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Zwei Verhöre und der Traumhenker

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„Ich war das nicht!“, sagte Jürgen Tornhöven. „Das kann ich jetzt noch hundertmal wiederholen, aber das ist die Wahrheit, auch wenn Sie das nicht hören wollen!“

Tornhöven saß in einem der Verhörräume im Polizeipräsidium Münster. Haller hatte ihn vorläufig festgenommen, aber auch wenn er seine Unschuld beteuerte, würde daraus wohl ein etwas längerfristiger Aufenthalt in Gewahrsam werden.

Haller saß ihm gegenüber, während Anna van der Pütten das Gespräch durch eine Spiegelwand verfolgte und ihr Augenmerk dabei auf den Verdächtigen wandte. „Das ist mal wieder typisch“, sagte Tornhöven. „So sieht es eben mit der Religionsfreiheit in Deutschland aus! Die gilt nur, wenn man einer der Mehrheitskonfessionen angehört, aber sobald man etwas Abweichendes für wahr hält, geht es einem, wie einst den Wiedertäufern hier in Münster! Da hat sich nichts geändert!“

„Nun übertreiben Sie mal nicht“, sagte Haller etwas ärgerlich. „Erstens hat hier niemand vor, ihren blutigen Kopf in einen Käfig zu stecken und auszustellen und zweitens hat es auch überhaupt nichts mit Glaubensfreiheit zu tun, wenn man bei Ihnen Drahtschlingen findet, an denen offenbar Reste von Blut kleben!“

„Sie wollen mir jetzt wirklich um jeden Preis was anhängen, was? Da gibt es eine Erklärung für! Ihnen müssen ja die Dinge, die wir 'Neuen Templer' praktizieren, nicht unbedingt gefallen, aber es ist nun mal so, dass nichts davon gegen die Gesetze verstößt!“

Jürgen Tornhöven hatte sich standhaft geweigert, irgendwelche genauen Auskünfte über den Ablauf der Rituale zu geben. Offenbar war seine Furcht davor, die Geheimnisse seiner Sekte zu verraten, größer als die vor einer Inhaftierung. Allerdings hatten die Durchsuchungen in der Osnabrücker Villa, die der Sekte als Hauptquartier diente, inzwischen schon ein immer klarer und unappetitlicher werdendes Bild ergeben.

„Wo steht bitteschön geschrieben, dass es verboten sein soll, Fliegen mithilfe von Stinkmorcheln anzulocken“, ereiferte sich Tornhöven.

„Es ist auf jeden Fall eine Sauerei“, meinte Haller.

„Ja, es tut mir ja auch leid, das offenbar jemand von uns das Fenster aufgelassen hat. Das vermeiden wir normalerweise natürlich, weil niemand von uns an Ärger mit den Nachbarn interessiert ist!“

„Herr Tornhöven, den Gestank werfen wir Ihnen auch nicht vor. Und die Fliegen auch nicht. Aber Sie haben laut der Aussage einer Zeugin eine gewisse Jennifer Heinze zu Hause aufgesucht und bedroht ...“

„Das ist nicht wahr!“

„... und ein paar Tage später ist sie tot, und zwar auf eine Weise, die ziemliche Ähnlichkeit mit den Ritualen hat, die Sie in Ihrem Kreis durchführen! Außerdem gibt es diverse Messer mit Verunreinigungen, die darauf hindeuten, dass sie mit Blut in Berührung gekommen sind. Mit Hilfe von Luminol ist das nachgewiesen!“

„Ja, Blut! Aber wessen Blut! Wessen, bitteschön?“

„Ich dachte eigentlich, dass Sie uns da weiterhelfen könnten. Aber bis jetzt habe ich da nichts von Ihnen gehört. Aber glücklicherweise gibt es ja Labore mit fleißigen Mitarbeitern – und die werden jetzt dafür sorgen, dass jedes dieser Messer und die Spuren daran genauestens unter die Lupe und was die moderne Kriminaltechnik noch so zu bieten hat, genommen werden. Und dasselbe gilt für diese Drahtschlingen, die nun wirklich ziemlich ungewöhnlich sind. Auch daran klebt Blut und wir können einen Zusammenhang zu den anderen Taten des Barbiers nicht ausschließen. Und was Ihre Alibis angeht, so sieht das auch sehr dürftig aus ...“

Tornhöven lehnte sich zurück. „Erstens liegen die Morde dieses Barbiers, die Sie mir unterschieben wollen, doch zum Teil schon recht lange zurück!“

