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Verdächtige und Zeugen

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Anna führte Branagorn zu ihrem Wagen. „Steigen Sie ruhig ein“, ermutigte sie ihn, als sie merkte, dass er aus irgendeinem Grund zögerte, die Tür zu öffnen, nachdem sie mithilfe ihres Schlüssels die Zentralverriegelung gelöst hatte.

„Ich frage mich, ob wir in diesen Kampf wirklich ohne ein magisches Artefakt gehen sollten!“

„Wir kämpfen nicht, Branagorn. Wir ermitteln allenfalls – und selbst das tun wir im Grunde nicht. Eigentlich suchen wir nur ein paar Anhaltspunkte – und ich tue Ihnen einen Gefallen.“

Branagorn schien ihr gar nicht zuzuhören. Nicht zuletzt deshalb ließ Anna ihren Wortschwall auch schließlich versiegen. Wenn die eigenen Worte das Gegenüber gar nicht mehr erreichten, war es besser zu schweigen – wenngleich Anna nur zu gut aus eigener leidvoller Erfahrung wusste, dass gerade Angehöriger sozialer und sogenannter helfender Berufe diese Maxime meistens überhaupt nicht beherzigten.

Für sie selbst traf das im Übrigen ebenfalls zu, wie ihr sehr bewusst war.

„Ich nehme an, es besteht im Moment keine Möglichkeit, mein Schwert zurückzuerhalten“, sagte Branagorn.

„Sie vermuten richtig.“

„Und den Dolch, den Ihr mir vorhin gezeigt hat? Könnten wir nicht wenigstens ihn mitnehmen?“

„Nein, das ist auch unmöglich. Und das wissen Sie auch genau. Branagorn, steigen Sie jetzt endlich ein. Ihre geistige Kraft ist groß genug, um ohne ein Artefakt Magie auszustrahlen.“

Branagorns Gesicht hellte sich auf. „Ihr scheint mich inzwischen tiefer zu verstehen, als ich es je zu hoffen wagte! Und Eure Erinnerungen an Cherenwen scheinen zurückzukehren. Erinnerungen, die Euch bestätigen werden, dass Magie keineswegs der Einbildung kranker Geister entspringt, sondern selbst in dieser nüchternen Welt eine Realität ist!“

„Einsteigen!“, beharrte Anna und der barsche Tonfall, in dem sie dieses eine Wort jetzt ausgesprochen hatte, erstaunte sie selbst am meisten.

Aber Branagorn gehorchte, öffnete augenblicklich die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz des Renault.

Anna setzte sich ans Steuer.

„Es ist nicht weit von hier“, versprach Branagorn.

*



Wenig später parkte Anna ihren Wagen vor dem Haus, in dem Sarah Aufderhaar wohnte.

„Sie hat noch eine Zwillingsschwester namens Melanie“, erklärte Branagorn. „Vielleicht erkundigt Ihr Euch auch nach ihr, wenn es Euch gelingen sollte, mit Sarah zu sprechen.“

„Das werde ich gerne tun.“

„Und möglicherweise erlaubt es Euch Euer angeborenes diplomatisches Geschick auch, A. Gross zu befragen. Er bewohnt die untere Wohnung. Fragt ihn, was hinter der Tür zu finden ist, die seiner Wohnung gegenüberliegt! Es ist unmöglich, dass er davon nichts weiß.“

„Warten Sie einfach hier im Wagen, Branagorn. Auch wenn es Ihnen schwer fällt: Bleiben Sie hier und rühren Sie sich nicht von der Stelle! Sonst gibt es nur wieder irgendwelchen Ärger.“

Branagorn nickte leicht. „Ihr habt zweifellos Recht, werte Cherenwen und so werde ich mich nach Euren Worten richten, auch wenn mir das sehr schwerfällt.“

Anna atmete tief durch, als müsste sie für die Aufgabe, die ihr bevorstand, erst einmal genügend Sauerstoff in sich hineinsaugen. Sie hatte ein sehr mulmiges Gefühl, wenn sie daran dachte. Die Grenzen dessen, was eigentlich die Aufgabe von Psychologen und Therapeuten war, hatte sie längst und in jeder nur denkbaren Hinsicht überschritten. Sowohl, was ihre Funktion als Beraterin der Polizei anging, als auch im Hinblick auf ihr therapeutisches Verhältnis zu einem Patienten namens Frank Schmitt.

Aber Anna fand, dass es trotzdem richtig war. Schließlich ging es darum, einen Serienmörder zu stellen. Und das rechtfertigte in ihren Augen einen Verstoß gegen die Regeln. Zumindest versuchte Anna sich das immer wieder einzureden. So richtig überzeugt war sie davon nicht. Sie gab sich einen Ruck und stieg aus.

Dann ging sie bis zur Haustür und betätigte die Klingel.

An der Sprechanlage meldete sich jemand.

Eine Frau.

„Was wollen Sie?“

„Ich möchte mit Sarah Aufderhaar sprechen“, erklärte Anna und benutzte dabei den neutralsten, sachlichsten Tonfall, den sie mit Hilfe ihrer Stimmbänder zu erzeugen vermochte.

„Wer sind Sie denn?“

„Mein Name ist Anna van der Pütten, Diplom-Psychologin. Und ich komme in einer sehr persönlichen Angelegenheit, die ich schlecht hier am Sprechgerät mit Ihnen bereden kann. Deswegen wäre es nett, wenn Sie mir die Tür aufmachen würden.“

„Es tut mir leid, aber mir ist zurzeit nicht gut. Und deswegen ...“

„Einen Moment!“, fiel Anna der Sprecherin ins Wort, aber es war bereits zu spät.

