Читать книгу Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung - Alfred Bekker - Страница 22

Mit den Augen eines Elben

Оглавление


Anna van der Pütten fühlte sich wie gerädert, als sie im Polizeipräsidium am Friesenring eintraf. Der Albtraum der vergangenen Nacht ging ihr ebenso wenig aus dem Kopf wie das Gespräch mit Branagorn.

Als sie das Lagezentrum betrat, fielen ihr als Erstes die Stellwände mit den Flipcharts auf. Listen von Namen und Adressen, Fotos von Personen und Tatorten waren dort zu sehen und Pfeildiagramme verbanden einiges davon zu einer komplizierten Mischung aus Notiz und Grafik.

Kevin Raaben heftete noch ein paar weitere Zettel an.

„Tja, wir haben versucht, den ganze Fragenkomplex zu dem Fall mal ein bisschen zu systematisieren“, meinte er, als er Anna bemerkte.

„Ich sehe es“, murmelte Anna, die kaum in der Lage war zu verbergen, wie sehr sie das Chaos schockierte.

Sven Haller kam durch eine Tür herein, die zu einem Nebenraum führte. Er trug ein anderes Jackett, wirkte ausgeruht und schien guter Laune zu sein. „Schön, dass du da bist, Anna!“, sagte er und wandte sich an Raaben. „Sie hat nichts dagegen, wenn du sie duzt, wie wir das alle hier machen. Stimmt doch, oder?“

„Also ...“

„Das ist der Kevin. Und schau mal hier, Anna, wir haben alle Fakten zusammengetragen, die bis jetzt in dieser Mordserie eine Rolle gespielt haben und uns relevant erschienen.“

„Und das ist wahrscheinlich einer der Knackpunkte“, sagte Anna.

Haller runzelte die Stirn. „Was?“

„... und uns relevant erschienen“, zitierte Anna den Kriminalhauptkommissar. Dass der ihr eigenmächtig und selbstherrlich einfach die Duzfreundschaft mit Kevin Raaben aufgezwungen hatte, war von ihr noch gar nicht richtig verdaut worden. Sie fühlte Ärger in sich aufkeimen, aber ihr war auch klar, dass sie wohl fürs Erste keine Gelegenheit bekommen würde, dem Luft zu machen. Schließlich gab es im Moment wirklich Wichtigeres als solche Kleinigkeiten. Was war schon die Suche nach einem Mörder gegen ihre Empfindlichkeiten? Das lag so sehr auf der Hand, dass selbst ihr kein Argument dagegen einfiel. Nur ihrem Magen. Und der meldete sich auch prompt mit einem drückenden Gefühl des Unwohlseins. Anna fühlte sich wie ein Dampfkessel, in dem der Druck langsam stieg. Vergiss es!, dachte sie. Es geht jetzt um die Sache und darum, dass eine böse Seele, wie Branagorn es wohl ausgedrückt hätte, nicht noch mehr Opfer forderte.

„Nicht doof“, lautete Kevin Raabens Kommentar. „Wer sagt uns, dass wir aus der Masse der Fakten wirklich die relevanten herausgesucht haben?“

„Eben“, meinte Anna. „Außerdem sieht das Ganze für mich etwas chaotisch aus. Was sind das zum Beispiel da alles für Namen?“

„Das sind die Bekannten, Telefonkontakte, befragten Zeugen und so weiter“, erklärte Haller. „Hier sind zum Beispiel alle Telefonkontakte, die wir in dem Handy-Menü von Jennifer Heinze gefunden haben. Tja, und es gibt eine Übereinstimmung.“

„Und die wäre?“

„Timothy Winkelströter. Er war mit dem Opfer Nummer eins bekannt – Jana Buddemeier aus Borghorst. Seine Adresse fand sich im Telefonregister des Opfers. Aber er wurde nie vernommen, weil es keinen Zusammenhang mit dem Fall zu geben schien. Opfer Nummer zwei kannte er auch.“

„Gibt es da etwa auch ein Adressverzeichnis?“

„Im Handy der Toten. Er wurde auch damals nicht vernommen, weil er den Aussagen anderer Zeugen zufolge keine Karte mehr für das Schandmaul-Konzert bekommen hatte und man deshalb annahm, dass er nicht am Tatort war.“

„Das entspricht doch genau seiner Aussage, die er auch uns gegenüber gemacht hat“, meinte Anna.

„Das heißt aber nicht, dass sie stimmen muss. Er könnte sich doch noch eine Karte besorgt haben oder vielleicht kannte er einen der Türsteher, die ihn so reingelassen haben“, ergänzte Raaben. „Das überprüfen wir gerade.“

„Was die anderen Opfer angeht, kannte Timothy Winkelströter sie offenbar ebenfalls“, ergänzte Haller. „Wir haben zwar keine Nachweise von Handykontakten, aber dafür das hier!“ Haller deutete auf eines der Fotos. Es war die Vergrößerung eines Computerausdrucks. Zu sehen war eine Gruppe von jungen Leuten, alle in mittelalterlicher bis fantastischer Gewandung. Timothy Winkelströters düstere Phase hatte zu dieser Zeit offenbar noch nicht begonnen, denn anstatt als Finsterling im Ledermantel mit Totenkopfringen stand er als edler Recke da, mit Schwert und Kettenhemd. Das Foto war eindeutig schon ein paar Jahre älter und Timothys Haarpracht damit deutlich kürzer. Lange Pfeile verbanden die Namen und Adressen von Opfern und Zeugen mit den Personen auf dem Bild. „Jana Buddemeier, Franka Schröerlücke, Elvira Mahnecke, Chantal Schmedt zur Heide und Jennifer Heinze – alle fünf Opfer des Barbiers sind auf dem Foto. Dazu Timothy Winkelströter, eine junge Frau, die Sarah heißt, ein junger Mann, der als Vampir herumläuft und den wir bisher nicht identifizieren konnten, zwei weitere Männer, von denen wir nur wissen, dass sie Björni und Olli genannt werden und diese beiden Gestalten dort, deren Gesichter wohl kaum identifizierbar sein dürften.“ Haller deutete auf die finstere Gestalt eines Pest-Arztes mit Schnabelmaske und einen Ritter mit Eisenharnisch und heruntergelassenem Helm-Visier.