„Und Sie denken, dass man dann keine DNA-Tests und andere Nachweise mehr durchführen kann? Seien Sie sich da mal nicht zu sicher!“

„Also ein Messer oder eine Drahtschlinge nach einem Ritual, das damit durchgeführt wird, nicht zu reinigen, mag auf so einen Kleingeist wie Sie ja vielleicht unhygienisch wirken ...“

„Ja, dieser Gedanke kam mir durchaus, wie ich zugegeben muss, aber nachdem ich den Stinkmorchelduft in der Nase hatte, war ich so abgehärtet, dass ich das wieder schon fast normal finde ...“, unterbrach ihn Haller ironisch.

„... aber Spuren an einer Mordwaffe zu lassen, wäre doch dumm!“, vollendete Tornhöven seinen Satz.

„Richtig. Vorausgesetzt, man glaubt nicht daran, dass Blut eine besondere magische Kraft hat. Unsere Leute haben in Ihrem Sektenhauptquartier herumgestöbert. Da waren überall Schriften, in denen so ein Unsinn behauptet wurde! Und dann macht es sehr wohl Sinn, solche Spuren nicht abzuwischen.“

„Ach, und Sie überfliegen okkulte Schriften mal eben so und haben gleich auch deren Inhalt verstanden! Bravo! Solche Idioten wie unsere Mitglieder haben natürlich bedeutend länger gebraucht, ehe wir das geschafft hatten!“

In diesem Augenblick ging die Tür des Verhörraums auf. Ein Mann in dunklem Dreiteiler trat ein. Sein Scheitel war so gerade gezogen wie die Bügelfalte an seinen Hosen und in den blitzblank geputzten Schuhen hätte man sich spiegeln können.

„Bültemann, von der Kanzlei Bültemann und Jannings in Osnabrück, ich bin der Anwalt von Herrn Tornhöven. Leider konnte ich nicht früher hier sein, weil ich im Verkehr stecken geblieben bin. Sie werden die Verhältnisse in Münster ja kennen“, wandte er sich an Haller und reichte ihm die Hand, während er gleichzeitig schon sein Diplomatenköfferchen auf dem Tisch platzierte. Haller blickte zur Tür. Da stand Kevin Raaben und zuckte nur mit den Schultern.

„Haller“, stellte sich Haller vor.

„Ja, ich habe schon gehört, dass Sie die Sache übernommen haben. Unter uns gesagt, Ihnen eilt ja ein gewisser Ruf voraus, wie man weiß.“

„Ach, ja?“

„Erfolglos und ungesetzlich. Auf diese knappe Formel kann man wohl Ihr bisheriges Wirken zusammenfassen. Ich habe das nur aus der Ferne verfolgt, aber so etwas spricht sich herum und Sie scheinen ja genau in dieser Richtung auch unbedingt weitermachen zu wollen. Gut, dies scheint man offensichtlich innerhalb der hiesigen Polizei nicht als Karrierehindernis anzusehen, aber der gute Ruf der Münsteraner Polizei und Justiz muss ja nicht unbedingt meine Sorge sein. Herr Haller, ich hoffe auf gute Zusammenarbeit und darauf, dass sich alle Fragen zu Ihrer und unserer Zufriedenheit klären lassen.“

„Na, man hat ja nicht so oft konstruktive Gesprächspartner“, erwiderte Haller. „Was soll also schon schiefgehen?“

Doch!, dachte Anna, während sie dem Gespräch weiter durch die Spiegelscheibe folgte. Das wird unter Garantie schiefgehen!

Rechtlich und psychologisch und auch in sonst jeder nur erdenklichen Hinsicht!

*



Annas Handy klingelte. Sie hatte vergessen, es auf stumm zu schalten, was sie normalerweise immer tat, wenn sie konzentriert einem Gespräch folgte. Auf dem Display sah sie, dass es Frank Schmitt war, der sie zu erreichen versuchte.

Einen Moment lang zögerte sie, aber dann nahm sie das Gespräch doch entgegen.