Ein Knacken in der Leitung war noch zu hören, dann war die Verbindung unterbrochen. Aber so schnell gedachte Anna nicht aufzugeben. Sie klingelte noch einmal, aber diesmal gab es keine Reaktion aus der Aufderhaar-Wohnung.

Anna blickte die Fassade empor und entdeckte einen Spiegel an einem der Fenster im Obergeschoss. Es schien sich um einen ganz gewöhnlichen Außenspiegel eines Autos zu handeln, der einfach an einer Fensterbank festgemacht und so ausgerichtet worden war, dass man aus dem oberen Stockwerk in die Haustürnische sehen konnte. Ein einfaches und sehr zuverlässiges System!, musste Anna zugeben.

Sie beobachtet mich also!, ging es Anna durch den Kopf. Vermutlich saß Sarah Aufderhaar – oder ihre Zwillingsschwester – jetzt am Fenster und sah auf sie herab.

Anna klingelte noch einmal. Wieder keine Reaktion.

Dann folgte Anna einem spontanen Gedanken, etwas was sie normalerweise tunlichst vermied. Aber offenbar war ihre Neugier, was die Hintergründe dieses Falles anging, einfach inzwischen stärker geworden als ihr Hang zur Vorsicht und zu wohl abgewogenen, bestens vorbereiteten Handlungen. Jedenfalls stellte sie selbst überrascht fest, dass ihr Zeigefinger die Klingel von A. Gross bereits gedrückt hatte, noch ehe sie das Für und Wider wirklich bis ins Letzte abgewogen hatte.

Zunächst gab es auch hier keine Reaktion.

Anna blickte noch einmal auf und glaubte in dem Spiegel irgendeine Bewegung zu sehen. Vielleicht war es nur eine Reflexion des Sonnenlichts oder der Schatten eines Vogels. Aber es konnte genauso gut sein, dass eine Beobachterin im zweiten Stock diese Veränderung ausgelöst hatte. Also doch!, dachte sie.

Eigentlich hatte sie den Wagen so geparkt, dass man aus den Fenstern des Obergeschosses nicht sehen konnte, wer auf dem Beifahrersitz saß. Aber eine Garantie dafür, dass Sarah Aufderhaar Branagorn nicht doch gesehen hatte und nun einfach weder mit ihm noch mit seiner Stellvertreterin zusammentreffen wollte, gab es nicht.

Anna versuchte es ein letztes Mal und diesmal drückte sie beide Klingeln. Sie fühlte sich an die Zeiten erinnert, als sie noch keine zehn gewesen war und zusammen mit Freunden von Haus zu Haus gezogen war, um die Bewohner hervorzuklingeln und dann rechtzeitig zu verschwinden, ehe jemand kam. Pingelmännchen hatten sie das genannt und Anna hatte das auch ein einziges Mal mitgemacht und dann noch wochenlang ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt.

Das surrende Geräusch, das von der Tür im nächsten Moment ausging, überraschte sie. Über die Sprechanlange hatte sich niemand gemeldet, stattdessen war einfach die Tür geöffnet worden. Anna drückte dagegen und trat in den Flur.

Ihr Blick glitt zunächst die Treppe hinauf, aber dann kam ihr im Erdgeschoss ein Mann im karierten Hemd entgegen.

„Guten Tag, wer sind Sie?“, fragte er und dabei klemmte er seine Daumen hinter die Hosenträger, die er zusätzlich zu seinem Gürtel trug.

„Mein Name ist Anna van der Pütten, ich bin Kriminalpsychologin.“

„Wie bitte? Polizei?“

Anna überlegte einen Moment und entschied sich dann, ihrem Gegenüber einfach nicht zu widersprechen. Eine richtige Lüge war das schließlich nicht und es bestand ja die begründete Hoffnung, dass das Schweigen in diesem entscheidenden Punkt die Kommunikation erheblich erleichtern würde. Juristisch sah das natürlich weniger gut aus, aber Anna sagte sich, dass sie darauf im Moment keine Rücksicht nehmen wollte. Wenn sie sich später wegen dieses Gesprächs verantworten musste, dann konnte sie immer noch behaupten, dass es sich schlicht und ergreifend um ein Missverständnis handelte. Jeder benutzte eben sein Gegenüber als Projektionsfläche für die eigenen Wünsche oder Befürchtungen. Und wenn dieser Mann in ihr eine Polizistin sah, obwohl sie sich doch eindeutig als etwas ganz anderes vorgestellt hatte, so konnte sie nichts dafür. Zumindest versuchte sie sich das einzureden.

„Sie sind Herr Gross nehme ich an“, stellte Anna fest und der Mann nickte heftig.

„Ja, Arnold Gross. Was wollen Sie denn von mir?“

„Wie gesagt, ich arbeite für die Kriminalpolizei. Haben Sie von dem Barbier gehört? Dem Mörder, der seinen Opfern die Haare abschneidet, nachdem er sie umgebracht hat.“

„Für eine Zeitung bin ich zu geizig, das sage ich ganz ehrlich“, sagte Arnold Gross. „Was da drin steht sind meistens ja auch die reinsten Räuberpistolen. Oder die Politik! Da werden wir doch auch von vorne bis hinten verarscht. Aber ich höre Radio und da haben sie ja auch immer mal wieder was darüber gebracht. Wenn Sie mich fragen, dann kann man ja heute nicht mehr unbehelligt über die Straße gehen, ohne dass man befürchten muss, dass man Opfer eines Gewaltverbrechens wird! Zum Beispiel diese U-Bahn-Schläger ...“

Von Höcksken auf Stöcksken!, dachte Anna etwas genervt. Die Art und Weise, wie A. Gross die verschiedensten Themen in ein und demselben Atemzug miteinander vermengte und mit kühnen Ketten wildwuchernder Assoziationen einfach miteinander verband, wirkte wie eine verbale Demonstration dieser in weiten Teilen des Münsterlands bekannten Redensart.