„Woher haben Sie das?“, fragte Anna.

„Von der Facebook-Seite einer gewissen Nadine Schmalstieg.“

„Und die ist da nicht drauf?“

„Sie wird das Foto gemacht haben, wie soll sie dann mit drauf sein? Das Bild muss vor siebeneinhalb Jahren aufgenommen worden sein. Facebook gibt es in seiner deutschen Version erst seit 2008. Dieses Bild wurde letztes Jahr hochgeladen, und von Björni und Olli wissen wir nur durch die Kommentare, die drunterstehen.“

„Haben Sie schon mit dieser Nadine Schmalstieg Kontakt aufgenommen?“, fragte Anna.

„Versucht. Wir haben die Kontaktfunktion auf Facebook genutzt. Eine Adresse oder Telefonnummer steht da natürlich nicht. Aber als Wohnort ist Steinfurt-Borghorst angegeben und dort gibt es insgesamt drei Nadine Schmalstiegs. Eine konnten wir telefonisch erreichen. Sie gab an, keinen Facebook-Account zu haben. Nummer zwei ist nach Rückfrage beim Einwohnermeldeamt inzwischen unbekannt verzogen – was aber nichts heißen muss, denn schließlich ist das Bild schon vor einiger Zeit hochgeladen worden und die letzte Aktualisierung im Profil ist fast ein Jahr alt. Und Nummer drei hat keinen Festnetzanschluss. Wir überprüfen derzeit, ob sie mit einer gewissen Naddi in den Telefoneinträgen in Jennifer Heinzes Handymenü identisch ist. Da ist eine Handynummer angegeben, über die wir derzeit aber nur auf eine Mailbox geleitet werden.“

„Siebeneinhalb Jahre ist diese Aufnahme alt ...“ murmelte Anna.

„Ja, schließlich lebt das erste Opfer des Barbiers da ja noch!“

„Dann waren alle, die da zu sehen sind Anfang zwanzig – jetzt sind sie Ende zwanzig bis Anfang dreißig, oder?“

„So ungefähr. Ist schon seltsam, was? Ich meine, wir haben uns doch alle früher mal als Cowboy, Indianer, Ritter oder Superheld verkleidet und in einer Spielwelt gelebt. Aber in meiner Generation war man da vielleicht zehn – und nicht siebenundzwanzig!“

Anna ging auf Hallers Bemerkung nicht weiter ein. Sie atmete tief durch. „Wieder der Schwarze Tod“, murmelte sie und deutete auf den Pest-Arzt. Sie murmelte diese Worte mehr zu sich selbst als zu Haller.

„Ist irgendetwas?“ fragte Haller.

„Nein, nur wenig geschlafen. Apropos Mailbox. Haben Sie meine Nachricht eigentlich bekommen?“

„Welche Nachricht denn?“ Haller runzelte die Stirn.

„Na, die ich Ihnen – also dir - auf die Mailbox gesprochen habe! Gestern habe ich nämlich noch versucht, dich anzurufen, aber da war leider niemand zu erreichen.“

„Dann hatte ich das Handy wohl abgeschaltet“, meinte Haller. „Oder ich war unter der Dusche oder auf dem Klo. Mehr Privatleben habe ich ja nicht, aber das bisschen verteidige ich mit Klauen und Zähnen.“ Er grinste, sah aber gleich, dass Anna das nicht so lustig fand. „Tut mir leid, worum ging's denn? Ich höre meine Mailbox normalerweise nie ab. Wenn's wichtig ist, dann meldet derjenige sich noch mal oder schreibt eine SMS.“

„Timothy Winkelströter verkauft diese Schnabelmasken in seinem Shop!“ Anna deutete auf den Pest-Arzt auf dem Bild. „Genau solche! Und der Typ, mit dem ...“

„Fangen Sie nicht mit diesem Elbenspinner an, der eine Fantasywelt mit der Wirklichkeit verwechselt!“

*



In diesem Augenblick ging die Tür auf und Branagorn trat ein. Er trug diesmal sein Schwert über dem Rücken gegürtet und einen dunklen Umhang über dem Wams. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Am Gürtel hingen verschiedene kleine Taschen und Lederbeutel. Und diesmal zierte ihn ein großes, gusseisernes Amulett in Form einer Elbenrune, das Anna zuvor noch nicht bei ihm gesehen hatte.

Eine Beamtin in Uniform folgte ihm auf den Fuß. „So geht das nicht!“, rief sie.

„Wie kommt dieser Kerl hier herein!“, ereiferte sich Haller.

„Tut mir leid, der ist so ... durchgerutscht ...“, stotterte die Beamtin in Ermangelung eines besseren Ausdrucks.