„Branagorn?“

„Ich bin froh, Eure angenehme Stimme zu hören und entnehme dem, dass Ihr unversehrt und wohlauf seid!“

„Ja warum sollte mir denn auch irgendetwas zustoßen?“

„Die Mächte des Bösen lauern überall. Das wisst Ihr doch besser als die meisten anderen, Cherenwen. Denn Ihr schaut doch dem Übel ins Auge und versucht, die Macht des Traumhenkers mit dem Zauber sanfter Worte zu beschwichtigen.“

„Wo sind Sie jetzt, Branagorn?“

„In Steinfurt-Borghost vor einer Polizeidienststelle in der Emsdettener Straße.“

„Was machen Sie da?“

Die schlimmsten Befürchtungen stiegen augenblicklich in Anna auf. Nicht auszudenken, welchen Unsinn der Elbenkrieger wieder verzapft hatte. Manch Leute hatten wirklich ein außerordentliches Talent, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Und Branagorn alias Frank Schmitt schien in dieser Hinsicht auf besondere Weise gesegnet zu sein.

„Nun, es gab da ein paar Missverständnisse, weil ein Postbote glaubte, ich wäre jemand, der versuchen würde, in Wohnungen einzubrechen, und ein Zeitgenosse von empfindlichem Gemüt in mir eine Gefahr zu erblicken glaubte. Es hat einige Stunden gedauert, bis ich den Polizisten erklären konnte, dass ich nichts Übles im Sinn habe und auch in letzter Zeit keineswegs den berauschenden Getränken zusprach, deren Wirkung so verhängnisvoll sein kann ...“

„Aber man hat Sie wieder auf freien Fuß gesetzt?“, vergewisserte sich Anna.

„Man hat mich lediglich befragt und überprüft, wer ich in meinem innersten Wesen sei – und nachdem ich vorgab, Frank Schmitt zu sein und ihnen die Dokumente zeigte, die dies bestätigten, konnte ich sie über meine wahre Natur hinwegtäuschen.“

„Sie Glücklicher“, murmelte Anna und atmete innerlich auf. Sie hatte schon befürchtet, sich jetzt auch noch um Branagorn kümmern zu müssen und sich vielleicht endlos mit irgendwelchen Polizisten oder dem sozialpsychologischen Dienst herumschlagen zu müssen. Komplizierte Probleme hatte sie zurGenüge am Hals, da konnte sie auf so etwas gut und gerne verzichten.

Trotzdem – die Tatsache, dass Branagorn sie anrief und vor allem, dass er sie aus Borghorst anrief, beunruhigte sie. Er hatte ihr zweifellos noch nicht alles gesagt.

„Ist inzwischen das Haar untersucht worden, das ich auf der Planwiese in Telgte gefunden habe?“, fragte Branagorn.

„Dazu kann ich Ihnen nichts weiter sagen“, erwiderte Anna.

„Eigentlich müssten die Alchemisten im Dienst der Hüter der Ordnung doch längst ihre Arbeit beendet haben – oder verlange ich zu viel von ihnen?“

„Es sind so viele Spuren zu bearbeiten, Branagorn.“

„Da seht Ihr wie der Traumhenker auch mich beeinflusst und eine üble Magie selbst aus der Distanz dazu führt, dass ich mich einer ganz und gar unelbischen Hast hingebe!“

Für einige Augenblicke war von Branagorns Seite der Verbindung her nichts zu hören und Anna befürchtete schon, dass der Kontakt vielleicht unterbrochen war oder ihr Patient aufgelegt hatte. Aber sie glaubte dann, seinen ruhigen Atem über das Telefon wahrnehmen zu können. Aber das war vielleicht auch nur eine Täuschung.

„Warum rufen Sie an?“

„Ich sprach mit der Heilschwester Nadine Schmalstieg und war dem Traumhenker auf der Spur – sowohl in meiner Erinnerung als auch jetzt und hier.“

„Branagorn, Sie sind doch nicht etwa dabei, auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen.“

„Lässt es Euch gut schlafen, dass die Mörderseele noch umgeht und tötet, werte Cherenwen? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Dazu kennen sich unsere Seelen schon zu lange.“

„Sie bringen sich noch in Teufels Küche!“

„Ist das wirklich Eure tiefste Sorge? Das kann ich nicht glauben, denn Ihr werdet doch auch nicht davon lassen, die Wahrheit zu suchen. So begab ich mich in ein Haus, in dem ich ein Haar fand, das dem ähnelt, welches ich in Telgte vom Boden hob! Auch dieses Haar muss unbedingt untersucht werden! Ich hatte das Empfinden, dem Traumhenker so nahe wie selten zuvor zu sein.“

„Branagorn, fahren Sie nach Hause! Sind Sie mit dem Zug nach Borghorst gefahren?“

