Читать книгу Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung - Alfred Bekker - Страница 38

Leichenschau

Оглавление


„Guten Morgen“, sagte Haller, als er die Küche in Nadine Schmalstiegs Haus betrat und dort auf Anna van der Pütten und Branagorn stieß.

„Vergesst nichts von dem, was ich Euch gesagt habe, Cherenwen. Alles davon kann wichtig sein. Ich war der Mörderseele so nahe wie niemand zuvor und ich bin vielleicht der Einzige, der sie zu erkennen vermag ...“, wandte sich unterdessen Branagorn eindringlich an die Psychologin.

„Ich würde sagen, Sie überlassen die Polizeiarbeit uns und versuchen, sich da nicht einzumischen“, sagte Haller an den Elbenkrieger gerichtet.

„Ich kannte das Opfer“, sagte Branagorn. „Und wir sind beide der Mörderseele begegnet, damals in Lengerich! Glaubt Ihr wirklich, dass das alles ein Zufall ist? Aber Ihr seht das Offensichtliche nicht und vermutlich hättet Ihr in der Zwischenzeit nicht einmal herausgefunden, wer von den verschiedenen Trägerinnen des Namens Nadine Schmalstieg jene ist, die das Bild in das Buch der Gesichter gestellt hat, so wie ich auch nicht annehme, dass Ihr auch noch immer nicht wisst, wer diese Sarah ist oder wer sich hinter der Maske des Schwarzen Todes verbirgt ...“

„Sarah?“, echote Haller verwirrt.

„Sie heißt Sarah Aufderhaar und wohnt in der Nordwalder Straße. In ihrem Flur fand ich ein Haar, das jenem von Jennifer Heinze ähnelt und dass Eure Alchemisten dringend untersuchen sollten, obgleich ich die Befürchtung habe, dass Ihr es einfach nur in den Papierkorb wandern lasst und meinen Hinweisen keinen Glauben schenkt. Und dabei kann ich noch von Glück sagen, dass Ihr zurzeit mit dem aufgebrachten Herrn Timothy noch einen anderen Verdächtigen habt, ansonsten wäre ich wohl Gefahr gelaufen, mich ebenfalls in dem verworrenen Netz Eurer Ermittlungen zu verfangen.“

Haller runzelte die Stirn. Anstatt Branagorn zu antworten, wandte er sich an Anna. „Hör mal, der Sinn deiner Gesprächsführung, sollte es sein, Informationen zu erhalten und nicht einen Zeugen oder Verdächtigen oder wen auch immer über unseren Ermittlungsstand zu informieren!“ Der Ärger, den er empfand, war ihm mehr als deutlich anzumerken.

„Sven, Ehrenwort, ich habe nichts dergleichen getan.“

„Und woher ...“, Haller atmete tief durch. „Darüber sprechen wir nachher noch.“

„Branagorn – oder Herr Schmitt – hat ein fotografisches Gedächtnis, Sven. Ich gehe davon aus, dass er sich alles merken konnte, was auf der Stellwand im Polizeipräsidium zu sehen war. Und dass er Nadine Schmalstieg aus einem Aufenthalt in der Lengericher Psychiatrie kannte, wird sich ja wohl überprüfen lassen.“

Haller nahm ein Blatt aus seiner Jacketttasche. Es war der Ausdruck des Facebook-Fotos. Er faltete es auseinander und legte es vor Branagorn auf den Tisch.

Branagorn warf einen Blick darauf und tippte dann auf jene junge Frau, die auch schon von Jobst Fleischer als Beobachterin im silbergrauen Audi identifiziert worden war.

„Sie heißt Sarah Aufderhaar und wohnt in der Nordwalder Straße“, erklärte Branagorn. „Nadine Schmalstieg hat mir während unserer äußerst angenehmen Unterhaltung im Café Mauritius erzählt, dass die werte Frau Sarah bei der Kreisverwaltung in Burgsteinfurt arbeiten würde. Durch sie habe ich zumindest die Straße erfahren, auch wenn sie mir die Nummer nicht sagen konnte.“

„Wie kommst du jetzt auf diese Frau?“, fragte Anna an Haller gerichtet.

