Читать книгу Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung - Alfred Bekker - Страница 18
Ein Elbenkrieger in der Achtermannstraße
ОглавлениеAnna van der Pütten hatte ihre Praxis im zweiten Stock eines insgesamt dreistöckigen Hauses in der Achtermannstraße, nahe dem Münsteraner Hauptbahnhof, in direkter Nachbarschaft zu Amnesty International und einer Kulturinitiative, untergebracht. Ihre Privatwohnung lag ein Stückwerk höher und war deutlich kleiner. Aber momentan reichte sie, denn angesichts der vielen Arbeit, die sie zu bewältigen hatte, war nicht im Traum daran zu denken, dass sich an ihrem Single-Status etwas änderte. Aber vielleicht war die Arbeit auch nur ein Vorwand, und der eigentliche Grund lag darin, dass sie das Chaos fürchtete, das eine Beziehung in ihr Leben hätte bringen können. Aber diesen Gedanken hatte sie nie wirklich bis in alle seine verästelte Konsequenzen hinein verfolgt.
Branagorn kam überpünktlich zu seinem Termin.
Anna bat ihn in ihr Besprechungszimmer. „Setzen Sie sich doch!“
„Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Cherenwen“, erwiderte er. Diesmal trug er ein anderes Schwert an der Seite. Zwar benutzte er dieselbe Lederscheide und die Klingen hatten offenbar ähnliche Ausmaße, aber der Griff war sehr viel höher und darüber hinaus oben mit einem elfenbeinfarbenen Totenkopf ausgestattet. Vermutlich ist es kein Elfenbein, sondern nur irgendein Kunststoff, dachte Anna.
Die Tatsache, dass Branagorn offenbar über mehrere Klingen verfügte und es für unbedingt erforderlich hielt, eine davon auch zu tragen, erweckte ein deutliches Unbehagen bei ihr. Das wird ein Punkt sein, den wir gewiss noch zusammen aufarbeiten müssen!, nahm sie sich vor. Waffen und das Gefühl von Sicherheit und Macht, das sie vermitteln konnten – offenbar schien das für Branagorn eine ganz besondere Bedeutung zu haben.
„Ist Euch der Traumhenker heute Nacht begegnet, werte Cherenwen?“, fragte er.
„Nein – aber, was genau meinen Sie damit?“
„Wen es nicht der Fall war, dann wird es zweifellos noch geschehen. Sie werden ihn im Traum vor sich sehen. Eine Gestalt in dunkler Kutte mit einer monströsen Henkersaxt in der Hand, auf deren Griff er sich zu stützen pflegt. Zumindest ist das die häufigste Gestalt, die er verwendet und in der er sich in Eure Träume zu stehlen beginnt. Es wird geschehen, glaubt es mir, Cherenwen. Und dann müsst Ihr stark ein, um nicht zu seinem willfährigen Werkzeug des Bösen zu werden!“
„Sie sind heute hier, damit wir über Sie sprechen, Branagorn – nicht über mich“, stellte Anna klar.
„So darf ich Euren Worten entnehmen, dass es Euch gut geht und Ihr noch nicht vom Traumhenker bedrängt werdet?“
„Wenn Sie so wollen ...“
„Das beruhigt mich, werte Cherenwen, auch wenn ich weiß, dass dies nur bedeuten kann, dass die Gefahr Euch noch bevorsteht. Aber ich verspreche Euch, dann zugegen zu sein und Euch im Kampf gegen den Traumhenker zur Seite zu stehen.“
Anna war etwas verunsichert, was weniger an Branagorns Worten, als vielmehr an seinem Blick lag. Der Blick, mit dem er sie bedachte, war von einer ganz eigenartigen Intensität. Dem Wahnsinn nahe, so hätte vielleicht früher ihr Urteil gelautet. Aber inzwischen hatte sie durch Studium und Ausbildung gelernt, das erste Urteil etwas zurückzuhalten und sich etwas länger den offenen Blick für das Ungewöhnliche zu bewahren, ohne gleich deswegen ein Urteil abgeben zu müssen. Zuerst kam das Verstehen, dann erst die Beurteilung. An diese eherne Regel versuchte sie sich nach Möglichkeit zu halten. Mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg.