„Was soll das denn heißen? Hier kann doch nicht jeder hereinplatzen, wie er lustig ist!“

So emotional hatte Anna den Kriminalhauptkommissar noch nicht erlebt. Aber dass höhere Säugetiere aller Art – und dazu gehörte letztlich wohl auch der Mensch, auch wenn er das gerne verdrängte – aggressiv reagierten, wenn jemand in ihr Revier eindrang, war eigentlich eine bekannte Tatsache. Und so ähnlich musste man wohl auch Hallers Reaktion verstehen. Ein Irrer drang in die Einsatzzentrale der deduktiven Logik vor und behauptete wahrscheinlich im nächsten Moment auch noch, alles zu wissen, alles zu kennen und am schlimmsten: alles vorhersagen zu können, was sich noch in der Zukunft ereignen würde. Welch gravierendere Gegensätze konnte man sich vorstellen?

„Sorry, ich war auf'm Klo!“, gab die Beamtin zu.

Branagorn achtete nicht weiter auf sie. Er ging zu den Plakatwänden. Sein Blick wanderte sie systematisch entlang. Er tastet sie ab wie ein Scanner!, dachte Anna. Diese Assoziation drängte sich ihr zumindest unwillkürlich auf.

„Dieser Kerl soll hier verschwinden! Er hat hier nichts zu suchen!“, rief Haller.

„Lass nur, ich werde mit ihm reden“, schlug Anna vor. Sie wandte sich an die Polizistin in Uniform. „Ich glaube, wir kommen ohne Sie klar.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Dann sollte er vielleicht seine Bewaffnung ablegen“, schlug die Beamtin vor.

„Dafür gibt es keine Rechtsgrundlage“, erklärte Branagorn. „Ein Schwert ist keine Waffe und ich bedrohe niemanden.“ Er wandte den Kopf und hob seine dürren, feingliedrigen Hände, deren Fingerspitzen er auf die Beamtin richtete. Dann murmelte er einige Worte in einer Sprache, bei der Anna sicher war, dass sie noch nie ein Wort davon gehört hatte. Vielleicht waren es auch einfach nur aneinandergereihte Silben ohne jeden Sinn. Sie klangen wie eine magische Formel. Branagorns Stimme hatte jetzt einen sehr dunklen, sonoren Klang. Die Beamtin sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und es war schwer zu sagen, was in diesem Moment in ihrem Kopf vor sich ging. Jedenfalls öffnete sie den Mund, so als wollte sie etwas sagen und vergaß, ihn dann für eine ganze Weile wieder zu schließen. Sie hatte schätzungsweise etwa zehn Dienstjahre hinter sich – aber mit so etwas war sie ganz sicher bisher noch nie konfrontiert worden. „Euer Geist hat mich verstanden, edle Wächterin und Ihr könnt getrost Eures Weges gehen, denn an meiner Friedensliebe und Sanftmut werdet Ihr nun nicht mehr zweifeln.“

„Tja, ich weiß nicht ...“, murmelte die Beamtin. Sie wandte sich dann an Haller. „Wenn Sie meinen, dass Sie hier alles unter Kontrolle haben!“

Branagorn ballte die Hände zu Fäusten und hielt die Handgelenke dabei dicht aneinander. „An Eurem Gürtel sehe ich Fesseln! So legt mich also in Ketten, wenn es hier jemanden geben sollte, der mich fürchtet! Ich fürchte die Ketten nicht, denn die Kraft meines Geistes ist stärker!“

„Ist schon gut“, knurrte Haller und nickte dabei der Beamtin zu, die daraufhin mit einem ziemlich ratlosen Gesicht den Raum verließ.

„Der Glaube an Magie ist in dieser Welt fast verschwunden – paradoxerweise aber ist die Furcht vor dieser Macht geblieben“, stellte der Elbenkrieger fest. „Das ist eine der eigenartigen Dinge, die ich an dieser Welt bemerkte, seit die Maschinen hier die Herrschaft zu erringen begannen. Schon die Grausamkeit, mit der man einst vermeintliche Hexen verfolgte, lässt sich wohl nur angesichts dieser Erkenntnis wirklich verstehen, obgleich ich zugeben muss, dass selbst so große Geister wie Leonardo da Vinci oder Martin Luther für diesen Gedanken wenig Verständnis hegten, als ich mit diesen großen Geistern darüber sprach.“

„Sie sprechen öfter mit Personen aus der Geschichte?“, fragte Haller und konnte dabei einen gewissen Spott im Tonfall nicht unterdrücken. Er wandte sich an Anna. „Tut mir leid, dass war jetzt sicher unsensibel und wenig einfühlsam. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du deinem Patienten klar machen könntest, dass er hier unerwünscht ist!“

Branagorn sah sich auch die restlichen Stellwände kurz an. Dann wandte er sich an Haller. „Die edle Frau van der Pütten hat nichts mit meinem Erscheinen hier in der Burg der Ordnungshüter zu tun“, erklärte er. „Ich bin aus freiem Willen hier und habe nicht viel Zeit.“

„Das trifft sich gut“, erwiderte Haller. „Ich nämlich auch nicht.“

„Ich bin hier, um Euch zwei Anliegen vorzutragen, werter Hüter der Ordnung.“

„Dann schlage ich vor, wir bringen das hinter uns und Sie verschwinden dann!“

„Was ist mit meinem Schwert Nachtmahrtöter, das mir wider alles Recht genommen und dessen baldige Rückgabe mir in Aussicht gestellt wurde?“, fragte Branagorn.

„Sie geben Ihren Schwertern Namen?“, fragte Haller und wandte sich kurz an Anna. „Das sollten Sie aber dringend mit ihm aufarbeiten.“

„Keine Sorge!“, gab Anna zurück.