„Ein Nachbar hat bemerkt, dass sie offenbar des Öfteren hier in der Straße in ihrem Wagen gesessen hat, so als würde sie jemanden beobachten – was natürlich schon etwas seltsam ist, wenn sie Nadine tatsächlich gekannt hat.“

„Mir dünkt, dass der Kontakt zwischen den beiden Damen über die Jahre hinweg nicht allzu eng gewesen ist“, erklärte Branagorn. „Lasst die Alchemisten das Haar untersuchen! Davon hängt alles weitere ab!“

„Das ist in der Tüte“, versicherte Anna.

„Wie auch immer. Es wäre jetzt nett, wenn du mit ins Wohnzimmer kommen würdest, Anna.“

„Natürlich.“

„Es ist nicht nötig, dass ich Euch begleite Cherenwen, denn ich habe bereits alles gesehen und erinnere mich an jede Einzelheit“, erklärte Branagorn an Anna gerichtet.

„Nur zur Information, Herr Schmitt: Sie sind auch gar nicht darum gebeten worden!“, stellte Haller klar.

„Das ist mir bewusst“, gab Branagorn vorsichtig zurück. „Dennoch sei mir ein Hinweis gestattet ...“

Haller runzelte die Stirn. „Was für ein Hinweis?“

„Seht Euch den Fleck am Kinn der Toten an und vergleicht ihn mit dem, was Euch von Jennifer Heinze in Erinnerung geblieben sein mag. Aber da Ihr ja alles auf Bilder gebannt habt, wird Euch auch Euer schlechtes Gedächtnis nicht daran hindern, die richtigen Schlüsse zu ziehen!“

Haller runzelte die Stirn und sah Anna an. „Sicher, dass er nichts Stärkeres als eventuell eine Tasse Kaffee bekommen hat?“

*



Als Anna zusammen mit Haller das Wohnzimmer betrat, waren dort auch der Gerichtsmediziner Dr. Wittefeld und Markus Friedrichs von der Spurensicherung. Alle, die das Wohnzimmer betraten, trugen Überzieher aus Plastik an den Füßen, um nach Möglichkeit auszuschließen, dass zusätzliche Spuren an den Tatort getragen wurden.

„Ursprünglich waren die Augen der Toten offen – Herr Schmitt hat angegeben, sie geschlossen zu haben“, sagte Friedrichs.

„Ja, und wer weiß, wo er noch überall seine Spuren hier hinterlassen hat.“

„Jedenfalls können die blutigen Fußabdrücke definitiv nicht von ihm gekommen sein“, erklärte Friedrichs. „Frank Schmitt trägt lange, schmale Wildlederstiefel, deren Sohle vollkommen glatt ist – Größe 44. Die Abdrücke hier sind höchstens Größe 42 und es handelt sich um Profilsohlen. Vermutlich Turnschuhe.“

„Na, das nenn ich doch schon mal eine Spur!“, meinte Haller. „Ein Meter siebzig und Schuhgröße 42 – das ist so ziemlich Mister Jedermann!“

„Man kann noch nicht mal sagen, ob es ein Mann der eine Frau war“, stimmte Friedrichs zu. „Tut mir leid, mir wären extremere Werte auch lieber. Schuhgröße 47, Sonderanfertigung oder etwas in die Richtung. Dann hätten wir es etwas leichter.“

„Haben Sie sonst noch etwas feststellen können?“, fragte Haller.

„Auf eine Sache hat mich Dr. Wittefeld gebracht.

Haller wandte sich an Wittefeld. „Worum geht es?“

Dr. Wittefeld machte einen Schritt nach vorn, nachdem er Raaben seine Arzttasche übergeben hatte, um besser balancieren zu können. Nur mit der Linken – denn da trug er noch einen Latex-Handschuh – bog er das Kinn der Toten etwas zur Seite.

Anna sah eine dunkle Stelle.

„Blauer Fleck“, murmelte sie.

„Wir nennen das ein Hämatom“, sagte Dr. Wittefeld.

„Kommt das durch eine Kampf?“, fragte Haller. „Vielleicht ein Faustschlag oder etwas in der Arzt.“

„Ein ähnliches Hämatom hat es auch bei Jennifer Heinze gegeben, wenn auch nicht ganz so stark ausgeprägt“, berichtete Dr. Wittefeld. „Ich habe dem zuerst nicht so eine große Bedeutung zugemessen, zumal ein Kampf mit Fäusten in der Situation überhaupt keinen Sinn macht.“

Haller nickte. „Stimmt. Wenn ich jemandem erst mal einen Kinnhaken versetze, habe ich das Opfer auf Distanz und wie soll ich ihm dann noch die Kehle durchschneiden.“