„Fangen wir vielleicht mit Folgendem an. Warum nennen Sie mich andauernd Cherenwen?“
„Habe ich Euch das nicht erklärt?“
„Sie haben mir erklärt, dass sie mich deshalb so nennen, weil sie in mir eine verwandte Seele zu erkennen glauben.“
„Nun, das ist die Begründung!“
„Aber das Wort haben sie mir nicht erklärt. Seine Bedeutung. Sie verwenden es fast wie einen Eigennamen. Davon abgesehen empfinde ich es als etwas eigenartig, dass Sie von mir erwarten, ich solle Sie Branagorn von Elbara nennen, während in Ihrem Pass und in den Unterlagen, die ich über Sie habe, Frank Schmitt steht. Umgekehrt finden Sie aber nichts dabei, mir eigenmächtig gewissermaßen auch einen anderen Namen zu geben, obwohl ich ehrlich gesagt viel lieber mit meinen wirklichen Namen angesprochen werde.“
„Das ist der springende Punkt“, sagte Branagorn. „Cherenwen ist Euer wirklicher Name!“
*
Anna hatte spätestens jetzt das dumpfe Gefühl, diese Sitzung könnte ihr völlig aus den Händen gleiten.
Ein Fall von Übertragung, dachte sie. Eindeutig wie im Lehrbuch. Aber das war alles eingebettet in dieses Geflecht aus Wahnvorstellungen und einer Fantasiewelt, in die sich Frank Schmitt vollkommen zurückgezogen zu haben schien. Ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, wo ich ihn einfach mal mit den Fakten konfrontieren sollte – so wie sie in meinen Unterlagen stehen, wie sie dokumentiert sind und wie ich sie inzwischen selbst nachgeforscht habe?
„Ich muss Euch einiges erklären“, sagte Branagorn. „Euren holden Zügen ist die Verwirrung unschwer anzusehen. Und im Übrigen haben wir Elben die Fähigkeit, uns mit verwandten Seelen zu verbinden, sodass wir empfinden können, was sie empfinden, gleichgültig, wie weit man auch voneinander entfernt sein mag. Selbst wenn es der Abgrund zwischen den Welten ist, der einen von dieser Seele trennt.“
„Also ich schlage vor, Sie erklären mir einfach, was Sie erklären möchten. Wir nennen das auch eine freie Assoziation und auf diese Weise erhalten wir in der Regel Material, mit dem wir arbeiten können.“
„Eine seltsame Zeit, in der man Gedanken, die doch aus dem Element des Geistes und nicht der Materie kommen, als Material bezeichnet ... Aber nicht untypisch, auch wenn es mich zugegebenermaßen ein wenig amüsiert.“
„Bleiben wir bei Cherenwen. Erklären Sie mir dieses Wort und was es für Sie bedeutet.“
„Es bedeutet alles für mich. Sehen Sie, ich habe Euch gegenüber ja mein Schicksal ausführlich geschildert. Einst lebte ich in einer anderen Welt, wo ich meinem König als Herzog von Elbara diente. Wir Elben sind sehr langlebig – fast unsterblich, gemessen an den Zeitbegriffen des Menschenvolkes. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass eine Seuche grassierte, die man den Lebensüberdruss nannte und der auch meine Geliebte erlag. Ihr Name war Cherenwen ...“
„Sie nahm sich das Leben?“
„Ja. Und nachdem mein König mich aus seinen Diensten entließ, wollte ich ihrer Seele ins Land der Geister folgen, wo die Eldran existieren – die Seelen der verklärten Toten.“
Ich werde mich auf seine Gedankenwelt einlassen müssen, wenn ich überhaupt etwas erreichen will, ging es Anna durch den Kopf. Bisher war er immer der Frage ausgewichen, weshalb er auf dem Signal-Iduna-Hochhaus gestanden hatte, um sich in die Tiefe zu stürzen. Im Grunde hatte er sich noch immer kaum geöffnet, aber vielleicht war es so, dass er sich der Realität nur in jener Verkleidung stellen konnte, die seiner Fantasiewelt entstammte. Und Anna entschied, dass sie diesen Weg vielleicht einfach fürs Erste akzeptieren musste. Reden wir also in Metaphern aus der Elbenwelt und nähern uns so der Wahrheit, dachte Anna. Auch das konnte einen therapeutischen Effekt haben – ähnlich wie Träume, die die Realität ja auch in verfremdeter Form widerspiegelten.