„Das wäre ja ähnlich, als würde ich meine Dienstpistole in Zukunft Heinz nennen!“

„Seelen sind in allen Dingen – im Guten, wie im Schlechten“, erklärte Branagorn. „Und den Dingen ihren Namen zu geben, heißt, ihr innerstes Wesen zu erkennen und Macht über sie zu gewinnen. Und ich glaube kaum, dass es Euch schlecht anstünde, das Wesen Eurer Waffe zu erkennen und die Macht über sie zu behalten, auf dass Ihr sie nicht leichtfertig einsetzt.“

Haller runzelte die Stirn. „Amen“, sagte er.

„Ihr seid meiner Frage bisher ausgewichen. Wo ist der Nachtmahrtöter? Wie lange gedenkt Ihr, den Nachtmahrtöter noch von mir zu trennen?“

„Bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Und wie ich sehe, sind Sie doch ganz gut mit Ersatz ausgestattet, Herr Branagorn oder meinetwegen auch hochwohlgeborene Durchlaucht.“

„Der Nachtmahrtöter ist unersetzbar und einzigartig – so wie jedes andere Stück Materie im Polyversum.“

„Bitte jetzt nicht dieses Waldorfschulen-Gequatsche“, meinte Haller relativ barsch. „Was war Ihr zweites Anliegen?“

„Ich habe Euch etwas zum Fall mitzuteilen. Mir war es so selbstverständlich, dass ich nicht daran gedacht habe, dass es vielleicht für Euch wichtig sein kann. Zudem ist meine Magie geschwächt, da mir mein gewohntes Schwert Nachtmahrtöter nicht zur Verfügung steht und ich mit einem nicht ganz gleichwertigen Ersatz vorliebnehmen muss. Eigentlich wäre das nicht weiter schlimm, denn die Macht des Geistes ist der Trägheit der Materie immer weit überlegen, sodass ein Artefakt niemals die Entscheidung bringt, sondern immer nur die innere Kraft ...“

„Na, wenn das so ist, verstehe ich Ihre Aufregung nicht!“

„Aber in dieser Welt ist die Magie sehr schwach. Und es bedarf des jeweils mächtigsten Artefakts, um den Geist ausreichend zu konzentrieren. Und das wird schon sehr bald nötig sein ...“

„Was reden Sie da eigentlich?“

„... wenn ich dem Traumhenker gegenüberstehe, um mich ihm zu stellen.“

„Wer soll das sein?“

„Der Traumhenker, der mit mir zusammen aus einer anderen Welt hierhergelangte, ist in jene Mörderseele gefahren, die Ihr sucht, Hüter der Ordnung. Und das, was ich Euch mitzuteilen habe, ist Folgendes: Mir begegnete diese Mörderseele bereits in den Westfälischen Kliniken von Lengerich.“

„Was?“

Hallers Kinn fiel herab.

Das ging ihm nun wohl endgültig zu weit. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, griff Anna ein. Krisenintervention – so hieß dafür wohl der therapeutische Oberbegriff. „Fahren Sie fort, Branagorn. Sagen Sie mir genau, wo und wann Sie der Mörderseele begegneten!“

Ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Ich wusste, Ihr würdet mich verstehen, Cherenwen. Und verzeiht mir, dass ich mich abermals erdreistet habe, Euch so zu nennen, aber die seelische Verwandtschaft zwischen uns könnt auch Ihr in diesem Augenblick wohl kaum leugnen.“

Anna begegnete einem Blick.

Ein Gedanke schoss ihr den Kopf. Eine Frage. Soll ich mich diesmal auf das Spiel so weit einlassen, dass ich es ihm erlaube, mich Cherenwen zu nennen oder ist das der Moment, an dem ich die Distanz unter allen Umständen aufrechterhalten muss? Er ist sensibel genug, um genau die Schwachstellen seines Gegenübers zu erfassen, überlegte Anna. Und auch wenn er so tut, als würde er nur in einer Welt der Fantasie leben, und das, was man gemeinhin Realität nennt, nur ganz am Rande und in sehr verzerrter Weise zur Kenntnis nehmen, so heißt das nicht, dass er nicht in der Lage wäre, sein Gegenüber zu manipulieren.

Branagorn wäre nicht der erste Patient gewesen, der genau dies versuchte.

Aber hier ging es um mehr!, entschied Anna schließlich. Es ging darum, einen Mörder zu fassen, der offenbar einem sehr dunklen Trieb folgte und nicht damit aufhören würde zu töten. Es sei denn, es gelang ihnen, ihn in absehbarer Zeit zu entlarven. Was war dagegen schon das Risiko einer letztlich doch recht harmlosen Grenzüberschreitung im Patient-Therapeuten-Verhältnis. Schließlich hatte sie ja nicht vor, mit Branagorn von Elbara alias Frank Schmitt eine sexuelle Beziehung einzugehen, sondern sie begab sich lediglich mit ihm zusammen auf die Ebene eines Fantasie-Spiels.