„Ihr habt es erraten, werte Cherenwen!“

„Dann nehmen Sie den nächsten Zug zurück nach Münster!“

„Das ist nicht möglich. Dass der nächste Zug erst im Morgengrauen fährt, wäre dabei nicht das größte Hindernis, schließlich haben Elben ja Zeit genug, um eine solche Strecke auch zu Fuß hinter sich zu bringen und wenn die Umstände anders wären, würde es mir nichts ausmachen, für diese Reise ein oder zwei Tage einzuplanen ... Aber der wahre Grund, weshalb mir das nicht möglich ist, besteht darin, dass ich hier noch eine Aufgabe zu erfüllen habe.“

„Branagorn!“

„Lebt wohl und seid in Gedanken bei mir, sodass wir uns wiedersehen! Ich werde Euch berichten, was sich ereignet hat!“

„Brana...“

Die Verbindung war unterbrochen.

Inzwischen war Haller aus dem Besprechungszimmer gekommen. Er hatte einen hochroten Kopf.

„Na großartig, diese Unterstützung hatte ich mir von der Psychologin immer erhofft!“, meinte er. „Da drinnen geht’s um die Wurst und unsere Doppel-Psycho hat nichts Besseres zu tun, als sich mit dem Lieblingsirren der Saison zu unterhalten, anstatt vielleicht mal das Augenmerk auf die Reaktionen unseres Verdächtigen zu richten!“

Anna schluckte. „Tut mir leid ... Sven!“

Das klang steif und unbeholfen. Anna wusste es selbst, was für einen katastrophalen Eindruck sie im Moment gerade hinterlassen hatte. Und die betonte Nennung des Vornamens wirkte eher wie ein Zeichen dafür, wie tief die Distanz zwischen ihnen in Wahrheit war, als dass es so etwas wie persönliche Nähe unterstrichen hätte.

Einen Moment lang überlegte Anna, ob sie Haller davon berichten sollte, dass Branagorn eigene Ermittlungen in Borghorst anstellte. Aber um das zu erwähnen, blieb Anna dann gar keine Gelegenheit.

Kevin Raaben kam auf den Kriminalhauptkommissar zu.

„Sven, hast du einen Moment Zeit?“

„Kommt drauf an. Wir sind gleich beim Staatsanwalt und wenn wir Glück haben, wird heute noch ein Haftrichter dafür sorgen, dass Jürgen Tornhöven erst mal in der Zelle bleibt!“

„Deswegen sollst du dir das hier ansehen“, hakte Raaben ein. Er hatte ein paar Vergrößerungen von Fotos in der Hand. Anna war neugierig und warf ebenfalls einen Blick auf die Bilder, als Haller ihnen zumindest für ein paar Augenblicke seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete.

„Das ist ein Bild vom Mittelalter-Markt!“, stellte Anna fest.

Raaben bestätigte dies. „Exakt. Und in der Vergrößerung erkennt man unter all den Gaffern einen ziemlich neugierigen Kerl, auch wenn er die Lederkappe mit der Fasanenfeder ziemlich weit ins Gesicht gezogen hat.“

„Hat entfernte Ähnlichkeit mit Kevin Kostner als Robin Hood, würde ich sagen“, meinte Haller. „Obwohl ich persönlich Errol Flynn in dieser Rolle immer viel besser fand.“

„Tornhöven!“, entfuhr es Anna.

„Trotzdem, wenn wir nicht mehr finden, werden wir Tornhöven morgen freilassen müssen“, sagte Raaben.

Anna musste ihm insgeheim recht geben. Schließlich arbeitete sie inzwischen lange genug mit der Polizei zusammen, um mit den Prozeduren vertraut zu sein. Und zurzeit war Jürgen Tornhöven rein rechtlich gesehen aufgrund der Verdachtsmomente, die sich in der Villa und durch die Befragung von Pamela Strothmann in Tecklenburg ergeben hatten, nur vorläufig festgenommen. Und wenn sich dieser Verdacht nicht zu einem sogenannten dringenden Tatverdacht erhärten ließ, dann war Tornhöven im Verlauf des folgenden Tages freizulassen. Die berühmten 24 Stunden, die in Fernsehkrimis oft fälschlicherweise genannt wurden, spielten dabei keine Rolle. Die Deadline endete am folgenden Tag um 24 Uhr. Aber vielleicht konnten bis dahin weitere Hinweise gesammelt werden. Insbesondere war mit ersten Ergebnissen an den sichergestellten Dolchen und Würgeschlingen zu rechnen und davon abgesehen waren eine Reihe von Beamten sowohl in Osnabrück als auch in Münster dazu abgestellt worden, andere Mitglieder der 'Neuen Templer' zu befragen. Außerdem war ein Computer sichergestellt worden und man würde den Zahlungsverkehr auf den Konten der Sekte dahingehend überprüfen, ob vielleicht andere Opfer des Barbiers für die Durchführung von Ritualen bezahlt hatten oder in irgendeiner anderen näheren Verbindung zu dieser Vereinigung standen.