„Interessiert Euch meine Erzählung überhaupt – oder haltet Ihr sie vielmehr für eine Ausgeburt einer im besten Fall ausufernden und im schlimmsten Fall krankhaften Fantasie?“, unterbrach Branagorn den Gedankengang der Psychologin.
„Fahren Sie einfach fort“, forderte Anna ihn auf. „Es interessiert mich sehr, was Sie zu sagen haben. Glauben Sie mir!“
„Wie gesagt, ich folgte nach vielen Zeitaltern meiner geliebten Cherenwen ins Land der Geister.“
„Haben Sie Ihre ... Cherenwen ... gefunden?“
„Ja, das habe ich. Und zuerst war ich glücklich dort. Doch mit der Zeit wurde mir quälend bewusst, dass jene Cherenwen, die mir dort begegnete, nicht mehr als ein Gespenst der Vergangenheit war. Eine geisterhafte Erscheinung, nicht viel realer als ein Trugbild. Mir wurde klar, dass sich meine Hoffnungen, dieser geliebten Seele nahe zu sein, sich so nicht erfüllen konnten. Ich weiß, dass für meine Zeitgenossen in dieser Welt eigenartig klingen muss, was ich Euch nun erzähle. Und ich weiß auch, dass unter Euresgleichen die Zweifel an der Wirksamkeit der Magie weit verbreitet und das Wissen um sie fast vollständig verschüttet sind.“
„Ich höre Ihnen einfach zu, Branagorn. Und ich verspreche Ihnen, dass ich versuchen werde, Sie zu verstehen, so gut mir das trotz unserer zugegebenermaßen in manchen Punkten etwas unterschiedlichen Sichtweise möglich ist.“
Ein mattes Lächeln glitt über Branagorns Gesicht. Er nickte leicht und strich sich das Haar etwas zurück. Für einen Moment blitzte dabei sein deformiertes Ohr hindurch. Er hatte angegeben, dass es ein spitzes Elbenohr und typisch für sein Volk sei. Anna nahm eher an, dass es das Ergebnis eines chirurgischen Eingriffs oder einer tätlichen Auseinandersetzung war. Vielleicht sogar ein Akt der Selbstverstümmlung. In ihren Unterlagen konnte sie dazu jedoch nichts finden und es war ihr bisher auch nicht gelungen, in diesem Punkt Klarheit zu erlangen.
„Ich versuchte mit Hilfe von Magie in die Sphäre der Eldran zu gelangen, sodass ich mit meiner geliebten Cherenwen in ein und derselben Existenzebene hätte sein können“, fuhr Branagorn fort. „Aber dies misslang und ich geriet stattdessen in eine furchtbare Welt voller Drachen, die ich hernach gesehen nur als eine Hölle betrachten kann. Von dort gelangte ich dann – ebenfalls durch Magie – auf diese Welt. Das ist viele Zeitalter her. Ich lebte als Unsterblicher unter den kurzlebigen Bewohnern dieser Erde, trug viele Namen und wurde Zeuge Eurer Geschichte. Als Branagorn von Corvey, auch bekannt als Fra Branaguorno d'Elbara, war ich der Berater von Kaiser Otto III. Und später war ich der Gesandte des Königs von Aragon in Konstantinopel, kurz bevor es an die Türken fiel. Als Branagorn Alvarsson lebte ich eine Weile auf Island in der letztlich vergeblichen Hoffnung, dort ein Tor in meine Herkunftswelt zu finden. Ich nannte mich Branagh Orn, verdingte mich als ein walisischer Bogenschütze unter dem Namen Bran ab-Gorn oder trat unter dem Namen Branagornus als Heiler auf. In letzterer Funktion kann ich durchaus sagen, dass ich es zu einiger Berühmtheit habe bringen können, denn die Heilkunst der Elben ist der Euren hier üblichen noch heute weit überlegen.“ Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. „Wenn ich zu Euch in dieses Haus komme, muss ich oft daran denken, denn die Straße, an der dieses Gebäude liegt, wurde von einer anderen Straße gekreuzt, die sich Herwarthstraße nennt und nach einem gewissen Herwarth von Bittenfeld benannt wurde, geboren am 4. September 1794. Ich weiß dieses Datum so genau, weil es bei der Anwendung des Heilzaubers von immenser Bedeutung war, unter welchen kosmischen Zeichen seine Geburt stattgefunden hatte und es zunächst Unsicherheiten darüber gab, ob er nun wirklich am 4. September oder vielleicht einen Tag früher geboren worden war. Jedenfalls bat mich Feldmarschall von Bittenfeld darum, angesichts einer sehr ernsten Erkrankung einen elbischen Heilzauber durchzuführen. Um ehrlich zu sein, war das wohl so etwas wie ein verzweifelter Griff nach dem letzten Strohhalm, wenn Ihr versteht, was ich meine! Aber Herwarth von Bittenfeld starb erst 1884 und wurde damit für seine Zeit und die Verhältnisse Eures Volkes sehr alt. Also war ich erfolgreich! Bei den Verhandlungen, die ich allerdings seinerzeit zwischen den Wiedertäufern und dem Bischof von Münster zu vermitteln versuchte, als dieser mit seinen Truppen die Stadt belagerte, habe ich allerdings kläglich versagt, wie die Schädelkäfige an der Lamberti-Kirche mir jedes Mal vor Augen führen, wenn ich dort vorbeikomme. Um ehrlich zu sein, meide ich die Gegend deswegen auch immer noch.“
Wie traurig musste es um das Selbstwertgefühl eines Menschen bestellt sein, der sich großartige Taten in dieser und in anderen Welten als Elbenkrieger, Heiler, Diplomat und Vertrauter von großen historischen Persönlichkeiten ausdenken musste, um seiner Psyche Stabilität zu geben!, ging es Anna durch den Kopf. Nichts anderes als die Kompensation einer zweifellos bedrückenden Realität war das.
„Eigentlich wollten Sie mir von Cherenwen erzählen“, sagte Anna.
„Verzeiht mir, wenn ich abschweife. Aber ich vergesse immer wieder, dass mir ganze Zeitalter zur Verfügung stehen, während meine kurzlebige Umgebung zur Eile verdammt ist. Ja, ich wollte über meine geliebte Cherenwen sprechen. Denn von dem Augenblick an, da mich meine eigene Magie aus meiner Welt herauskatapultierte, tat ich nichts anderes, als meine Suche nach ihr fortzusetzen. Denn manchmal geschieht es, dass Seelen, die in einer Welt des Polyversums nichts weiter als ein Gespenst sind, in einer anderen real erscheinen. Denn die Grenzen zwischen den Welten sind durchlässig, und nicht immer braucht es magischer Tore oder großartige Zauberkunst, um den Abgrund zwischen ihnen zu überbrücken. So kommt es vor, dass jemand träumt, er sei in einer anderen Welt, aber in Wahrheit dieser Traum wirklicher ist und größere Auswirkungen auf andere hat als das, was er für das wirkliche Leben hält. Manchmal reicht ein intensiver Gedanke, um von einer in die andere Welt zu wechseln und in jedem Augenblick unserer Existenz spalten sich neue Welten und Existenzebenen vom Hauptstrom der Zeit ab und bilden eigene Kosmen. Was ich damit nur sagen will ist: Auch wenn es Euch unerklärlich erscheint und selbst ich, der ich mich einst in solchen Fragen für bewandert hielt, die Ursachen nicht völlig verstehe, so bin ich doch überzeugt davon, in Euch jene Seele wiedergefunden zu haben, die mir einst durch jene heimtückische Krankheit namens Lebensüberdruss genommen wurde.“
„Branagorn, ich würde sagen ...“
„Ihr seid Cherenwen! Ihr tragt ihre Seele in Euch.“
Anna schluckte. Die Intensität, mit der er gesprochen hatte, berührte sie, erweckte aber auch ein deutliches Unbehagen. War das vielleicht schon zu viel an Übertragung, dass er ihr entgegenbrachte? Vielleicht war das der Punkt, an dem man eine weitere Behandlung am besten durch jemanden fortsetzen ließ, dem Frank Schmitt mit mehr Neutralität gegenüberstand. Andererseits ergab sich durch diese besondere Form der Bindung, die er zu empfinden schien, vielleicht auch die Möglichkeit, ihn an jenen Punkt zu führen, an dem er sich der Realität stellen musste. Der Realität eines den Unterlagen zu Folge hochbegabten Menschen, der über ein paar sehr seltene und höchst erstaunliche Talente verfügte und doch nicht in der Lage war, sein eigenes Leben wirklich in den Griff zu bekommen.