„Zumal Nadine Schmalstieg sicherlich versucht hätte, zur Terrassentür oder in den Nachbarraum zu flüchten“, warf Anna ein. „Der Mörder war eine vertraute Person und hat ganz plötzlich sein Messer oder was immer das gewesen sein mag, gezogen und blitzschnell angegriffen!“

Markus Friedrichs wandte sich Anna zu und nickte. „Genau in diese Richtung gingen auch die Überlegungen, die Dr. Wittefeld und ich angestellt haben“, stimmte der Erkennungsdienstler zu. „Sie scheinen sich die Situation gut vorstellen zu können.“

„Man tut, was man kann“, murmelte sie und wandte sich an Haller. „Das ist es wohl, was Branagorn mit seiner Bemerkung gemeint hat.“

„Tja ...“

Hallers Kinn fiel herab und er vergaß für ein paar Augenblicke, seinen Mund wieder zu schließen.

Dafür ergriff Markus Friedrichs wieder das Wort. „Ich habe mir zusammen mit Dr. Wittefeld eingehende Gedanken darüber gemacht, wie es zu diesem Hämatom gekommen sein könnte. Und inzwischen denke ich, dass das Hämatom bei dem Angriff entstanden ist – und zwar mit Messer oder Dolch, der ungefähr so aussieht ... Roswitha? Bringst du den Dolch mal rüber?“

„Einen Moment!“, drang eine weibliche Stimme aus dem Nachbarraum.

„Aber heute noch, wenn ich bitten darf!“

„Mit einem netten Kollegen macht die Arbeit doch gleich doppelt Spaß!“, kam es zurück.

Im nächsten Moment kam eine zierliche Frau mit dunklen gelockten Haaren aus dem Nachbarraum. Sie trug einen dünnen weißen Schutzoverall, der ihr allerdings viel zu groß war, sodass sie ihn in der Körpermitte durch einen Gürtel erheblich raffen musste. In der Hand hielt sie einen Dolch, der in Plastikfolie eingepackt war.

„Sie meinen den hier, oder?“

„Genau!“

Friedrichs nahm ihr den Dolch aus der Hand. „Ich bin bei meiner Arbeit wie selbstverständlich von den üblichen Messern und Dolchen ausgegangen, die heutzutage so in Gebrauch sind. Egal ob Springmesser, Küchenmesser oder Kampfmesser von Elitesoldaten und was es sonst noch so alles gibt: Keines davon hat das hier!“ Er tickte mit dem Finger auf die Parierstange. „So was hatten nur mittelalterliche Waffen oder solche, die entsprechend nachgemacht sind. Ich nehme an, dass man sie als Zweitwaffe im Schwertkampf benutzte und die Parierstange die Funktion hatte, die Hand zu schützen ...“

„Woher haben Sie diesen Dolch?“, wollte Haller wissen.

„Der Reihe nach, Sven! Jetzt geht es erst mal um das Hämatom!“

Haller konnte es nicht leiden, wenn er belehrt wurde. So viel hatte Anna schon von seinem Charakter mitbekommen. Und vielleicht war das sogar der tiefere Grund dafür, dass Haller mit Branagorn auf Kriegsfuß stand, denn der war ja nun wirklich so etwas wie eine gesammelte Bibliothek auf Abruf.

Friedrichs nahm den Dolch, beugte sich zu der Toten herab und führte andeutungsweise mit der rechten Hand einen Schnitt von links nach rechts und hielt in der Bewegung inne, bevor das Ende der Parierstange das Kinn traf. „So könnte es gewesen sein. Daher der Bluterguss. Ich nehme außerdem an, dass der Täter Rechtshänder war ...“

„Wie leider die meisten Leute“, maulte Haller.

„Man müsste das noch mal genau mit einem Dummie rekonstruieren, aber ich denke, die Parierstange hätte weniger gegen das Kinn gedrückt, wenn der Schnitt mit der Linken ausgeführt worden wäre. Davon abgesehen passt es auch nicht zum Schnitt.“

„Und jetzt zum Messer! Woher stammt es?“, wollte Haller nun wissen.

„Hat Kollegin Roswitha gefunden. Und zwar im Schlafzimmer in einem Schuhkarton, der mit Geschenkpapier beklebt war. Dazu ein paar nette Zeilen zum Geburtstag von einem gewissen ...“

„... Timothy!“, schloss Haller.