„Kann ich das Bild mal aus der Nähe sehen?“, fragte Anna.

„Ja bitte“, sagte Raaben und reichte es ihr. „Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Videoschwenk und es war gar nicht so leicht, den Kerl in der Menge zu finden.“

„Eine Moment“, sagte Anna, als Raaben schon verschwinden und ihr das Bild wieder abnehmen wollte. In der Zwischenzeit war Haller von einem anderen Beamten angesprochen worden, den Anna nicht namentlich kannte. Haller sagte ziemlich genervt: „Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee ...“ und ging dann hinaus. Der Beamte, ein blasser Mann in kariertem Hemd und – trotz der warmen Witterung – mit Strickjacke, folgte ihm.

Anna wartete bis die beiden den Raum verlassen hatten. Dann wandte sie sich wieder an Kevin Raaben.

„Können Sie mir eine Kopie des Videodrehs vom Tatort geben?“

„Was wollen Sie denn damit?“

„Mir ansehen.“

„Ja, aber ...“

„Vielleicht erkenne ich Leute, die sich irgendwie verdächtig verhalten oder so. Unter psychologischen Gesichtspunkten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Irgendetwas, was auffällig ist. Denn zu den wenigen Dingen, die wir mit Sicherheit sagen können, gehört das Faktum, dass der Täter auf der Planwiese gewesen ist.“ Anna zuckte mit den Schultern. „Es könnte zum Beispiel sei, dass er den Hang hat, die Folgen seiner Tat zu beobachten.“

„Sie sagen das so, als würden Sie gar nicht in Betracht ziehen, dass Tornhöven unser Mann sein könnte!“

„Das weiß ich nicht“, gestand Anna. „Vielleicht ergeben sich ja durch Sichtung des Originalmaterials durchaus auch noch weitere Hinweise, die auf Tornhöven deuten. Da bin ich völlig unvoreingenommen.“

Raaben musterte sie. Anna bemerkte erst jetzt die Aufschrift seines T-Shirts. Ich bin ein Killerspiel-Spieler war da in so bluttriefenden Lettern zu lesen, dass man sie kaum erkennen konnte. Auf der Rückseite des T-Shirts stand die Fortsetzung: Nein, ich plane keinen Amoklauf!

Manche müssen wohl um jeden Preis cool sein!, ging es Anna durch den Kopf. Nur ja locker wirken und nicht so, wie nun mal der Großteil derjenigen war, die das Polizeipräsidium als ihren Arbeitsplatz bezeichneten. Dann war Anna doch die offensiv demonstrierte Form der Spießigkeit lieber als diejenige, die sich hinter einer Maske aus Lockerheit, Coolness und exakt geplanter Spontaneität tarnte. Schluss jetzt mit der Daueranalysiererei!, dachte Anna dann. Warum Kevin Raaben ein dämliches T-Shirt trug, anstatt ein Hemd, an dessen zu knapper Passform man erkennen konnte, dass es vielleicht zehn Jahre alt war und seinem Träger damals vielleicht auch gepasst hatte, konnte ihr schließlich gleichgültig sein. Auch wenn Beamte mit solchen knappen Hemden eigentlich immer schon einen Vertrauensvorschuss verdient hatten, wie Anna fand, denn sie demonstrierten ja schon im persönlichen Bereich Sparsamkeit und Effektivität.

Der Grund dafür, dass es Anna im Moment doch ziemlich schwerfiel, sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, was die konstituierenden Bestandteile von Kevin Raabens Charakter waren, lag vielleicht daran, dass sie den Eindruck hatte, dass er im Moment versuchte, ihr Verhalten zu analysieren.

Und das war etwas, was sie immer höchst irritierend fand.

