu. Aber ich bin trotzdem zuversichtlich.“
„Schön. Wenigstens eine.“
Haller bezahlte und ließ sich eine Quittung für die Spesenabrechnung ausstellen.