„Winkelströter stand auch noch drunter. Er hat Nadine diesen Dolch offenbar geschenkt.“

„Sind Spuren dran?“, wollte Anna wissen.

„Ja, einige Fingerabdrücke. Ich vermute mal, dass die von diesem Timothy Winkelströter und der Toten stammen. Das ist aber nicht verwunderlich, denn schließlich fand ja die Übergabe wohl bei einem gemütlichen Anlass statt und dabei wurde der Dolch natürlich auch angefasst. Aber die Tatwaffe kann es nicht sein. Es gibt keine Blutspuren. Und wenn die Waffe abgewischt worden wäre, dann wären ja auch die Fingerabdrücke nicht mehr drauf.“

„Ja, klingt logisch“, knurrte Haller.

„Wir haben eine Reihe ähnlicher Waffen bei diesen 'Neuen Templern' in Osnabrück sichergestellt“, fuhr Friedrichs fort. „Und dreimal dürfen Sie raten, wer so was in seinem Internet-Shop anbiete!“

„Timothy Winkelströter“, stieß Haller hervor.

„Dieses Modell und ein paar Verwandte“, ergänzte Friedrichs. „Das hatte ich gestern Abend noch recherchiert, als ich zusammen mit Kollegin Roswitha die Dolche und die Drahtschlingen sortiert habe, die wir aus Osnabrück mitgenommen hatten.“ Er unterdrückte ein Gähnen. „War ziemlich spät, aber es konnte ja auch keiner ahnen, dass wir gleich am nächsten Morgen schon zu einer so unchristlichen Zeit aus dem Bett geworfen werden!“

„Zeig das alles mal Branagorn“, meinte Anna. „Wer weiß, ob ihm vielleicht nicht noch irgendetwas auffällt, was wir alle übersehen haben.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“, gab Haller zurück, aber Anna registrierte durchaus, dass das Maß seiner üblichen Empörung bei so einem Vorschlag offenbar bereits sehr zurückgedimmt worden war.

„Doch, das ist mein Ernst!“

„Ja, warum soll der Kerl nicht mal einen Blick darauf werfen!“, meinte auch Friedrichs. „Der Täter ist er auf keinen Fall, das steht außer Zweifel. Aber ein sehr guter Zeuge. Übrigens habe ich mir das verbeulte Schwert angesehen.“

„Und?“, fragte Haller – sichtlich pikiert darüber, dass der Erkennungsdienstler offenbar in der Angelegenheit mit Branagorn Annas Partei ergriffen hatte.

„Seine Angaben sind sehr plausibel. Erstens gibt es einen Abdruck, der vermutlich von einem Reifen stammt. Das Fahrzeug, dem er sich entgegengestellt hat, ist also tatsächlich über das Schwert gefahren. Und zweitens gibt es an der Klinge etwas, das vielleicht Lackabrieb sein könnte.“

„Dieser Spinner hat sich also wirklich vor das Auto des flüchtenden Mörders gestellt und versucht, ihn mit seinem Schwert aufzuhalten“, meinte Haller.

„In anderen Fällen hat man so etwas auch schon mal Zivilcourage genannt“, meinte Anna.

Haller verzog das Gesicht, „Immer auf der Seite des Patienten, nicht wahr?“

„Ja, ist doch so!“

„Also genaues kann ich natürlich erst sagen, wenn die Klinge im Labor untersucht worden ist. Allerdings – wenn wir den passenden Wagen dazu finden würden, wäre das natürlich nicht schlecht. Dieser Kampf mit dem Blechtitan oder wie immer man das auch bezeichnen mag, muss auf jeden Fall Spuren hinterlassen haben! Das steht außer Frage!“

„Dann sehen wir uns doch einfach mal an, in welchem Zustand der Geländewagen von Timothy Winkelströter ist“, schlug Haller vor.

Er war schon auf dem Weg hinaus.

Anna wandte sich hingegen an Friedrichs. „Den Dolch!“, verlangte sie.

„Wie gesagt, ich habe nichts dagegen, dass dieser Elbenkrieger sich hier umsieht.“

„Das braucht er nicht“, erwiderte Anna.