Fast so, als würden wir uns online zum Word-of-Warcraft-Spielen treffen oder zu einem dieser Mittelalter- und Fantasy-Festivals gehen, auf denen die Kämpfe zwischen Elben und Orks oder historische Schlachten des Mittelalters nachgespielt wurden. Wahlweise natürlich auch solche aus der Römerzeit oder aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Die Spiellaune der Erwachsenen schien da keine Grenzen zu kennen. In diesem einen Punkt konnte Anna im Übrigen Hallers Verwunderung darüber gut nachvollziehen. Allerdings hatte sie selbst sich auch als Zehnjährige nicht verkleidet, um in eine Spielrolle zu schlüpfen. Auch nicht als Fünfjährige – und dass über Zwanzigjährige sich damit die Freizeit vertrieben, erschien ihr ohnehin vollkommen absurd. Sie konnte das nur als psychosoziales Phänomen zur Kenntnis nehmen und versuchen, mithilfe einer wissenschaftliche Methodik zu verstehen. Aber nachempfinden konnte sie das nicht. Sie selbst hingegen hatte manchmal das Gefühl, schon kontrolliert, vernünftig und erwachsen auf die Welt gekommen zu sein. Jedenfalls konnte sie sich an nichts anderes erinnern. Und da es schon schwierig genug war, die Ordnung in der realen Welt aufrechtzuerhalten, hatte sie kein Bedürfnis verspürt, diese Ordnung dadurch ins Wanken zu bringen, dass sie in die Gefilde ihrer Fantasie abdriftete. Das Ergebnis mochte dann am Ende ein Wahn sein, wie er Branagorn befallen hatte. Es war nur ein einziger, verhängnisvoller Schritt und man spielte nicht mehr den Elbenkrieger, sondern man war einer. Aber das war etwas, was Anna niemals passieren konnte. Glaubte sie. Hoffte sie. Aber um eine solche Bedrohung ihres innersten Selbst rechtzeitig erkennen zu können, hatte sie ja eigentlich lange genug studiert, wie sie fand.

„Nennen Sie mich Cherenwen – wenn es tatsächlich so sein sollte, dass Sie Cherenwen leichter das anvertrauen können, was Sie offensichtlich entdeckt haben.“

„Es war ein Blick in die Augen. Kennt Ihr das, werte Cherenwen? In einem einzigen Augenblick – und damit meine ich den figürlichen Sinn dieses Wortes! - kann einem alles klar werden!“

„Von welchem Augenblick sprechen Sie?“

„Es war auf der Planwiese in Telgte, als ich der Mörderseele hinter der Schnabelmaske gegenüberstand. Da habe ich diese Seele an ihren Augen erkannt! Denn die waren in den dafür ausgeschnittenen Löchern gut zu sehen. Dieselben Augen sind mir begegnet, als ich vor ein paar Jahren einen längeren Aufenthalt in der Psychiatrie in Lengerich hatte.“

„Sie meinen, Sie können allein anhand der Augen jemanden wiedererkennen?“

„Was ist so ungewöhnlich daran? Kein Auge gleicht dem anderen und an den Mustern der Iris sehen die Heilkundigen, an welchen Krankheiten jemand leidet ...“ Branagorn wandte sich an Haller. „Ich kann Euch leider nicht mit einem Namen dienen, Hüter der Ordnung. Und auch zu dem Gesicht kann ich Euch keine nähere Beschreibung geben. Denn das Augenpaar, das mich damals anstarrte, blickte durch das gläserne kleine Fenster einer Tür, die die Eigenschaft hatte, den Klang von Schreien zu dämpfen. Das Gesicht sah ich bis hier!“, und dabei hielt er die Hand in die Höhe der Nasenwurzel. „Es kann keine große Person gewesen ein, sonst wäre das Gesicht zur Gänze sichtbar gewesen.“

„Ja, das hilft uns sehr weiter, Herr Branagorn“, sagte Haller.

„Eines solltet Ihr noch wissen: Der Schädel war kahl. Es war kein einziges Haar darauf zu sehen.“

„Wie bei den Opfern“, stellte Anna fest.

„Ich sagte Euch doch: Der Traumhenker ist in diese Mörderseele gefahren und lässt sie an anderen Dinge tun, die ihr vielleicht selbst widerfahren sind. Und nun entschuldigt mich – denn ich bin in Eile, auch wenn dies für einen Unsterblichen wie mich ein eher seltener Zustand ist und ich ansonsten nichts dagegen einzuwenden hätte, die Unterhaltung noch ein halbes Leben lang fortzusetzen.“

Er wandte sich zur Tür und schien von einem plötzlichen Impuls getrieben zu sein. Nicht einmal auf sein Schwert, den Nachtmahrtöter, kam er jetzt noch einmal zurück, obwohl ihm das eben noch so unendlich wichtig gewesen war. Anna spürte, dass sich in Branagorns Psyche irgendetwas verändert hatte. So als ob ein Schalter umgelegt worden war. Aber ihr fiel kein vernünftiger Grund ein, ihn davon abzuhalten, jetzt das Präsidium zu verlassen.

„Branagorn, warten Sie!“, rief sie.

Er drehte sich um.

„Werte Cherenwen. Gebt auf Euch Acht, denn der Traumhenker kennt keine Gnade!“

In Annas Hirn arbeitete etwas fieberhaft. Dutzende von Gedanken schienen dort gleichzeitig herumzurasen. Sie hasste Chaos. Sie hasste Situationen wie diese, in denen nicht von vornherein feststand, wie sie ausgingen, was bei einer therapeutischen Situation normalerweise immer der Fall war. Da hielten sich die Überraschungen in engen Grenzen. Aber dies war ein Spiel, in dem sie nicht die Regeln bestimmte und dass ihr deswegen vielleicht auch so viel Unbehagen bereitete. Sie ging zur Stellwand und deutete auf das Facebook-Gruppenfoto. Auf einem daneben angehefteten Ausdruck waren die Kommentare dazu abgedruckt.