„Also um ehrlich zu sein, wollte ich Sie eigentlich etwas zu Frau Aufderhaar von oben fragen.“

„Kommt drauf an, welche der beiden Frauen Aufderhaar Sie meinen. Auseinanderhalten kann ich die beiden nämlich eigentlich nur an ihrer unterschiedlich stark ausgeprägten Unfreundlichkeit. Die eine ist sehr unfreundlich und ihre Zwillingsschwester äußerst unfreundlich, wenn ich das mal so charakterisieren soll ... Aber irgendwie kann ich das auch verstehen. Schließlich ...“

Von oben war ein Knarren zu hören, so als würde jemand auf dem Treppenabsatz stehen und das Gewicht seines Körpers leicht von einem Bein auf das andere verlagern. Eine Fliege, die bisher in aller Ruhe auf dem Handlauf der Treppe ausgeharrt hatte, stob durch ein leichtes Zittern davon. So als hätte sich dort jemand aufgestützt!, ging es Anna van der Pütten durch den Kopf.

„Hallo – ist da wer?“, fragte sie.

„Ach, hier knarrt und knarzt es wie in einem Geisterhaus“, meinte Arnold Gross. „Wollen Sie einen Moment hereinkommen?“

Anna war angesichts dieser aggressiven Gastfreundlichkeit etwas überrascht. Offenbar hatte dieser Mann ansonsten wenig Gelegenheit, jemandem die Ohren vollzuquatschen, dachte sie. Aber in diesem Fall war es vielleicht legitim, das auszunutzen.

„Gerne“, sagte sie.

„Trinken Sie Kaffee?“

„Nein, danke.“

„Ich auch nicht. Nur Tee. Aber ich hätte Kaffee für Sie gemacht, wenn Sie gewollt hätten.“

Anna folgte A. Gross in dessen Wohnung. Schon auf den ersten Blick in den Flur war für Anna erkennbar, dass sie es mit einem sogenannten Messi zu tun hatte. Die Wohnung war vollkommen vermüllt. Der Flur war eigentlich sehr breit, aber es blieb nur ein schmaler Pfad in der Mitte, durch den man hindurchgehen konnte. Rechts und links waren die Wände mit übereinander gestapelten Kartons vollgestellt. Arnold Gross räumte eine Stehleiter noch schnell zur Seite, mit der er wohl üblicherweise die oberen Etagen dieser äußerst gewagten Karton-Bauwerke erreichte. Aus den Grifflöchern einiger dieser Pappkartons ragten Papierrollen und Blumenstäbe heraus. Zumindest glaubte Anna, dass es sich darum handelte.

Ein penetranter Geruch hing in der Luft.

Anna atmete sehr vorsichtig ein, um die mögliche Dosis an Gift- und Fäulnisstoffen, die sie dabei womöglich in sich aufnahm, nicht unnötig zu vergrößern. Aber es roch keineswegs nach Fäulnis oder verdorbenen Lebensmitteln, wie Anna eigentlich erwartet hatte, sondern nach etwas anderem.

Sie blieb stehen und war schließlich doch dazu gezwungen, einen etwas tieferen Atemzug direkt durch die Nase zu nehmen, um diese Duftnote olfaktorisch näher bestimmen zu können.

Leim!, glaubte sie zu erkennen. Leim oder Tapetenkleister!

Für Branagorn mit seinen extrem empfindlichen Sinnen wäre es sicherlich eine Kleinigkeit gewesen, genau an der Duftnuance noch die genaue Beschaffenheit zu erkennen!, dachte sie ironisch. Aber sie war nun einmal weder eine Elbin noch eine Savant und ganz gleich, welche Ursache man für Branagorns gesteigerte Sinneswahrnehmung auch immer haben mochte, so stand doch außer Frage, dass er jedem anderen Menschen, den Anna kannte, darin überlegen war.

Allerdings hätte er vermutlich Schwierigkeiten gehabt, seine Sinneseindrücke hinterher so in Worte zu fassen, dass ein normaler Mensch das auch verstehen kann!, ging es Anna durch den Kopf. Aber eigentlich war das nicht weiter verwunderlich. Schließlich war Branagorn auf seine Weise und mit seinen speziellen Fähigkeiten einzigartig. Die Anzahl der weltweit bekannten Savants bewegte sich im zweistelligen Bereich und jeder von denen unterschied sich doch so sehr von den anderen, dass sie in der Regel noch nicht einmal erwarten konnten, unter ihresgleichen mehr Verständnis zu finden. Mehr Verständnis oder einfach nur eine etwas leichtere Kommunikation.

„Ja, ich weiß, es sieht hier vorübergehend ein bisschen wild aus“, sagte Arnold Gross.

Nein, das sieht nicht vorübergehend so aus, sondern schon seit schätzungsweise einem oder anderthalb Jahrzehnten!, dachte Anna, behielt ihren Kommentar aber tunlichst für sich. Schließlich war sie ja nicht hier, um etwa zu beurteilen, ob dieser Mann noch fähig war, für sich selbst zu sorgen oder ob man ihm von Amts wegen irgendwelche Hilfen aufzwingen musste. In seinem eigenen Interesse natürlich.

Arnold Gross führte Anna in einen Raum, der vielleicht vor grauer Vorzeit mal ein Wohnzimmer gewesen war, auch wenn man das jetzt kaum noch erkennen konnte: Überall standen Kisten und Plastikbeutel. Und auf dem Tisch waren mehrere halbfertige Modellsegelschiffe zu sehen, außerdem standen zwei fertige Modelle in offenen Pappkartons. Offenbar mussten sie trocknen, jedenfalls rochen sie stark nach irgendeinem Lack, ein Geruch, der allerdings noch durch den Geruch von Klebstoff überlagert wurde.