„Wie?“

„Er hat es doch bereits. Wenn er sich etwas einmal angesehen hat, dann braucht er keinen zweiten Blick, so wie unsereins. Er hat alles gesehen und kennt jedes Detail. Übrigens ist ihm auch das Hämatom aufgefallen.“

„Respekt!“

„Aber den Dolch, den hat er noch nicht gesehen. Schließlich war der bisher ja in dem Schuhkarton im Schlafzimmer.“

Friedrichs gab Anna den Dolch. „Viel Glück!“

*



Im Flur traf Anna noch einmal auf Haller. Der telefonierte gerade und sagte zweimal kurz und knapp: „Jawohl!“

Mit einem Zeichen bedeutete er Anna, noch nicht zu Branagorn zu gehen, der geduldig in der Küche wartete. Offenbar wollte Haller ihr noch irgendetwas mitteilen.

Nach mehreren ungeduldigen „Hms!“, die man auch mit „Etwas schneller und kurzgefasster bitte, ich bin in Eile!“ hätte übersetzen können, folgte schließlich ein „Sehr interessant, Wolli! Aber die Einzelheiten will ich gar nicht wissen. Nein, ich fahre jetzt mit Raaben nach Kattenvenne und nehme Timothy Winkelströter fest. Alles andere werden wir dann klären können.“

Haller beendete das Gespräch und steckte das Handy ein.

„Kommst du endlich?“, rief Kevin Raaben von der Tür aus. Er kaute auf einem Kaugummi herum. Man musste kein Experte für Körpersprache und Mimik zu sein, um zu erkennen, dass Haller das nicht leiden konnte.

„Sofort“, knurrte er den Kollegen an und Anna hatte in diesem Moment aus irgendeinem Grund die Assoziation eines kläffenden Terriers.

Haller wandte sich Anna zu. „Du hast ja mitgehört.“

„Ja.“

„Kevin und ich kümmern uns jetzt um Winkelströter und ich bin mal gespannt, wie viele Dellen sein Wagen hat!“

„Vielleicht willst du noch warten, bis Branagorn sich den Dolch angesehen hat.“

„Keine Zeit. Es gibt noch eine interessante Neuigkeit. Gerade hat Wolli aus dem Innendienst angerufen. Wusstest du, dass Timothy Winkelströter mal Jäger war?“

„Nein.“ Woher auch?, dachte Anna etwas ärgerlich. Habe ich vielleicht einen Polizeiapparat hinter mir, der mir zuarbeitet?

„Vor siebeneinhalb Jahren, als das erste Opfer des Barbiers umgebracht wurde, war er es jedenfalls noch. Dann wurde er aus dem Jagdverein ausgeschlossen und musste auch seine Waffen abgeben.

Anna nickte leicht.

Jana Buddemeier, Opfer Nummer eins in der inzwischen schon schon recht ansehnlichen Liste, die der Barbier auf seinem Kerbholz hatte, war mit einer Jagdwaffe ermordet worden.

„Das würde zumindest erklären, weshalb der Täter danach die Waffe gewechselt hat!“, stimmte Anna zu.

„Du kümmerst dich um Frank Schmitt und mach ihm bitte auch klar, dass er sein Schwert fürs Erste nicht zurückbekommt,“ Haller zuckte die Achsel. „Ist sowieso verbogen. Die magische Kraft dürfte doch damit auch flöten gegangen sein, meinst du nicht?“

„Er wird das nicht lustig finden.“

„Ja – das zweite Schwert innerhalb kurzer Zeit – das muss schlimm sein!“

*



Anna ging zu Branagorn in die Küche.

„Der Hüter der Ordnung irrt sich“, sagte Branagorn. „Der werte Herr Timothy mag manchmal über ein unangenehmes Temperament verfügen – aber ist in diesem Fall unschuldig.“

„Wie können Sie sich da so sicher sein?“

„Weil ...“

„Sie konnten den Autotyp nicht nennen und Sie haben auch nicht erkennen können, wer im Inneren saß! Sie haben gerade das Gespräch auf dem Flur mitgehört?“

„Ich konnte nicht umhin. Wir Elben haben sehr empfindliche Sinne, wie ich Euch ja schon mal erklärte. Das gilt insbesondere für Augen und Ohren.“

„Dann werden Sie ja mitbekommen haben, dass erhebliche Indizien gegen Herrn Winkelströter vorliegen.“