Annas Zeigefinger berührte das Foto genau dort, wo sich der Pest-Arzt befand. „Ist es dieser hier?“, fragte sie.

„Das weiß ich nicht“, bekannte Branagorn. „Ich habe dieses Bild angesehen, aber die Augen sind nicht gut genug zu erkennen. Aber eins ist gewiss: Wenn ich der Mörderseele gegenüberstehe und ihren Blick erwidere, werde ich ihr wahres Wesen erkennen!“

Mit diesen Worten verließ Branagorn den Raum.

*



Anna lief ihm nach. Auf dem Flur war er nicht zu sehen. Die Geschwindigkeit, mit der er sich entfernt hatte, überraschte sie. Sie lief mit schnellen Schritten bis zur nächsten Biegung und dann sah sie ihn ganz am Ende des Korridors.

„Branagorn!“, rief sie. Er blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um, obwohl Anna sich eigentlich sicher war, dass er sie bemerkt haben musste.

Erst am Ausgang holte sie ihn endlich ein, stellte sich vor ihn in den Weg. Sie war ziemlich außer Atem.

„Branagorn, was haben Sie denn jetzt vor?“

„Ich habe dem Hüter der Ordnung gesagt, was ich weiß, und mein Schwert Nachtmahrtöter werde ich offenbar so schnell nicht zurückerhalten, weil es mir offenbar unter fadenscheinigen Vorwänden weiterhin vorenthalten werden soll. So bleibt mir nichts anderes, als mich auf die Kräfte meines Geistes zu verlassen. Nehmt Euren Platz an der Seite der Ordnungshüter ein, werte Cherenwen. Dass mein Platz dort nicht sein kann, wurde mir eindringlich deutlich gemacht.“

„Ich möchte wissen, wo Sie jetzt hingehen?“

„Es besteht kein Anlass, dass Ihr Euch beunruhigt, Cherenwen. Achtet auf den Traumhenker. Das ist alles, was ich Euch raten kann.“

„Versprechen Sie mir, jetzt zurück nach Münster-Kinderhaus zu fahren?“

„Wovor fürchtet Ihr Euch?“

„Dass Sie etwas Unbedachtes tun, Branagorn. Und dass Sie sich in die Ermittlungen einmischen.“

„Wie sollte das denn möglich sein?“

„Vertrauen Sie den Hütern der Ordnung, Branagorn!“

„Natürlich. Im Übrigen seid unbesorgt. Mir geht es so gut wie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr und der Gedanke, dem Lebensüberdruss nachzugeben, liegt mir zurzeit ferner denn je. Das liegt auch daran, dass Ihr nun doch endlich erkannt habt, wer Ihr im Innersten Eurer Seele seid, werte Cherenwen. Dass Ihr Euch selbst und damit auch mich in dieser Weise erkannt habt, bedeutet für mich eine Form des Glücks, die zu erleben ich kaum noch zu hoffen gewagt habe. Insofern sind all Eure Sorgen unberechtigt. Auf dem Dach eines Hochhauses werdet Ihr mich so schnell nicht wieder antreffen. Und ansonsten könnt Ihr über das sprechende Artefakt mit mir in Verbindung bleiben, sollte die Kraft Eures Geistes allein dafür nicht ausreichen!“

*



Mit einem Gefühl der Verwirrung kehrte Anna van der Pütten in den zum Lagezentrum umfunktionierten Konferenzraum zurück. Haller hatte gerade den Bericht des Gerichtsmediziners bekommen und blätterte darin herum.

„Ich hoffe, wir sehen deinen Patienten so schnell nicht wieder“, meinte Haller.„Sven, er könnte Recht haben!“, sagte Anna und ihre eigene Stimme klang dabei wie die eines Fremden.

„Das meinst du nicht ernst!“

„Wir sollten zumindest die Personen, die wir bisher mit den Opfern in Verbindung bringen konnten, daraufhin überprüfen, ob von denen jemand in Lengerich zu dem Zeitpunkt in der Psychiatrie war, in der auch Branagorn – also Frank Schmitt dort gewesen ist!“

„Du überraschst mich!“, stellte Haller fest und schloss den Obduktionsbericht wieder. „Was soll das? Bist du jetzt auch schon geistig in einer anderen Welt oder muss ich befürchten, dass du in Zukunft als Burgfräulein oder sonst was verkleidet ins Präsidium kommst?“

„Wir haben bisher nicht viel an Anhaltspunkten. Aber einer ist doch, dass alle Opfer offenbar eine Vorliebe für mittelalterliche Verkleidungen hatten! Das Foto beweist es!“

„Die werden sich dabei vermutlich kennengelernt haben“, vermutete Haller.

„Und ein anderer Anhaltspunkt ist diese Pestmaske. Sie ist auf dem Foto und Branagorn war überzeugt, den Täter auf der Planwiese darunter erkannt zu haben und Timothy Winkelströter vertreibt diese Verkleidungen – der Mann, der als Einziger bisher so etwas wie ein Verdächtiger ist!“

„Was schon reichlich übertrieben ist!“

„Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder und die Opfer sich kannten – denn die Opfer kannten sich auch untereinander.“