Arnold Gross räumte eine der Kisten von einem Sessel herunter. „Bitte, nehmen Sie Platz“, sagte er.

Unter der Kiste lagen allerdings ein paar Pinsel. Anna hob sie sie auf und gab sie Gross. „Bitte! Da würde ich mich ungern draufsetzen.“

„Echthaarpinsel. Die mache ich selber, denn das, was man kaufen kann, taugt nichts. Zumindest nicht für meine Zwecke, wo es darum geht, Lacke und Klebstoffe möglichst gleichmäßig zu verteilen. Und ich will ja bei meinen Modellen nicht beim Lackieren die Hälfte der Details wieder zerstören, wenn Sie verstehen, was ich meine!“

„Natürlich.“ Anna setzte sich. Es kostete sie etwas Überwindung, denn wirklich sauber war es hier nicht. Auf dem Handlauf des Sessels hatte sich etwas Staub angesammelt. Sie setzte sich einfach deshalb, weil alles andere wie ein Affront gewirkt hätte. „Sie betreiben ja ein ziemlich intensives Hobby, Herr Gross!“

„Ja, seit meine Frau tot ist, vertreibe ich mir damit die Zeit.“

„Dass es dabei auf die Haare der Pinsel so sehr ankommt, habe ich gar nicht gewusst. Woher bekommen Sie denn die Haare?“

Gross blickte auf und stutzte. Dann schien er zu begreifen.

„Von einem Kaninchenzüchter.“ Er grinste. „Also ich rasiere dafür niemanden den Schädel ab, obwohl man Menschenhaar auch kaufen kann. Das wird in der Perückenherstellung zum Beispiel verwendet. Aber Sie hatten ein paar Fragen an mich.“

„Ja, ich weiß nicht, ob Sie schon gehört haben, dass dieser Barbier wieder zugeschlagen hat. Hier in Borghorst nur ein paar Straßen weiter ist eine Frau umgebracht worden.“

„Das ist ja furchtbar. Und Sie glauben, dass die Aufderhaar-Frauen von oben etwas damit zu tun haben?“

„Nein, eigentlich nicht. Aber sie könnten wichtige Zeuginnen sein. Auf jeden Fall kannte eine von ihnen das Opfer. Das steht fest. Und wir ermitteln jetzt einfach im Opferumfeld.“

„Wie heißt denn das Opfer? Vielleicht kenne ich es ja auch!“

„Nadine Schmalstieg.“

Gross kniff die Augen etwas zusammen. „Sagt mir jetzt nichts, der Name.“

„Was können Sie mir denn über die Aufderhaar-Frauen sagen? Es sind ja wohl Zwillinge. Und als Sie erwähnten, wie unfreundlich die sind, meinten Sie, dass man das auch irgendwie verstehen könnte.“

„Ja, die beiden haben es ja auch nicht einfach, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Nein, tut mir leid, verstehe ich nicht.“

„Soll ich Ihnen einen Tee eingießen?“

„Nein danke.“

„Aber Sie gestatten, dass ich mir eine Tasse genehmige.“

„Natürlich.“

Er ging davon und verschwand in einem weiteren Raum, der an das ehemalige Wohnzimmer angrenzte. Anna hörte ihn herumhantieren und Geschirr klappern. Anschließend war auch zu hören, wie er einen Wasserhahn aufdrehte. Offenbar musste er sich erst eine Tasse suchen und abwaschen, bevor er sich Tee eingießen konnte. Anna überlegte schon, ihm zu folgen, um ihn besser verstehen zu können, denn er redete die ganze Zeit unablässig weiter. Doch dann kehrte er schneller zurück, als sie erwartet hatte und sie war froh sitzen geblieben zu sein. Das, was in dieser Wohnung mal eine Küche gewesen war, musste sie nicht auch noch unbedingt mit eigenen Augen sehen. Die gute Stube, in der sie ihren Sitzplatz bekommen hatte, reichte vollkommen aus.

„Wissen Sie, mit Melanie Aufderhaar habe ich mich früher recht gut verstanden. Sie hat sich häufiger mal Ratschläge geholt.“

„Ratschläge?“

„Ja, handwerklicher Art. Welche Klebstoffe sich gut verarbeiten lassen und welche Farben man nehmen sollte, wenn man bei der Verarbeitung nicht andauernd tränende Augen und einen kratzenden Hals haben will oder eine Gasmaske braucht.“

„Sagen Sie bloß, Melanie Aufderhaar fertigt ebenfalls Modellsegelschiffe an!“

Gross schüttelte den Kopf. „Dieser Gedanke wäre nun wirklich abwegig“, meinte er und setzte sich nun ebenfalls, wobei er mit seiner bis zum Rand gefüllten Teetasse plemperte.

Der Tee selbst war so hell und durchsichtig, dass man ihn eher als leicht getöntes Wasser bezeichnen konnte. „Melanie hat ein anderes Hobby. Sie fertigt Puppen an mit Porzellangesichtern. Das wäre mir zu empfindlich. Die fallen hin und gehen kaputt, wenn man sie nur streng ansieht! Aber ich muss aus rein handwerklicher Sicht sagen, dass sie ziemlich talentiert ist. Kennen Sie das Krippenmuseum in Telgte?“

„Ja, davon habe ich gehört. Aber ehrlich gesagt war ich noch nie dort.“

„Dort werden Weihnachtskrippen aller Art ausgestellt. Und Melanie Aufderhaar hatte dort auch mal eine Krippe eingereicht, die sogar irgendeinen Künstler-Preis gewonnen hat. Fragen Sie mich nicht mehr welchen. Aber es stand groß in der Zeitung.“

„Ich dachte, die lesen Sie nicht!“

„Das ist schon ein paar Jahre her. Da habe ich mir noch diesen überflüssigen Luxus geleistet“, parierte Arnold Gross Annas Frage. „Tja, in den letzten Jahren ist es immer weniger dazu gekommen, dass sie mal bei mir reingeschaut hat, um sich irgendeinen Leim auszuleihen.“

„Was macht Melanie eigentlich beruflich?“, fragte Anna. „Ihre Schwester ist ja wohl bei der Kreisverwaltung in Burgsteinfurt.“

„Ich glaube nicht, dass Melanie berufstätig ist. Ihre Schwester Sarah versorgt sie.“

„Etwas ungewöhnlich, finden Sie nicht? Auch wenn Zwillinge ja eine besonders starke Bindung zueinander haben, wie man allgemein sagt.“

„Ja, und die ist in diesem Fall wohl besonders stark“, glaubte Gross.