Es verunsicherte sie in ihrer Therapeutenrolle und ihrem Dipl.-Psych-Ego, das sie sich mit so viel Mühe und Akribie aufgebaut hatte. Dabei spielte es auch fast überhaupt keine Rolle, wer diese Rollenumkehrung versuchte.

Dann erschien etwas in Kevin Raabens Gesicht, das man für ein flüchtiges Lächeln halten konnte.

Ein sogenannter Recognition-Reflex.

Er deutete mit dem Zeigefinger auf sie, was im Moment für Anna nicht hätte bedrohlicher wirken können, als wenn es sich um den Lauf einer Pistole gehandelt hätte. „Das Video-Zeug soll dieser Elbenspinner sehen, habe ich recht?“

Es war nur eine rhetorische Frage.

Anna stotterte irgendetwas herum, was sich nicht einmal ansatzweise nach einer professionellen Stellungnahme anhörte. Nicht einmal nach einem ganzen Satz, wenn man es genau nahm. Es war einfach nur unsinniges Gestammel, das schließlich verstummte.

Kevin Raaben zwinkerte ihr zu. „Macht nichts. Ich weiß von nichts. Und Sven ja auch nicht!“

„Ja, also ...“

„Wenn Sie einen Stick da haben, ziehe ich es Ihnen drauf! Für einen E-Mail-Anhang ist die Datei etwas zu voluminös!“

„Danke“, sagte Anna und gab ihm ihren Schlüsselbund. „Wenn man auf die Metallfläche des Anhängers drückt, kommt der USB-Anschluss hervor.“

„Ein Scherzartikel, was?“

„Ein Werbegeschenk meiner Autowerkstatt. Wenn Sie mir die Datei gleich kopieren, wäre das sehr freundlich!“

„Kein Problem – aber ich dachte eigentlich, wir sagen du, Anna!“

*



Dunkelheit senkte sich über Borghorst. Branagorn war schon seit geraumer Zeit unterwegs. Nachdem ihn die Polizei als offensichtlich harmlos entlassen hatte, ging er die Straßen entlang, den Blick dabei die meiste Zeit auf den Boden gerichtet und tief in Gedanken versunken. Er war höchst konzentriert und überlegte, was zu tun sei. Noch auf dem Weg zurück in die Nordwalder Straße war Branagorn entschlossen gewesen, seine Nachforschungen unbeirrt fortzusetzen – und zwar am besten dort, wo er sie aufgehört hatte. Genau so hatte er sich auch in dem kurzen Gespräch geäußert, das er mit Hilfe des sprechenden Artefakts mit seiner geliebten Cherenwen geführt hatte, die allerdings in dieser Welt darauf bestand, dass ihr wahres Ich Anna van der Pütten war. Und vielleicht, so überlegte Branagorn nicht zum ersten Mal, war es sogar besser, dies zunächst ungeachtet der wahren Tatsachen zu akzeptieren. Man musste Anna Zeit geben. Zeit, um zu erkennen, wer sie wirklich im innersten ihrer Seele war. Die geradezu unelbische Hast, mit der Branagorn in dieser Hinsicht bisher offenbar vorgegangen war, beschämte ihn nun manchmal und er fragte sich, wie er sich dazu nur hatte hinreißen lassen können. Um so höher war es dieser Frau anzurechnen, dass sie ihn zuletzt nicht mehr brüsk zurückgewiesen hatte, wenn er sich doch erdreistete, sie bei ihrem Seelennamen zu nennen, den sie in einer anderen, durch die Abgründe von Raum und Zeit getrennten Welt bekommen hatte, die für die Menschen dieser Zeit und gedanklichen Haltung jenseits aller Vorstellungskraft war. Immerhin erfüllte Branagorn nach diesem Gespräch ein Gefühl innerer Verbundenheit. Die gedankliche Nähe, die in Annas Worten seinem Gefühl nach zum Ausdruck gekommen war, erfüllte ihn mit Zuversicht. Er glaubte jetzt nicht nur, dass er in der Lage sein würde, in ihr das wahre Ich ihrer Seele zu erwecken, sondern hatte auch neue Hoffnung gefasst, dass sich Cherenwens Seele ihm wieder ganz zuwenden würde. So wie es schon einmal gewesen ist!, dachte er.

Aber bevor er sich diesen eher ihn persönlich betreffenden Problemen widmen konnte, musste jedoch auf jeden Fall der Traumhenker unschädlich gemacht werden. Für Branagorn war dies von allerhöchster Dringlichkeit. Es dufte einfach nicht geschehen, dass dieser finstere Gegner sich erneut erdreistete, den Herrn über Leben und Tod zu geben.