„Er ist aber schon vorher davongefahren!“

„Aber das haben Sie nicht gesehen!“

„Ich habe es gehört!“, beharrte Branagorn. „Ich kenne mich mit den Fabrikaten nicht aus. Das Automobil ist nach meinen Zeitbegriffen erst vor einer Zeitspanne erfunden worden, die einem Wimpernschlag der Geschichte gleichkommt. Und die Fabrikate haben so schnell einander abgelöst, dass es mir unmöglich ist, da mitzukommen. Im Übrigen fehlte mir auch, ehrlich gesagt, das Interesse daran, mich mit dieser unästhetischen Erfindung näher zu beschäftigen, die so vollkommen bar jeder Magie ist ...“ Branagorn lehnte sich etwas zurück und sein Blick schien ins Nichts gerichtet zu sein. Er wirkte wie jemand, dessen Gedanken in diesem Moment sehr weit zurück in die Vergangenheit gewandert waren. Anna hatte das oft bei betagten Patienten gesehen, die mehr in der Vergangenheit, als in der Gegenwart lebten. Aber Frank Schmitt war nicht betagt! Ein flüchtiges Lächeln flog über Branagorns Lippen. „Dasselbe in grün ...“, murmelte er.

„Wie bitte.“

„Ach. Für Euch bedeutet es nichts.“

„Ich bin Ihre Therapeutin. Alles, was für Sie bedeutsam ist, bedeutet auch für mich etwas.“

„In den zwanziger Jahren hat Opel ein Automobil gebaut, das in fast jedem Detail der Konkurrenz von Citroen glich. Nur nicht in der Farbe, denn der Opel war in Grün. Das einzige Auto mit grüner Karosserie damals. Darum haben die Leute 'dasselbe in Grün' dazu gesagt und der Ausdruck hat sich bis heute erhalten. Es gab übrigens auch einen lang andauernden Rechtsstreit wegen Patentverletzung, aber Opel hat sich schließlich vor den deutschen Gerichten durchgesetzt – und das Argument dabei war, dass sich das Modell ja schließlich durch die Farbe unterscheiden würde.“

„Eine hübsche Geschichte.“

„Die Wahrheit, werte Cherenwen! Sprecht mal mit Automobilisten aus dieser Zeit, obwohl ... Ach, so kurzlebig, wie die Menschen nun mal sind, werdet Ihr wohl kaum noch jemanden finden, der damals schon alt genug war, ein Automobil zu fahren ... Obwohl – mit etwas Glück?“

„Johannes Heesters kann sich daran vielleicht noch erinnern, aber sonst wohl niemand.“

„Wo ist Eure Seele zu dieser Zeit gewesen, Cherenwen? Schon auf dieser Welt? Vielleicht in einem anderen Körper?“

„Ich denke, wir kümmern uns erst einmal um das hier!“, unterband Anna fürs Erste jede weitergehende esoterische Spekulation und legte den Dolch vor Branagorn auf den Tisch.

Branagorns Augen wurden groß. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er wich instinktiv einige Zentimeter zurück – beinahe so, als ob von diesem Gegenstand eine dunkle magische Kraft ausging, die ihn zurückschrecken ließ.

„Woher habt Ihr dieses Artefakt?“, stieß er hervor. Dann stand er auf und wich zwei Schritte zurück. Er murmelte eine Formel vor sich hin und steckte die langfingrigen Hände aus und richtete dabei seine Fingerspitzen auf den Dolch.

„Branagorn!“, versuchte Anna sich Gehör zu verschaffen.

Meyer zu Gentrup kam durch die Küchentür.

„Alles unter Kontrolle, Frau ...?“ Weiter kam er nicht, denn er starrte nur den Elbenkrieger an, der mit seinem magischen Ritual fortfuhr.

Branagorn stieß einen Schrei aus, der dafür sorgte, dass sich noch ein weiterer Beamter durch die Küchentür zu drängen versuchte.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Herr Schmitt?“, fragte Meyer zu Gentrup.

Branagorn gab keine Antwort. Er senkte jetzt die Arme und atmete tief durch. „Es besteht kein Grund zur Beunruhigung mehr“, erklärte er. „Die üblen Kräfte sind gebannt, die womöglich die Aura dieser Waffe vergiftet haben.“

Meyer zu Gentrup wandte sich mit einem nach wie vor ziemlich besorgten Gesichtsausdruck an Anna. „Und Sie sind sich sicher, dass Sie die Lage hier wirklich unter Kontrolle haben?“

„Vollkommen, Sie lassen uns jetzt am besten allein.“

„Wie Sie meinen. Aber wenn Sie Hilfe brauchen ...“

„Danke, ich komme klar.“

Meyer zu Gentrup tauschte einen sehr skeptischen Blick mit seinem Kollegen, aber schließlich verließen doch beide die Küche und ließen Anna mit ihrem Patienten allein.