„Wieso?“

„Ich lebe ja schon länger in dieser Straße. Die beiden Aufderhaar-Schwestern kamen erst später hinzu, als das Ehepaar Grömpinger, das oben lange gelebt hat, gemeinsam ins Altenheim umgezogen ist. Aber ich kenne die Zwillinge schon seit ihrer Jugendzeit. Die wohnten nämlich in einem Haus ein Stück die Straße lang. Das ist vor fünfzehn Jahren abgebrannt. Beide Eltern sind dabei umgekommen und außerdem noch ein jüngerer Bruder. Und Melanie hatte wirklich großes Glück, da herauszukommen.

„Sarah nicht?“

„Sie war nicht zu Hause. Klassenfahrt mit der Schule oder so etwas. Die beiden sind zwar Zwillinge, aber Melanie hatte immer mehr Schwierigkeiten beim Lernen und musste deswegen mal ein Schuljahr wiederholen. Deswegen waren sie auch in verschiedenen Klassen.“

„Sie erzählen das, als hätten Sie die Familie wirklich gut gekannt.“

„Der Vater war bei mir in der Firma. Also damals, als ich noch nicht in Rente war. Wir haben beide als Großhandelskaufleute in einer Spedition unseren Job gehabt, allerdings war ich schon fast draußen, als der Harald – so hieß der Vater der Zwillinge – da anfing. Wir sind auch öfter mal zusammen zur Jagd gegangen, aber dann machte mein Knie nicht mehr mit und ich habe das drangegeben.“ Gross nahm einen Schluck von seinem dünnen Tee. Seinem Gesicht war anzusehen, wie sehr ihn die Erinnerung wohl noch immer verstörte, wenn er darüber sprach. „Ich habe das damals mit angesehen. Die Feuerwehr kam, der brennende Dachstuhl stürzte ein ... Mein Gott, da war wirklich nichts mehr zu machen und ehrlich gesagt, hat wohl zuerst nicht einmal mehr die Feuerwehr daran geglaubt, dass da überhaupt noch jemand zu retten war.“

„Wo sind die Zwillinge dann aufgewachsen?“

„Bei ihrer Tante. Wohnt auch nur ein paar Straßen weiter.“

„Wie heißt diese Tante?“

„Die haben immer Tante Helga zu ihr gesagt. Ich glaube Helga Plüher, es war nämlich eine Schwester der Mutter. Die hatte es auch nicht leicht ...“

„Was fahren die beiden denn für Autos?“, fragte Anna.

Gross wirkte etwas überrascht. „Einen Audi. Mit dem fährt Sarah zu ihrer Arbeit in Burgsteinfurt. Der öffentliche Nahverkehr ist ja auch nicht mehr das, was er mal war. Ich sag immer, als älterer Mensch muss man froh sein, in dem Teil der Stadt zu leben, in dem sich das Krankenhaus befindet! Darum sind die Borghorster gegenüber den Burgsteinfurtern auch auf jeden Fall im Vorteil! Gerade, wenn man in meinem Alter ist. Und auch als meine Frau krank wurde, war es sehr gut, dass wir die Klinik hier gleich um die Ecke haben, denn ich habe zwar noch ein Auto und würde auch den Führerschein niemals abgeben, aber ...“ Er machte eine Bewegung mit der Hand, die wohl unterstreichen sollte, dass er sich am Steuer nicht mehr wirklich sicher fühlte. „Ich will ja noch eine Weile leben, sag ich mir immer. Und der Tod im Straßenverkehr ist ja nun auch nicht unbedingt das, was man sich so für sein Ende vorstellt. Besser Herzsekundentod – abends ins Bett, Augen zu und nicht mehr aufwachen. Das ist das Beste.“

„Herr Gross ...“

„Ja, entschuldigen Sie, ich quatsche Ihnen die Ohren voll. Wir hätten Kinder haben sollen, dann müssten die mir jetzt zuhören und nicht irgendwelche Leute ... Oder eine Psychologin, die dafür bezahlt wird!“

„Was ist hinter der Tür gegenüber?“

„Gegenüber? Da wohnen, warten Sie mal ...“

„Nein gegenüber Ihrer Wohnungstür, auf der anderen Seite des Flures.“

„Ach so.“

„Wer wohnt da?“

„Das ist ein Abstellraum. Gehört den Aufderhaar-Schwestern. Das meiste ist vermutlich Gerümpel.“

„Tja, dann danke ich Ihnen sehr für Ihre Auskünfte.“

„Sie wollen schon gehen?“

„Ja, ich muss. Leider.“

„Wirklich schade. Von mir aus hätten wir uns gerne noch länger unterhalten können. Wenn Sie noch mal irgendwelche Fragen haben, dann wenden Sie sich gerne vertrauensvoll an mich.“

„Oder Sie sich an mich“, gab Anna zurück und gab Gross eine ihrer Visitenkarten.

„Ist gar kein Zeichen von der Polizei drauf!“, stellte Gross etwas irritiert fest.

„Soll nicht so einschüchtern“, begründete Anna dies.

