Читать книгу Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung - Alfred Bekker - Страница 43
ОглавлениеGefährten
„Melanie?“
Sarah Aufderhaar stand in der Wohnzimmertür, während ihre Schwester in einem der Sessel Platz genommen hatte. Auf ihrem Schoß saß eine der Porzellanpuppen, die sie gefertigt hatte. Mit einem Kamm strich sie durch das Haar der Puppe. Dickes Haar, das schwer zu verarbeiten gewesen und auch schwer in einer Frisur zu bändigen war.
„Melanie?“, fragte Sarah noch einmal, aber ihre Schwester wirkte vollkommen gedankenverloren und entrückt, während sie darin fortfuhr, den Kamm durch das Puppenhaar gleiten zu lassen.
Sarah trat an den niedrigen Wohnzimmertisch heran und legte etwas darauf.
Es war ein Zielfernrohr.
„Du hast dir vor Kurzem meinen Wagen geliehen, als deiner in der Werkstatt war. Und das hier war im Handschuhfach. Wir müssen darüber reden, Melanie.“
Melanie schwieg. Das konnte sie besonders gut. Hartnäckig schweigen und leiden. So sehr, dass es jedem anderen in ihrer Umgebung auch schlecht ging. Diesmal nicht!, dachte Sarah. Diesmal lasse ich dir das nicht durchgehen. Es geht einfach nicht mehr.
„Melanie, ich will jetzt die Wahrheit wissen.“
Jetzt ging ein Ruck durch Melanies Körper. Sie sah ihre Schwester an. „Wahrheit?“, echote sie, fast so, als hätte sie nur dieses eine Wort von dem verstanden, was Sarah gesagt hatte. „Welche Wahrheit, Sarah? Meine? Oder deine? Oder die Wahrheit, an die Menschen wie Timothy Winkelströter glauben, wenn sie aus irgendwelchen Fliegenpilzen die Drogen des Mittelalters nachzukochen versuchen?“ Ein eigenartiges, freudloses Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie sah auf ihre Puppe. „Meinst du die Wahrheit, die in diesen Haaren steckt?“ In ihren Augen blitzte es. Sie stand auf. Dabei musste sie sich mit einer Hand aufstützen. Sie ging zu der Schrankwand, kniete nieder und setzte die Puppe an den Platz, den Melanie für sie auserkoren hatte. Alles musste seine Ordnung haben. Dann stand sie auf und stützte sich dabei auf. Aufstehen und Treppensteigen war etwas schwierig, bei allem anderen sah man ihr nichts an – weder von den Bewegungsabläufen her noch, was die Schnelligkeit betraf.
„Melanie ...“
„Oder meinst du diese Wahrheit?“ Mit diesen Worten nahm sie ihre Perücke vom Kopf, die dem Naturhaar ihrer Schwester so exakt wie nur irgend möglich nachgearbeitet worden war. „Es gibt so viele Wahrheiten, Sarah. Für welche soll ich mich entscheiden?“
*
Anna brachte Branagorn nach Kinderhaus, bevor sie schließlich zum Polizeipräsidium am Friesenring fuhr. Von der Achtermannstraße aus lag das nun wirklich nicht gerade auf der Strecke und Branagorn wollte zunächst auch lieber mit dem Bus fahren, aber schließlich ließ er sich doch darauf ein, diesen besonderen und gewiss einmaligen Service seiner Therapeutin anzunehmen.
Der Grund dafür war vermutlich derselbe, aus dem Anna ihm die Fahrt überhaupt angeboten hatte: Sie wollten beide die Zeit nutzen, um ihre Unterhaltung fortzusetzen. Anna hatte das Gefühl, den Kopf etwas freier bekommen zu müssen. Die Erkenntnisse, die sich durch die Ansicht des Polizeivideos ergeben hatten, waren verwirrend.
„Glauben Sie, dass Melanie Aufderhaar hinter der Maske des Schwarzen Todes steckte, die Sie auf dem Video entdeckt haben?“, fragte Anna.
„Das weiß ich nicht. Es wäre aber möglich.“
„Ist das dieselbe Gestalt, mit der Sie gekämpft haben?“
„Auf dem Bild konnte ich die Augen nicht sehen. Wenn das möglich wäre, würde ich die Mörderseele erkennen, in die der Traumhenker gefahren ist, werte Cherenwen! Ganz bestimmt!“
„Ich werde vermutlich Gelegenheit haben, gleich mit Timothy Winkelströter zu sprechen und ...“
„Er ist unschuldig“, beharrte Branagorn auf seiner Meinung. „Sagt den Hütern der Ordnung, dass sie die Haare den Alchemisten übergeben sollen, wenn sie die Wahrheit erfahren wollen, denn nur so wird sie auf eine Weise an den Tag kommen, dass die unvollkommene Gerichtsbarkeit dieser Welt sie akzeptieren kann.“
„Ich tue mein Bestes, Branagorn.“
„Das weiß ich, Cherenwen“, gab Branagorn nun in einem deutlich versöhnlicheren Tonfall zurück. „Nur in einem Punkt gebt Ihr mir Anlass zur Kritik.“
„Und der wäre?“
„Ihr achtet zu wenig auf Euch, denn ich glaube, dass Ihr in Gefahr seid. Wenn Ihr wollt, werde ich Euch begleiten und bewachen, wohin Ihr auch geht.“
„Nein, das halte ich für keine gute Idee, Branagorn.“
„Warum nicht? Obwohl mir bereits zwei Schwerter genommen wurden, bin ich nicht ohne Magie! Und davon abgesehen habe ich noch weitere Artefakte in meinen Gemächern, auch wenn sie weitaus weniger mächtig sind als diejenigen, die man mir nahm.“
„Nein. Vielen Dank, Branagorn. Das wird nicht nötig sein!“
„Täuscht Euch da nicht!“, widersprach Branagorn. „Täuscht Euch da bloß nicht!“
„Haller bekommt zu viel, wenn ich Sie wieder im Präsidium anschleppe. Es ist schon hart an der Grenze, dass wir uns zusammen bei mir das Videomaterial angesehen haben.“
Branagorn atmet tief durch. Anna hielt ihren Wagen an. Sie hatten den Wohnblock erreicht, in dem Branagorn alias Frank Schmitt zu Hause war, wenn das der richtige Begriff dafür war. Vielleicht passte das Wort hausen besser als 'zu Hause sein', dachte Anna. Eine trostlose Umgebung war es, in der dieser eigentlich hochbegabte Mann leben musste. Eine Umgebung, deren graue Realität in einem so unfassbar krassen Gegensatz zu den farbigen Erzählungen von anderen Welten und fantastischer, allgewaltiger Magie stand, die Branagorn zu erzählen wusste.