„Müsste ich mich nicht an das Leben von Cherenwen erinnern, wenn ich wirklich ihre Seele in mir tragen würde?“, fragte Anna.
„Oh, Ihr tragt diese Erinnerungen zweifellos in Euch“, erklärte Branagorn. „Und es wäre nichts Ungewöhnliches, wenn Ihr Euch diesem Wissen verweigern würdet, denn manchmal ist die Wahrheit so beängstigend, dass man sich ihr nicht zu stellen vermag.“
Wie wahr!, dachte Anna.
„Ich habe lange gezögert, Euch damit zu konfrontieren, Cherenwen“, fuhr Branagorn fort. „Ich kann fühlen, wie sehr ich Euch damit ängstige, und ganz gewiss läge mir nichts ferner, als die Verkörperung jener Seele zu ängstigen, die ich so sehr geliebt habe. Aber es hat sich eine neue Situation ergeben und dadurch ist alles verändert worden. Und vor allem ist mir klar geworden, dass ich die Schuld an der Bedrohung trage, die auch Euch gefährlich werden könnte.“
„Es tut mir leid, aber im Moment sprechen Sie in Rätseln, Branagorn.“
Er sah Anna auf eine Weise an, die bei ihr einen eigenartigen Cocktail an Emotionen hervorrief. Da war Verwirrung, die sich mit einem tiefen Mitempfinden für jene tiefe Melancholie verband, die dieser Mann empfinden musste. Aber da war auch noch etwas anderes. Etwas viel Stärkeres. Etwas, das im Untergrund brodelte und noch keineswegs seine volle Macht entfaltet hatte und von dem Anna trotz ihres in seelischen Dingen berufsbedingt recht weit aufgefächerten Vokabulars nicht wirklich wusste, wie sie es bezeichnen sollte. Auf jeden Fall spürte sie bei ihrem Gegenüber eine Art unbedingter Entschlossenheit. Einen Willen, der keinen Widerspruch zu akzeptieren schien und nicht einmal die ihn umgebende Wirklichkeit selbst als Maßstab anerkannte. Ich hoffe nur, dass ich es früh genug erkenne, wenn er Dummheiten begehen will!, überlegte sie und für eine Moment stand ihr wieder die Szene vor Augen, als man sie gerufen hatte, um einen lebensmüden Mann in der Verkleidung eines Elbenkriegers daran zu hindern, sich vom Dach des Signal-Iduna-Hochhauses zu stürzen. Ich werde es ihm nicht ersparen können, dass wir über diesen Punkt noch einmal reden!, erkannte sie. Lebensüberdruss ... was für ein passendes Wort für das, was man sonst unter so klinisch-steril klingenden Begriffen wie 'klinische Depression' oder 'Suizidneigung' zusammenfasste.
Branagorn sprach nicht weiter.
Er saß da und schien ins Nichts zu blicken.
Lichtjahreweit schienen eine Gedanken sich vom Hier und Jetzt entfernt zu haben.
Anna entschied sich dafür, diese Stille einfach eine Weile auszuhalten. Das konnte manchmal sehr wichtig für den Patienten sein. Vielleicht werde ich gerade Zeuge, wie sich die Selbstheilungskräfte einer kranken Seele wieder zu regen beginnen!, dachte Anna. Es war zumindest zu hoffen.
„Ich will mich der Wahrheit stellen und darum hat es keinen Sinn, etwas verschweigen zu wollen“, sagte Branagorn schließlich.
Anna war überrascht. Welche Wahrheit meinte Branagorn? Doch nicht etwa die eines vom Amt zugewiesenen Ein-Zimmer-Apartments in Münster-Kinderhaus, in der ein zweiwöchiger Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung der Westfälischen Kliniken in Lengerich zu den Highlights des Jahres gehörten so wie für andere Leute ein Urlaub auf Mallorca?
Als Branagorn dann nach einer quälend langen Pause wieder das Wort ergriff, wurde Anna klar, dass ihr Gegenüber mit dem Ausdruck 'sich der Wahrheit stellen' offenbar etwas völlig anderes meinte, als sie selbst diesbezüglich im Sinn hatte.