„Ach so, das verstehe ich natürlich. Obwohl, wenn da wie bei Ihnen steht Diplom-Psychologin, das kann aber auch ganz schön einschüchternd sein, finden Sie nicht? Na ja, ich ruf Sie an, wenn mir noch was einfällt. Darauf können Sie sich verlassen.“

Das befürchte ich!, ging es Anna durch den Kopf.

*



Sie gingen zur Tür und Anna war froh, im Hausflur wieder einigermaßen frei atmen zu können, ohne unter dem Einfluss von Klebstoff zu stehen.

Gross stand noch einen Augenblick an der Tür, ehe es ihm dann doch peinlich war und er sie schloss.

Als Anna die Treppe erreichte, hörte sie erneut ein Knarren und blieb wie angewurzelt stehen.

„Frau Aufderhaar?“, fragte sie. Da beide Schwestern diesen Name trugen, musste sich die Gestalt, die da oben angestrengt lauschte, auf jeden Fall angesprochen fühlen. „Frau Aufderhaar? Ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Wir sind vorhin an der Sprechanlage irgendwie unterbrochen worden.“

Anna ging jetzt schnellen Schrittes die Treppe hinauf. Immer zwei Stufen nahm sie auf einmal. Normalerweise tat sie das nie. So raumgreifende Schritte sahen schon nicht besonders fein aus, wenn Männer sich so bewegten.

Aber in diesem Fall entschied sich Anna, zuerst zu handeln und dann darüber nachzudenken, dass sie besser gezaudert hätte. Das Unerwartete tun – wie eine Motte, die sich ganz plötzlich einfach fallenließ, damit sie nicht vom Sonar der Fledermaus erfasst und gefressen wurde. Ein Beispiel, das ihr Biologielehrer mal gebracht hatte, vor vielen Jahren. Aber Anna war es aus irgendeinem Grund im Gedächtnis geblieben. Chaotisches, spontanes Handeln, das dennoch einem Plan folgte und vor allem auch zum Ziel führte. Ihr war das immer wie ein Realität gewordener Widersinn vorgekommen. Vermutlich hatte sie dieses Beispiel auch aus diesem Grund in ihren Gedanken immer wieder aufs Neue beschäftigt. Und nun, in diesem besonderen Moment, war sie selbst die Motte, die etwas Unerwartetes tat und damit die ganze Situation veränderte.

Innerhalb weniger Augenblicke hatte sie den Absatz erreicht.

Die Frau, die dort im Schatten gestanden hatte, war gerade drei Stufen weit nach oben gelangt. Sie stützte sich dabei auf den Handlauf. Irgendetwas stimmte mit ihrem Bein nicht.

„Frau Aufderhaar?“

„Was wollen Sie von mir?“

„Sie kennen Frau Nadine Schmalstieg?“

„Lassen Sie mich einfach in Ruhe.“

„Das kann ich nicht. Eine Frau ist ermordet worden, und es gibt in den letzten Jahren eine ganze Reihe von ähnlichen Verbrechen. Nadine Schmalstieg hat ein Foto auf Facebook hochgeladen, etwa siebeneinhalb Jahre alt. Da sind Sie auch drauf. Die meisten der Abgebildeten tragen irgendwelche Mittelalter-Kostüme. Mittelalter-Markt in Telgte, sagt Ihnen das was?“

Die Frau schluckte.

„Nadine und ich, das ist lange her. Wir hatten in letzter Zeit keinen Kontakt mehr.“

„Und warum standen Sie dann mit Ihrem Audi in Ihrer Straße und haben Sie beobachtet?“

„Wie bitte?“

„Sie sind gesehen und beschrieben worden!“

„Und wohl auch verwechselt“, stellte die dunkelhaarige Frau fest. Ihr Haarschnitt war sehr gleichmäßig. Der Pony bildete eine gerade Linie. Anna konnte nicht umhin, das zu bemerken. Und es gefiel ihr. Es war ein Zeichen der Ordnung. Es war gar nicht so einfach, sich so zu frisieren, dass nicht andauernd irgendwelche Haare aus der ihnen zugedachten Positionen ausbrachen. Gerade wenn man dünnes Haar hatte, so wie sie selbst. Aber ihr Gegenüber hatte dieses Problem nicht. Dickes Haar ordnete sich quasi von selbst, ja es war von einer gewissen Stärke an sogar schier unmöglich, ihm irgendwie eine andere Ordnung aufzwingen zu wollen, als die, zu der es von Natur aus tendierte.

Aber irgendetwas stimmte da nicht. Anna konnte es nicht in Worte fassen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Unterbewusstsein etwas wahrnahm, was dann in den höheren Schichten ihrer Persönlichkeit und ihrer Wahrnehmung nicht mehr ankam. In diesem Moment beneidete sie jemanden wie Branagorn. Für einen Savant gab es diese Filter nicht. Meistens war das ein Nachteil. Aber längst nicht immer.

„Verwechselt?“, fragte Anna.

„Ich bin Melanie Aufderhaar. Meine Schwester Sarah fährt einen Audi – ich nicht.“

„Dann sollte ich mich vielleicht mit Ihrer Schwester unterhalten.“

„Die ist zur Arbeit.“

„Vielleicht geben Sie ihr dies“, sagte Anna und reichte Melanie Aufderhaar eine Visitenkarte.

Melanie Aufderhaar warf einen Blick auf die Karte. Sie hielt sie dabei etwas hoch, sodass sie von einem Lichtstrahl erfasst wurde, der durch ein kleines Fenster auf dem nächsten Absatz ins Treppenhaus drang. „Sind Sie von der Polizei oder einfach nur eine Psychologin?“, fragte Melanie.