„Erklären Sie mir, weshalb Sie so reagiert haben, Branagorn?“

„Ich habe diese Waffe schon einmal gesehen – nein, diese Waffe nicht, sondern eine Waffe, die genauso aussah.“

„Und bei welcher Gelegenheit?“

„Erinnern Sie sich an den Pest-Arzt auf dem Mittelalter-Markt in Telgte?“

„Den werde ich wohl bis an mein Lebensende nicht vergessen, Branagorn!“

„Der Dolch war unter der Kleidung verborgen. Aber für einen kurzen Moment war der Dolch sichtbar, als der Stoff des Mantels zur Seite glitt.“

„Sind Sie sich vollkommen sicher?“

„Vollkommen.“

„Warum haben Sie bisher nichts davon gesagt, Branagorn.“

„Weil mich niemand gefragt hat. Und davon abgesehen erschien bisher wohl auch niemandem das als ein wesentliches Faktum, wenn mir diese Bemerkung erlaubt sei.“

„Das stimmt natürlich“, gab Anna zu.

„Darf ich nun erfahren, wem diese Klinge gehört, die Ihr mir vorgelegt habt, werte Cherenwen?“

„Sie war im Besitz von Nadine Schmalstieg. Ein Geburtstagsgeschenk, das Timothy Winkelströter ihr gemacht hat. Er vertreibt diese Dolche über seinen Internet-Shop.“

„Und so verleitet dies die Hüter der Ordnung ein weiteres Mal einer falschen Spur zu folgen“, lautete Branagorns Kommentar dazu. „Das ist bedauerlich, denn es wäre zweifellos besser, wenn jetzt alle Kräfte gegen das Böse vereint wären. Doch das bleibt wohl nach all den Jahrtausenden ein vergeblicher Wunsch, der sich wohl niemals erfüllen wird ...“

„Sie verlangen immer von anderen, dass sie Ihre Erkenntnisse und Sichtweisen in ihre Betrachtungen miteinbeziehen sollen“, stellte Anna nach einer kurzen Pause fest.

Branagorn blickte ruckartig auf, musterte sie kurz und legte dann die Stirn in Falten. „Ist das etwa zu viel verlangt, werte Cherenwen? Ich will mich Eurer Erkenntnis nicht verschließen. Schließlich scheint es tatsächlich so zu sein, dass Eure Seele diese Welt vor noch nicht langer Zeit erreichte, wie es bei mir der Fall ist. Und das bedeutet, dass Ihr die Verhältnisse hier vielleicht mit einem größeren Maß an Unabhängigkeit zu beurteilen vermögt, als mir das möglich ist, der ich vielleicht im Verlauf der Jahrtausende einfach schon zu müde geworden bin, immer wieder Zeuge derselben Grausamkeiten zu werden. Und abgesehen davon, müsst Ihr Ewigkeiten in den Sphären der Eldran zugebracht haben.“

„Ich werde Sie jetzt nicht fragen, was das sein soll, Branagorn. Dazu haben wir nämlich jetzt keine Zeit.“

„Ihr erinnert Euch wirklich nicht an Euer Dasein als Eldran? So nennen wir die verklärten Totengeister der Elben.“

„Was halten Sie davon, wenn wir jetzt einfach mal bei dieser Sarah Aufderhaar vorbeifahren“, glaubte Anna dann genau den richtigen Hebel gefunden zu haben, um ihn auf ein anderes, weniger esoterisches Gesprächsterrain zu locken.

„Wie Ihr wünscht, Cherenwen. Und ich kann Euch nur mein tiefstes Bedauern darüber ausdrücken, dass offenbar weder die Erinnerung an Euer früheres Leben als Elbin noch an Eure Zeit als Eldran im Reich der Geister inzwischen zurückgekehrt ist. Aber ich möchte Euch dazu ermutigen, in aller Geduld darauf zu warten. Denn Eure Erlebnisse aus dieser Zeit sind zweifellos so stark gewesen, dass es nicht vorstellbar erscheint, dass Eure Seele nicht wenigstens Spuren davon bewahrt hätte! Glaubt mir! Was Ihr einst gewesen seid, werdet Ihr wieder sein.“

Anna seufzte. „Kommen Sie!“, forderte sie ihn auf.


Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung

Подняться наверх