„In Wahrheit bin daran schuld, dass der Traumhenker in diese Welt kam. Dieses Wesen, das die Morde beging. Das ist die Wahrheit, der ich mich stellen muss, Cherenwen.“
„Schuld ist ein interessantes Stichwort“, sagte Anna hölzern und kam sich dabei selbst wie die Parodie ihres Berufsstandes vor, der doch mit Vorliebe von Schuldgefühlen und Verdrängung und solchen Dingen sprach. „Wieso glauben Sie, dass Sie dafür verantwortlich sind?“
„Weil der Traumhenker aus jener Höllenwelt der Drachen, von er ich Euch soeben berichtete, mit mir in diese Welt gewechselt sein muss! Eine andere Erklärung erscheint mir undenkbar. Wenn ich es also auf mich genommen hätte, dort, in jener Drachenhölle, zu bleiben, anstatt auf gut Glück und in Wahrheit ohne große Erfolgsaussichten abermals den Abgrund zwischen den Welten zu überspringen, dann wäre der Traumhenker niemals hierhergelangt! Aber seit jener Zeit wandelt er über die Erde und vollbringt sein furchtbares Werk. Er fährt in den einen oder anderen und macht sie zu Werkzeugen des Bösen, weil er sich am Leiden und am Hass erfreut ... Und jetzt ist er hier ... So nahe wie selten!“ Branagorn erhob sich. „Ihr seid in Gefahr, Cherenwen. Achtet auf Eure Träume. Es sind die Träume, durch die er Einfluss auf Eure Gedanken gewinnt. Und auch wenn Ihr mich nicht als der zu erkennen vermögt, der ich in einem anderen Leben und in einer anderen Welt für Euch gewesen bin, so seid Euch gewiss, dass ich versuchen werde, Euch zu schützen.“
„Branagorn, Sie sprachen vor ein paar Minuten davon, dass man sich der Wahrheit stellen müsse und ihr nicht ausweichen dürfe.“
„Ja, da sprecht Ihr wohl, werte Cherenwen!“
„Und die erste Wahrheit, der Sie sich stellen sollten, ist, dass ich nicht Cherenwen bin - sondern Anna van der Pütten, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin.“
„Wie ich schon sagte, es ist ...“
„Es mag noch angehen, dass ich Sie Branagorn anstatt Frank Schmitt nenne, aber ich möchte Sie bitten, mich nicht mehr Cherenwen zu nennen – es sei denn, ich erlaube es Ihnen ausdrücklich im Rahmen einer entsprechenden Gesprächsübung, bei der es vielleicht um die Übertragung von Gefühlen geht. Aber normalerweise bin ich für Sie Frau van der Pütten.“
Branagorn nickte. „Ich bin gerne bereit, mich Euren Wünschen zu beugen, werte Frau van der Pütten“, erklärte er dann. „Aber Ihr müsst mir auch etwas versprechen! Lasst es zu, dass ich bei der Entlarvung dieses Mördergeistes helfe!“
„Branagorn, wie stellen Sie sich das vor!“
„Ihr kennt meine Fähigkeiten! Ihr wisst, dass ich ganz nach Art der Elben Dinge zu sehen vermag, die sonst niemand sieht! Meine Sinne sind stärker als die jedes Menschen, und ich kann es kaum ertragen, wenn ich die sogenannten Hüter der Ordnung bei ihrer Arbeit sehe, die sie so langsam und mit so wenig Erkenntnisgewinn verrichten! Das Offensichtliche sehen sie nicht! Sei dies nun das Böse in Gestalt eines Pest-Arztes oder die Spur einer Hand oder ein Haar. Wurden diese Spuren inzwischen untersucht? Ich wette, diese Narren haben sich kaum darum gekümmert und inzwischen noch nicht einmal herausgefunden, dass die Tote anderthalb Schritt weit über den Boden gezogen wurde, bevor man sie aufsetzte und gegen den Anhänger lehnte ...“
Woher weiß er das?, ging es Anna durch den Kopf. Sie hatte in den Unterlagen, die sie über ihn hatte, von der Diagnose eines Savant-Syndroms gelesen, auch Inselbegabung genannt. Branagorn war offenbar bereits mehrfach psychiatrisch und in jeder anderen Hinsicht untersucht worden – mit zum Teil sehr erstaunlichen Ergebnissen. Aber sie selbst hatte noch keine Gelegenheit dazu gehabt, dies im Einzelnen zu überprüfen. Davon abgesehen hatte es natürlich auch während ihrer Sitzungen immer wieder Momente gegeben, in denen seine außergewöhnlichen Fähigkeiten aufblitzten. Es gab Savants, die Dutzende von Sprachen innerhalb kürzester Zeit erlernten, die in der Lage waren mit jedem Auge unabhängig eine Buchseite zu erfassen und anschließend jedes Wort zu wiederholen oder virtuos Klavier zu spielen vermochten, ohne jemals Unterricht gehabt zu haben. Niemand kannte die Ursache dafür, aber sehr viele der Betroffenen waren trotz ihrer überragenden Fähigkeiten im täglichen Leben auf Hilfe angewiesen.