„Ich bin eine Kriminalpsychologin und berate die Polizei bei ihren Ermittlungen.“

„Und stellen auch selber welche an? Das ist aber seltsam. Soweit ich weiß, entspricht das auch keineswegs der normalen Vorgehensweise!“

„Frau Aufderhaar, ich mache mir große Sorgen. Nadine Schmalstieg hat ein Foto auf Facebook veröffentlicht ...“

„Wie Sie schon mal erwähnten, wenn ich Sie daran erinnern darf!“

„... und die meisten Frauen auf dem Bild sind tot. Das sollte Ihnen und Ihrer Schwester zu denken geben!“

„Ich habe jetzt keine Lust, mit Ihnen zu sprechen.“

„Sagt Ihnen der Name Timothy Winkelströter etwas?“

Sie schluckte. Kein Zweifel. Dieser Name sagte ihr etwas.

„Auf Wiedersehen Frau ...“ Sie blickte auf die Karte, „... van der Pütten.“

Dann ging sie die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Anna fiel auf, dass sie dabei den Handlauf nicht losließ. Oben angekommen, drehte sie sich noch einmal kurz um und verschwand dann in ihrer Wohnung. Schwer fiel die Tür ins Schloss und es war deutlich zu hören, wie Melanie Aufderhaar den Schlüssel demonstrativ herumdrehte.

*



Branagorn saß mit geschlossenen Augen auf dem Beifahrersitz des Renault, als Anna van der Pütten dorthin zurückkehrte. Sie setzte sich hinter das Steuer.

Branagorn reagierte nicht. Er schien in einer Art Meditation versunken zu sein und sich in einen tranceartigen Zustand versetzt zu haben. Vielleicht war er aber einfach nur eingeschlafen.

„Sind Sie vielleicht gewillt, in diese, einzig wirkliche Welt zurückzukehren, ehrenwerter Elbenkrieger?“, fragte Anna.

Branagorn öffnete die Augen.

„Ihr macht Euch über mich lustig und verstoßt damit gegen die Ehre Eures Standes – denn soweit ich weiß, ist es den Seelenheilern verboten, eine zynische Haltung gegen die ihnen anvertrauten Leidenden anzunehmen. Allerdings muss ich gestehen, dass Ihr nicht die Erste seid, die gegen dieses Gebot verstößt, ohne dass es geahndet würde.“

„Tut mir leid, es war nicht böse gemeint, Branagorn.“

„Dennoch offenbarte Eure Bemerkung, wie wenig von Cherenwens Seele doch bisher in Euch wach geworden ist.“

„Vielleicht liegt Ihre Enttäuschung auch einfach nur daran, dass Sie in mir nur das sehen wollen, was Ihnen gefällt und Ihrem offenbar tief eingebrannten Bild dieser mysteriösen Cherenwen entspricht.“

Genau an diesem Punkt wird er das Thema wechseln!, glaubte Anna. Sie sollte recht behalten.

„Hattet Ihr mit Euren Befragungen Erfolg?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht. Es war in mancher Hinsicht ... verwirrend!“

„So berichtet mir jede Einzelheit, Cherenwen. Und danach sollten wir zurück zu dem Haus von Nadine Schmalstieg fahren.“

„Ich glaube, da würden wir im Moment nur stören, Branagorn.“

„Wir müssen mit Klaus sprechen. Er ist vielleicht noch auf dem Friedhof.“

„Es wird jemand von den Polizisten mit ihm sprechen, da bin ich mir ganz sicher, Branagorn!“

„So wie Ihr Euch auch sicher seid, dass irgendwann die Haare, die ich fand, das Laboratorium eines Alchemisten erreichen werden?“, gab Branagorn sehr skeptisch zurück.

Anna ging auf diesen Punkt nicht weiter ein. Es war genau der Punkt, an dem sie nun das Thema wechselte und von ihren Gesprächen mit Arnold Gross und Melanie Aufderhaar zu berichten begann.

Branagorn hörte die meiste Zeit über wort- und fast teilnahmslos zu. Anna startete unterdessen den Wagen und fuhr los. Als sie ihren Bericht beendet hatte, schwieg Branagorn zunächst weiter.

Dann begannen die Detailfragen. Anna stellte fest, dass er jede ihrer Antworten wortgetreu in Erinnerung hatte. Und überall, wo eine Angabe nicht vollkommen präzise war, hakte er unerbittlich nach. So intensiv, dass Anna manchmal einfach nur entnervt aufstöhnen konnte.

„Sie treiben mich noch zum Wahnsinn, Branagorn!“, meinte sie.

„Seid Ihr der Meinung, dass meine Fragen nicht von Bedeutung sind?“

„Das habe ich damit nicht sagen wollen.“

„Es mag sein, dass ich in mancher Hinsicht etwas zu sehr an den Details hänge. Aber ich glaube, dass gerade die Kleinigkeiten in diesem Fall von besonderem Gewicht sind.“

„Mag sein. Aber bedauerlicherweise war nur ich es, die mit Herrn Gross und Frau Aufderhaar gesprochen hat. Und meine Wahrnehmung ist unvollkommen und lückenhaft. Ich verfüge nicht einmal ansatzweise über ein fotografisches Gedächtnis und daher sollten Sie nichts von dem, was ich sage, auf die Goldwaage legen.“

Branagorn dachte einen Augenblick lang nach. Dann meinte er: „Ich danke für die Ehrlichkeit, mit der Ihr mir begegnet. Ihr habt ein Geständnis von geradezu bestürzender Ehrlichkeit abgelegt und ich frage mich langsam, wie es unter Euresgleichen überhaupt möglich ist, eine Aussage als verlässlich zu bezeichnen, wo doch ganz offenbar ist, dass sie dies nicht sein kann. Nicht in dieser Welt zumindest, da die meisten ihrer Bewohner kaum jemals in die Lage kommen, die volle Wahrheit zu sehen.“