„Und dieser Herzog Schmitt soll ihm in einer Klapsmühle begegnet sein?“

„Ergibt das denn keinen Sinn? Außer, dass der Täter dem erweiterten Bekanntenkreis dieser jungen Leute entstammen muss, wäre es nicht überraschend, wenn er zuvor schon mal wegen psychischer Auffälligkeiten in Behandlung gewesen ist! Er hat dauernd davon geredet, dass dieser Traumhenker mit ihm aus seiner Welt in die unsere gekommen ist. Aber mittlerweile glaube ich, dass man diese Aussagen vielleicht nicht als Spinnerei, sondern als eine metaphorische Ausdrucksweise verstehen sollte. Seine Welt – das ist vielleicht nur ein anderer Ausdruck für die Psychiatrie in Lengerich. Dort fühlt er sich wohl. Und vielleicht wollte er mit dieser Redeweise einfach nur ausdrücken, dass er davon überzeugt ist, dass der Mörder auch dort war – und jetzt wieder in unser aller Welt herumzieht und tötet!“

„Da gibt es nur ein Problem, Anna!“

„Und das wäre?“

„Ich glaube einfach nicht, dass es möglich ist, jemanden anhand seiner Augen zu identifizieren! Das ist doch an den Haaren herbeigezogen!“

„Du irrst dich Sven. Bei jemandem wie Frank Schmitt ist das durchaus möglich.“

„So?“

„Er hat ein fotografisches Gedächtnis. Das ist nichts Ungewöhnliches für Savants.“

„Savants - die Wissenden. Ein bisschen Französisch habe ich auch gehabt. Ein schönes Wort macht mir das Ganze noch nicht plausibel!“

„Das Savant-Syndrom, das bei Branagorn diagnostiziert wurde, ist auch von der Wissenschaft noch längst nicht völlig verstanden, Sven. Aber mit Frank Schmitt sind eine Reihe eingehender Untersuchungen durchgeführt worden. Die Testergebnisse sind beeindruckend. Weißt du, womit er sich normalerweise die Zeit vertreibt? Er geht in die Uni-Bibliothek Münster und liest systematisch die Bücher. Nein, er liest sie nicht, er prägt sie sich ein. Dazu braucht er sich die entsprechenden Seiten nur einmal angesehen zu haben. Mir erzählt er natürlich, dass das immenses Wissen daher rührt, dass er schon vor vielen Zeitaltern in unsere Welt gelangte und schon die Bibliotheken von Alexandria, Konstantinopel und Bagdad durchstöbert hätte.“

„Ach, so weit geht dein Glaube dann doch nicht“

„Das ist kein Glaube, Sven! Sieh bei Gelegenheit mal im Internet nach unter Stephen Wiltshire, genannt die lebende Kamera! Dann werden dir Branagorns Fähigkeiten kaum noch fantastisch vorkommen!“ Anna atmete tief durch. Ihr war durchaus klar, auf welch dünnem Eis sie argumentierte. Nicht etwa, weil es an den Savants und ihren Fähigkeiten Zweifel gab oder weil es ihr zweifelhaft erschien, dass Branagorn tatsächlich jemanden allein an den Augen wiederzuerkennen vermochte. Es gab genügend gut dokumentierte Fälle in der Fachliteratur, die noch weit erstaunlichere Fähigkeiten gezeigt hatten. Aber was nützte es, wenn Branagorn tatsächlich bei einer Gegenüberstellung auf jemanden zeigte und behauptete, er sei der Pest-Arzt von der Planwiese? Damit war noch lange kein Mord bewiesen, geschweige denn ein Zusammenhang zwischen der so identifizierten Person und den Taten des Barbier hergestellt. Aber vielleicht war es ein Anfang. „Also, wenn du da nichts machen willst, werde ich mich mal in Lengerich melden, um herauszufinden, ob irgendjemand von den Personen, die die da inzwischen an den Stellwänden hängen, vielleicht zur passenden Zeit einen Aufenthalt dort hatten! Leichter wäre es natürlich, wenn ihr das machen würdet – von wegen Schweigepflicht und so.“

„Nein, das sollte schon seinen regelgerechten juristischen Gang gehen“, meinte Haller. „Ich kümmere mich darum.“

Anna deutete auf den Obduktionsbericht. „Steht da noch irgendetwas Interessantes drin?“, hakte sie nach.

„Wie man's nimmt.“

„Was soll das heißen?“

„Verschiedene Spuren an der Leiche weisen darauf hin, dass der Täter eher klein gewesen sein könnte. Aber das wussten wir ja eigentlich auch schon vorher. Es ist nur eine Bestätigung.“

„Das passt doch zu Branagorns Aussage!“

„Anna, das war keine Aussage, sondern wirres Zeug!“

In diesem Moment betrat ein übergewichtiger Mann in einem viel zu engen kobaltblauen Anzug den Raum. Der größte Teil des Kopfes war kahl, aber es gab einen Haarkranz in Höhe der Ohren, der aus ungebändigten Locken bestand, was seiner gesamten Erscheinung eine etwas skurrile Note gab. Anna hatte ihn schon des Öfteren bemerkt, wusste aber bisher nur, dass er von den anderen Wolli genannt wurde. Außerdem war er offenbar im Innendienst tätig. Sein Rang, seine genaue Funktion innerhalb des Teams und sein vollständiger Name waren ihr jedoch bisher verborgen geblieben, was für Anna die Schwierigkeit mit sich brachte, dass sie nicht wusste, wie sie ihn ansprechen sollte. Die Zahl ihrer durch Umstände oder die selbstherrliche Anordnung von Sven Haller gestifteten Duzfreundschaften wollte sie keineswegs noch vergrößern.

„Was gibt’s, Wolli?“, fragte Haller.