In den Unterlagen, die Anna über Frank Schmitt vorliegen hatte, war unter anderem auch von einer Kopfverletzung die Rede, deren Ursache vermutlich eine Gewalteinwirkung gewesen und die aus unerfindlichen Gründen unbehandelt geblieben war. Zumindest gab es nirgends einen Beleg für einen Klinikaufenthalt oder dergleichen.
Auch das passte ins Bild, denn manche Forscher brachten das Savant-Syndrom mit Verletzungen bestimmter Hirnregionen in Verbindung.
Letztlich war es nicht auszuschließen, dass Frank Schmitts Behauptung, Branagorn der Elbenkrieger zu sein, nicht nur psychische Ursachen hatte, sondern vielleicht eine organisch basierte Wahnvorstellung. Diese Möglichkeit durfte man zumindest nicht vorzeitig ausschließen.
Aber ganz gleich, welche Art der Wahn dieses Mannes auch sein mochte – er hatte offensichtlich häufig recht.
Und das wiederum war auch eine Realität, der man sich stellen musste, wie Anna van der Pütten fand.
„Wie stellen Sie sich das vor, Branagorn?“, fragte Anna. „Die Hüter der Ordnung, wie Sie Kommissar Haller und seine Leute nennen, werden Ihre Hilfe nicht annehmen wollen.“
„Dann überzeugt diese Narren! Ich beschwöre Euch, Cherenwen – Verzeihung: Frau van der Pütten! Die Hüter der Ordnung werden es ohne mich nicht schaffen, den Traumhenker zu finden! Sie brauchen mich!“
„Sollten wir sie nicht einfach ihren Job machen lassen?“, schlug Anna vor.
„Fünf Opfer hat es gegeben. Fünf Opfer in siebeneinhalb Jahren. Und Ihr sprecht davon, dass nichts weiter zu geschehen habe und man den unfähigen Helfern der Gerichtsbarkeit weiter bei ihrem Narrenspiel zusehen soll? Ich kenne den Traumhenker zur Genüge. Ich war ihm im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auf den Fersen und verlor wieder seine Spur. Er ist ein Spieler des Bösen, versteht Ihr? Und er wird dieses Spiel so lange fortsetzen, wie man es ihm gestattet!“
Eine dicke Ader an Branagorns Hals pulsierte. Er drehte ruckartig den Kopf und machte ein paar Schritte zum Fenster. Dieser Ausbruch an Emotionen war neu bei ihm. In den bisherigen Sitzungen hatte Anna so etwas nicht bei ihm erlebt. Nicht einmal ansatzweise.
Ganz im Gegenteil. Er hatte immer einen sehr beherrschten Eindruck gemacht. Aber Anna war sich stets sicher gewesen, dass es noch etwas anderes, Abgründigeres in ihm sein musste. Schließlich hatte er auf einem Hochhaus gestanden, um sich in die Tiefe zu stürzen. So etwas geschah schließlich nicht aus heiterem Himmel. Da musste sich schon einiges aufgestaut haben.
Branagorn ballte die Hände zu Fäusten.
„Diese erbärmlichen Hüter der Ordnung hätten doch nur zu tun brauchen, was ich ihnen sagte und den Schwarzen Tod in Gewahrsam nehmen.“
„Sie meinen den Kerl in der Pest-Arzt-Verkleidung?“ vergewisserte sich Anna.