Aber genau darin schien diese Wesenheit sich zu gefallen.

Er genoss es, seine Macht aus dem Verborgenen heraus zu entfalten – vielleicht auch deshalb, weil er sehr genau spürte, dass dadurch Furcht und Schrecken, die er verbreitete, viel wirkungsvoller wurde. Aber Branagorn war entschlossen, dieser Macht die Stirn zu bieten.

Während er die Nordwalder Straße entlangging, entschied er, dass es keine gute Idee wäre, jetzt noch einmal das Haus zu besuchen, in dem Sarah Aufderhaar mit ihrer Schwester und der eigenartige A. Gross wohnten. Und davon abgesehen war es vielleicht wirklich zu früh, nur einer einzigen Spur zu folgen. Einer Spur, die aus einem Haar bestand, das jenem auf der Planwiese in Telgte zwar sehr ähnlich in Farbe und Beschaffenheit war, aber von dem selbst Branagorns überaus scharfe Augen nicht mit Sicherheit zu sagen vermochten, ob es auch von derselben Person stammte. Das konnten allein die Alchemisten in den Laboratorien, die von den Hütern der Ordnung unterhalten wurden, mit letzter Sicherheit sagen. Davon abgesehen mochte es ja auch sein, dass Jennifer Heinze dieses Haar bei anderer Gelegenheit in jenem Haus verloren hatte - was Branagorn zu der Frage führte, was sie dort wohl gesucht haben mochte und ob ihr Besuch dann nicht doch mit ihrem Tod in irgendeinem Zusammenhang stand. Schließlich konnte man davon ausgehen, dass der Hausflur regelmäßig gereinigt wurde. Ging man davon aus, dass diese Reinigung wöchentlich erfolgte, hatte man ungefähr einen zeitlichen Rahmen.

Nein, ich muss zuerst mehr erfahren!, wurde es Branagorn klar. Wenn er jetzt allerdings das Haus in der Nordwalder Straße erneut aufsuchte, hatte er wohl nur mit hysterischen Reaktionen und einer Verhaftung durch die Hüter der Ordnung zu rechnen. Vielleicht auch mit einer zwangsweisen Untersuchung und Einweisung in ein Hospital für Seelenleiden. Nicht, dass Branagorn im Prinzip etwas gegen einen Aufenthalt dort gehabt hätte, denn bei den Türmen in Lengerich hatte er sich ja stets sehr wohl gefühlt. Aber im Moment wäre das seinem Ziel, den Traumhenker zu stellen, sicherlich nicht dienlich gewesen.

Er konnte schließlich froh sein, den hiesigen Hütern der Ordnung entronnen zu sein, ohne dass man ihn seines Schwertes unter fadenscheinigen Begründungen enteignet hätte, so wie es in Telgte geschehen war. Denn dem Bösen ganz ohne magisches Artefakt entgegenzutreten, das wollte Branagorn dann besser doch nicht wagen. Zumindest nicht wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Und in diesem Punkt waren die Gesetze glücklicherweise auf seiner Seite.

Ich muss mich noch einmal mit Nadine Schmalstieg unterhalten!, ging es Branagorn durch den Kopf.

Bis zu ihrer Adresse war es nicht weit. Branagorn bog in eine Straße namens Haselstiege und kam an einem Friedhof vorbei. Schließlich erreichte er die Adresse der Heilschwester. Ihr Wagen stand vor einem Haus, das etwas heruntergekommen wirkte. Der Zahn der Zeit hatte unverkennbar daran genagt und es fehlte offenbar an den nötigen Mitteln, um das Haus richtig in Stand zu halten. Ob nun magische Mittel oder finanzielle angewendet wurden, war nach Branagorns Auffassung zweitrangig, auch war es nach seiner Ansicht einfach eine Tatsache, dass Gebäude, zu deren Erhalt keine Anstrengungen unternommen wurden, langsam aber sicher verfielen. Die Fassade war grau und unansehnlich. Gewiss war der letzte Anstrich zwanzig oder dreißig Jahre her. Die Wände waren von wildem Wein überwuchert. Das Haus lag im Schein einer Straßenlaterne, deren Helligkeit die Zeichen des Verfalls selbst zu dieser späten Stunde in aller Deutlichkeit offenbarte. Hier und da waren schwarze Linien zu sehen. Branagorn war sicher, dass es sich um mäandernde Risse im Mauerwerk handelte.