„Sie haben gut reden, Branagorn.“

„Ihr habt von dem Auto gesprochen, das Sarah Aufderhaar benutzt hat.“

„Richtig.“

„Aber was ist mit dem Wagen von Melanie? Es waren mehrere Garagen vorhanden, die zu diesem Wohnkomplex gehören.“

„Es tut mir leid, aber danach habe ich nicht gefragt.“

„Drei Stellplätze habe ich gesehen – und das bedeutet einer für jeden Bewohner dieses Hauses!“

„Branagorn, ich weiß nicht, ob das jetzt wirklich wesentlich ist! Und abgesehen davon, können wir auch nicht einfach alle Garagen dort untersuchen. Ohne, dass es einen konkreten Hinweis gibt ...“

„Das Haar im Flur ...“

„Das Haar ist noch nicht untersucht und ich fürchte, das wird auch nie geschehen!“

Einige Augenblicke herrschte Schweigen. Ein Moment von eigentlich unbeabsichtigter Wahrhaftigkeit, dachte Anna. Sie hatte nicht vorgehabt, Branagorn zu sagen, dass niemand im Ernst davon ausging, dass das Haar auf dem Flur irgendetwas mit dem Fall zu tun haben könnte.

Branagorn starrte aus dem Seitenfenster. Das Motorengeräusch des Renault erschien Anna in diesem Moment ungewöhnlich laut zu sein. Wie die anschwellende, dramatische Ereignisse vorwegnehmende Musik in einem Spielfilm.

„Man hält mich für verrückt“, sagte Branagorn. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Es ist bedauerlich, dass niemand meine Warnungen zur Kenntnis nimmt und das ernst nimmt, was ich sage – nur, weil ich es vielleicht nicht immer ganz schaffe, mit den Feinheiten des Umgangs und der Ausdrucksweise Schritt zu halten, die in der einen oder anderen Welt üblich sind. In dieser Welt hat die Zeit anscheinend einen viel stärkeren Einfluss. Alles vermehrt sich in so rasender Geschwindigkeit, dass man kaum mitkommt. Kennt Ihr den Sachsenhof in Greven?

„Nein, ehrlich gesagt nicht.“

„Man hat dort Gebäude aus der Sachsenzeit ausgegraben und rekonstruiert. Nicht ganz so, wie die Originale gewesen sind, als ich durch diese Lande als Branagorn von Corvey im Auftrage verschiedener Herrscher streifte. Aber bisweilen suche ich solche Orte auf, weil sie wie ein Stück gefrorener Zeit wirken, wo zumindest die groben Umrisse an den früheren Zustand erinnern. Manche Kirchen gehören dazu, wie St. Martinus – ebenfalls in Greven –, wohin ich einst ein Evangeliar aus Corvey brachte. Aber selbst dieser Name hat heute keine Strahlkraft mehr! Viele glauben, Corvey wäre eine englische Stadt, dabei ist diese Abtei bei Höxter hier in Westfalen mal das geistige Zentrum des Reiches gewesen ...“

„Seien Sie nicht deprimiert, Branagorn.“

„Habe ich keinen Anlass dazu?“

„Nein.“

„Selbst Ihr nehmt meine Mahnungen nicht ernst, werte Cherenwen, denn wie könnt Ihr sonst unvollkommen und nachlässig in Eurer Befragung der Bewohner des Hauses in der Nordwalder Straße sein?“

„Ich bin unvollkommen, Branagorn. Wie wir alle.“

Ein Satz, den Anna nicht gerne über die Lippen brachte und der sich fremd anfühlte. Aber nichtsdestotrotz traf er zu, auch wenn sie selbst sich gerne mit einem größeren Grad an Perfektion gesehen hätte. Aber das waren ihre ganz persönlichen Lebenslügen, und vielleicht tat sie besser daran, diese so weit wie irgend möglich auszublenden, wenn sie mit Branagorn sprach.

„Ich halte Sie nicht für verrückt“, sagte Anna schließlich in die Stille hinein. „Sie haben besondere Talente und Eigenschaften, die Sie von den meisten Anderen unterscheiden. Dadurch entstehen immer wieder Probleme. Darüber hinaus haben sie zweifellos nicht nur besondere Talente, sondern auch besondere Schwierigkeiten, wobei das eine aus dem anderen zum Teil resultieren dürfte.“

„Ich werfe Euch nicht vor, dass Ihr nicht vollkommen seid, Cherenwen, denn auf Eure Weise seid Ihr das für mich schon in jener anderen Welt gewesen, in der sich unsere Seelen zum ersten Mal begegnet sind. Aber ich werfe Euch vor, dass Ihr Euch mutwillig in Gefahr begebt.“

„Wieso das?“

„Ihr versteht noch nicht einmal, worauf ich hinaus will.“

„Erklären Sie es mir.“

„Ihr habt eher beiläufig davon berichtet, wie Ihr Eure Visitenkarten im Haus an der Nordwalder Straße verteilt habt.“

„Ja, und?“

„Ich glaube, das war ein Fehler.“

„Wieso?“

„Weil man das Böse nur dann anlocken sollte, wenn man auch bereit ist, sich ihm zu stellen, werte Cherenwen. Und das seid Ihr nicht.“

Anna schwieg. Das Gespräch schien ihr nicht sehr ergiebig zu sein und abgesehen davon hatte sie auch etwas dagegen, dass es darin mehr und mehr um ihre eigene Person zu gehen schien. Die Rollen sollten klar verteilt bleiben, dachte sie. Ich Therapeut – er Patient. Aber das sagte sie Branagorn aus irgendeinem Grund nicht. Nicht in dieser Klarheit zumindest.

„Soll ich Sie direkt nach Kinderhaus bringen, Branagorn?“


Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung

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