Eine Antwort darauf blieb Branagorn ihr schuldig. Zu sehr war er offenbar in seinem Ärger gefangen. „Hören Sie zu, Branagorn, ich kann Sven – also Herrn Haller – unmöglich vorschlagen, dass er Sie in den Fall einbinden soll. Das wird er nicht tun. Und ich werde mich auch nicht dafür einsetzen.“
„Warum nicht?“
„Weil es jeglichen Regeln meines und seines Berufes widersprechen würde!“
„Regeln! Sinnlose Regeln sind das, die nur dem Traumhenker nützen und seine Mörderseele schützen!“, ereiferte sich Branagorn.
„Das mögen Sie so sehen. Aber ich habe keine andere Wahl. Und Sie sollten das nicht als einen Angriff meinerseits auf Sie sehen oder als ein Zeichen von Geringschätzung oder Missachtung, sondern ...“
Sie machte eine Pause, stockte.
Branagorn drehte sich zu ihr um. Seine Augen hatten sich verengt. Er sah sie mit einem sehr durchdringenden Blick an. In seinen Zügen spiegelte sich eine Qual wider, wie Anna sie selten zuvor je in irgendeinem Gesicht gesehen hatte.
„... ein Zeichen von Narrentum?“, fragte Branagorn in einem Tonfall, der an klirrendes Eis erinnerte. Er murmelte ein paar Worte in einer Sprache, die fremdartiger war als alles, was Anna je gehört hatte. Vielleicht waren es aber auch nur willkürlich aneinandergereihte Silben. In diesem Punkt war sie sich nicht sicher. Dr. Arndt Vogels, ein Psychiater, der Frank Schmitt vor wenigen Jahren einer Begutachtung zugeführt hatte, verzeichnete nicht weniger als 23 Sprachen, die dieser Mann erwiesenermaßen beherrschen sollte. Darunter sehr exotische Idiome wie mittelalterliches Persisch und Althochdeutsch.
„Setzen Sie sich doch wieder, Branagorn“, forderte Anna ihn auf. „Und dann beruhigen Sie sich etwas. Ich kann verstehen, dass Sie durch die Ereignisse auf der Planwiese in Telgte sehr aufgewühlt wurden. Das ging mir genauso.“
„Es hat keinen Sinn, dass wir heute unsere Unterhaltung fortsetzen“, erklärte Branagorn. „Es ist bedauerlich, dass Ihr mir nicht beizustehen gedenkt. Ich hatte sehr gehofft, Ihr würdet die Dringlichkeit unserer Aufgabe erkennen. Aber vielleicht habe ich da zu viel von Euch erwartet. Meine Warnung allerdings, was Eure Träume angeht, erhalte ich aufrecht!“
Wortlos ging er mit ausholenden Schritten zur Tür.
„Warten Sie!“
Er blieb stehen, nachdem er die Tür des Besprechungszimmers halb geöffnet hatte und drehte sich herum. „Ihr habt es Euch doch noch überlegt?“
„Nein, in dem Punkt habe ich keine andere Wahl.“
„Mir ergeht es ähnlich. Ich habe auch keine andere Wahl.“
„Was haben Sie denn jetzt vor?“
„Ich werde tun, was die Hüter der Ordnung nicht zu vollbringen vermögen.“
„Branagorn, mischen Sie sich da nicht ein. Sie handeln sich jede Menge Ärger ein!“
„Mir dünkt, dass ich Ärger nicht zu scheuen brauche! Und im Kampf gegen das Böse sollte man nicht angstvoll zurückstehen, werte Cherenwen – und diesmal nenne ich Euch bewusst und gegen Euren erklärten Willen so, auch wenn Ihr dies vordergründig als einen Akt der Unhöflichkeit empfinden mögt! Aber vielleicht erinnert Ihr Euch des verborgenen Wissens über Eure wahre Herkunft, das in den Tiefen Eurer Seele verborgen liegt.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ sie stehen.
Anna stand ziemlich konsterniert da und war für einige Augenblicke völlig unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
„Was für ein Spinner!“, sagte sie dann laut, so als müsste sie sich dessen erst dadurch vergewissern.
Aber ihre eigenen Worte hatten für sie in diesem Augenblick einen sehr fremden Klang.
Dafür ging ihr ein einziges Wort einfach nicht aus den Gedanken.
Ein Name.
Ihr Name, wie Branagorn behauptet hatte.
Cherenwen!