Auch der Vorgarten wirkte vernachlässigt und konnte mit den gepflegten Anlagen der Nachbargrundstück in keiner Weise mithalten. Sträucher wucherten empor und so manch einer der Bäume, die auf dem Grundstück standen, waren morsch und wären durch keinen wohlmeinenden Zauber mehr zu retten gewesen. Zumindest war das Branagorns Ansicht, der sah, wie sich die Kronen schattenhaft im Wind bewegten. Er lauschte dem Knarren der Äste und war überzeugt davon, den mangelhaften Zustand der Bäume schon daran zweifelsfrei erkennen zu können. Irgendeinem der kommenden Herbststürme würden sie zweifellos nachgeben und brechen, wenn nicht in diesem, dann im Jahr darauf.

Branagorn blieb abrupt stehen.

Zwei Fahrzeuge standen in der Einfahrt des Hauses. An der Haustür befand sich eine weitere Laterne, die auch jetzt noch schonungslos offenbarte, wie die Fugen zwischen den Steinplatten in der Einfahrt und auf dem schmalen Weg zur Haustür von Moos überwuchert waren. Bei dem einen Fahrzeug handelte es sich um Nadine Schmalstiegs Wagen. Zumindest ging Branagorn davon aus, auch wenn er das Nummernschild nicht sehen konnte, dessen Kombination aus Zahlen und Buchstaben er sich selbstverständlich schon auf dem Parkplatz am Marienhospital gemerkt hatte. Das zweite Fahrzeug war der Geländewagen von Timothy Winkelströter. Dessen Nummernschild war klar und deutlich im Licht der Straßenlaterne zu erkennen und so konnte es keine Zweifel daran geben.

Offenbar hatte Timothy Winkelströter die Heilschwester also noch besucht und war jetzt wohl auch noch im Haus. Kein günstiger Moment für eine Unterredung!, überlegte Branagorn. Schließlich war das letzte Zusammentreffen mit Timothy ja nicht ganz konfliktfrei verlaufen und es war wohl nicht ratsam, die offenbar recht stark ausgeprägten Ressentiment, die dieser Mann Branagorn gegenüber zu haben schien, noch anzuheizen.

Branagorn griff zu seinem Handy, das er stets nur sein sprechendes Artefakt nannte und wählte ihre Nummer.

Nadine nahm ab.

„Ja, wer ist da?“, fragte sie.

„Wer ist das?“, hörte Branagorn im Hintergrund Timothys Stimme. „Wieder dieser Spinner? Den sollte man einsperren!“

„Ich muss mit Euch reden, werte Heilschwester“, erklärte Branagorn unterdessen. „Und zwar über die Frau aus dem Geschlecht der Aufderhaar, von der Ihr mir berichtet habt ...“

„Herr Schmitt, das geht jetzt nicht. Wirklich nicht!“

„Ihr seid in Schwierigkeiten?“

„Nicht in solchem, die ich nicht selber lösen könnte“, gab sie zur Antwort.

„Ich hatte schon befürchtet, dass es zurzeit ein unpassender Moment für eine Unterredung ist. So gehabt Euch wohl und ruht gut, sofern Euch dies das Schicksal gestattet.“

„Auf Wiederhören, Herr Schmitt.“

„... und falls Ihr Hilfe benötigt, so zögert nicht, auf dem sprechenden Artefakt die Zeichen erscheinen zu lassen, die mich rufen!“

Die Verbindung war unterbrochen.

Branagorn fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, die Heilschwester ihrem Schicksal überlassen zu müssen. Ein nicht näher zu begründendes Unbehagen machte ihm zu schaffen, das sich in einem drückenden Gefühl in der Magengegend äußerte. Eine dunkle Vorahnung kommenden Unheils? Eine Warnung der empfindlichen Elbensinne, für die es unter den Menschen zum Teil nicht einmal eine annähernde Entsprechung gab? Oder war das alles, zusammen mit den eigenartigen Geräuschen in seinem Bauch, letztlich doch nur der Tatsache geschuldet, dass er schon länger nichts mehr gegessen hatte?

In diesem Moment verlosch das Licht der Straßenlaternen.

Eine kommunale Sparmaßnahme, die das angeblich so finstere Mittelalter noch nicht kannte!, dachte Branagorn.


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