„Du hast doch gesagt, ich sollte mal diesen Timothy Winkelströter genauer unter die Lupe nehmen.“

„Und? Ist dabei was herausgekommen?“

„Er scheint eine nicht unwesentliche Rolle in einer sehr dubiosen Sekte zu spielen, die sich die 'Neuen Templer' nennt und eine Art Heidentum der Moderne propagiert.“

„Von mir aus soll jeder glauben, an was er will“, erwiderte Haller wenig interessiert. „Hat irgendetwas davon mit unserem Fall zu tun?“

„Schwer zu sagen“, meinte Wolli. „Also erstens ist diese Sekte mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Es ging dabei zumeist um Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz, Anzeigen wegen Betruges und Steuerhinterziehung. Es gab sogar ein Verfahren wegen Verdachts der Geldwäsche, das aber nicht zu einer Verurteilung geführt hat. Der springende Punkt ist wohl, dass die 'Neuen Templer' recht zweifelhafte spirituelle Heilmethoden für alle möglichen Krankheiten und Gebrechen anbieten. Auch Hilfe für psychische Leiden kann man dort bekommen, wenn ich den Internet-Auftritt richtig verstanden habe. Allerdings werden dafür Summen verlangt, die alle regulären Ärzte und Psychiater vermutlich vor Neid erblassen ließen ...“ Wolli wandte sich an Anna. „Dieser Timothy Winkelströter ist gewissermaßen ein Kollege von Ihnen. Er gibt Kurse in „positiver Ich-Findung“ - was immer das auch sein mag!“

„Ich habe von den 'Neuen Templern' schon mal etwas gehört“, sagte Anna.

„Inwiefern?“, fragte Haller.

„Vor etwa anderthalb Jahren hatte ich eine Patientin, die über mehrere Jahre dort Mitglied war und durch okkulte Praktiken einer Art Hirnwäsche unterzogen und zutiefst traumatisiert worden war. Unter anderem wurden mir Rituale geschildert, bei denen Sektenmitgliedern die Haare abgeschnitten wurden. Insbesondere dann, wenn sie sich der Macht Baphomets verschlossen.“

„Auf der Homepage stand aber nur was von Heilsteinen und so“, warf Wolli ein.

„Natürlich!“, erwiderte Anna. „Die 'Neuen Templer' betrachten sich ja als Nachfolger der Tempelritter, denen man die Verehrung eines stierköpfigen Dämons namens Baphomet vorwarf, um den Orden auflösen und dessen Vermögen konfiszieren zu können. Der Baphomet-Kult gehört zum geheimen Teil dieses Glaubens – falls man ihn so bezeichnen möchte.“

„Und wie würdest du es bezeichnen?“, fragte Haller.

„Psychoterror und Ausbeutung. Letztere geschieht sowohl psychisch als auch finanziell. Dieses Ritual, von dem ich gerade sprach, ist eine Art negativer Exorzismus. Der Dämon wird nicht ausgetrieben, wie es früher in der katholischen Kirche üblich war, sondern umgekehrt: Die Seele soll für Baphomet geöffnet werden, damit er in sie hineinfahren kann ...“ Anna stockte bei den letzten Worten. Sie hatte lange nicht mehr an Linda Meyer-Braksiek gedacht, die seinerzeit bei ihr Hilfe gesucht hatte. Letztlich allerdings erfolglos, denn sie wurde schließlich mit aufgeschnittenen Pulsadern in ihrer Badewanne gefunden. Anna erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie davon erfahren hatte. Ein knochentrockener Polizeiobermeister hatte ihr die schlechte Nachricht übermittelt. Auch die sonore, warme Stimme hatte dabei nicht irgendetwas abzumildern vermocht. Anna hatte ernsthaft darüber nachgedacht, den Beruf aufzugeben. Schließlich war sie doch offensichtlich gescheitert! Sie hatte Linda Meyer-Braksiek nicht so weit psychisch stabilisieren können, dass sie die Fähigkeit erlangte, unabhängig von den 'Neuen Templern' ihr Leben zu fristen. Dass die Sekte die junge Frau nach ihrem Weggang mit einer Flut von Klagen überzogen hatte und damit sicherlich auch ihren Beitrag zum völligen seelischen Zusammenbruch geleistet hatte, stand auf einem anderen Blatt. Erst durch eine intensive Supervision durch einen erfahreneren Kollegen, gelang es schließlich, Anna davon zu überzeugen, dass dieser Fall für sie kein Grund sein durfte, den Beruf, für den sie doch alles gegeben und alles eingesetzt hatte, aufzugeben. Nicht alles, was man tat, konnte gelingen!, hielt sich Anna seitdem jeden Tag mindestens einmal vor Augen.

Haller wandte sich unterdessen an Wolli. „Wo hat denn diese Sekte ihr Hauptquartier oder wie immer man das nennen will?“

„Die Zentrale ist in Osnabrück. Dort haben sie auch eine alte Villa angemietet, in der sie ihr Schulungs- und Therapiezentrum eingerichtet haben“, sagte Wolli und ließ suchend den Blick schweifen. „Habt ihr zufälligerweise noch Kaffee, der nicht kalt und auch nicht zu dünn ist?“

Haller ging darauf nicht weiter ein. „Dass die Rituale, die diese sogenannten 'Neuen Templer' praktizieren, was mit kahlen Schädeln zu tun haben, ist schon eine sehr auffällige Parallele zu dem, was dieser irre Mörder macht“, stellte er fest und war dabei sehr nachdenklich geworden. „Vielleicht sollten wir uns doch mal genauer ansehen, was die so treiben.“

„Fragen wir doch einfach Timothy Winkelströter“, schlug Anna vor. „Der muss es doch eigentlich wissen!“


Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung

Подняться наверх