„Wir sehen uns morgen“, sagte Anna. „Ich habe alle anderen Termine bis auf Weiteres abgesagt.“
„So bleiben wir über das sprechende Artefakt in Kontakt?“
„Wann immer Sie wollen oder ich Ihren Rat brauche, Branagorn.“ Anna lächelte unwillkürlich.
„Was amüsiert Euch, werte Cherenwen?“
„Dass ich das wirklich gesagt habe!“
„Dass Ihr meinen Rat braucht?“
„Ja.“
„Das ist nichts weiter als die verspätete Anerkenntnis der Realität. Ihr brauchtet meinen Rat schon in jener anderen Welt, in der wir uns zuerst begegneten. Leider habt Ihr ihn damals nicht angenommen und dem Lebensüberdruss nachgegeben.“
„Das ist jetzt aber eine Projektion, Branagorn. Schließlich haben Sie versucht, sich umzubringen – nicht ich.“
Doch darauf ging Branagorn nicht ein. Stattdessen sagte er mit sehr großem Ernst: „Diesmal solltet Ihr auf meinen Rat hören, teure Cherenwen. Ich bitte Euch!“
*
Branagorn sah Annas noch einen Moment nach, als sie davonfuhr. Dann ging er ins Haus. Zunächst suchte er seine Wohnung auf und nahm sich eines der Schwerter, die er noch besaß. Es passte nicht richtig in die Lederscheide und ragte etwas zu weit heraus. Außerdem war die Klinge leicht angerostet. Er hatte diese Waffe mal auf einem Flohmarkt erworben, wo sie als Teil eines Kaminbestecks angeboten worden war. Branagorn erinnere sich noch lebhaft an das ellenlange Verkaufsgespräch, in dem es im Wesentlichen darum gegangen war, dass Branagorn nicht das gesamte Kaminbesteck hatte kaufen wollen, während der Händler zunächst unter keinen Umständen bereit war, die Teile einzeln abzugeben. Schließlich hatte er es aber doch getan. Vielleicht, weil er zu der Erkenntnis gelangt war, dass er das gesamte Besteck wohl ohnehin nicht mehr loswerden würde oder einfach deshalb, weil Branagorn ihm auf so anhaltend penetrante Weise auf die Nerven ging, dass er sich irgendwie von dieser Folter befreien musste.
Branagorn hingegen war der festen Überzeugung, dass eine magische Formel zur Beeinflussung des Willens hier ihre Wirkung getan hatte. Eine Formel, die nur auf die schwachen Seelen von Sterblichen wirkte und die darüber hinaus in dieser Welt auch aus irgendeinem Grund nicht sonderlich zuverlässig war.
Dann begab sich Branagorn zu einer Wohnung, die sich ein Stockwerk tiefer befand. Ein Namensschild gab es nicht. Nur noch ein Abdruck und die Dübellöcher zeigten an, wo es mal angebracht gewesen war.
Branagorn klingelte.
Die Tür öffnete sich und zwei große dunkle Augen sahen ihn erstaunt an.
„Werter Taliban, ich brauche einen tapferen Kampfgefährten gegen die Macht des Bösen!“, verkündete Branagorn. „Einen, dem es nicht an Mut mangelt und der über das nötige Wissen verfügt.“
Taliban war so perplex, dass er sich sogar die tiefsitzenden Baggy Pants ein Stück hochzog, was bei ihm schon als versehentlicher Kulturbruch anzusehen war.
„Ey, wer hat dich abgezogen? Wen soll ich kloppen?“
„Auch wenn wir uns schon auf verschiedenen Seiten der Schlacht begegneten, weiß ich darum umso mehr, dass Ihr ein Mann von Ehre und Mut seid – also genau der, den ich brauche.“
„Ey, Mut hab ich!“, sagte Taliban. „Komm rein! Aber lässt du Schwert stecken!“
„Gewiss!“
„Sonst – Kumpel nervös. Ich nicht – aber Kumpel.“
„Eurem Anliegen soll Rechnung getragen werden, so wie ich hoffe, dass mein Anliegen bei Euch Gehör findet.“
„Hör alles, ich schwör!“
„Darf ich eintreten?“
„Hier kommst du rein.“
Branagorn folgte Taliban ins Wohnzimmer. Auf einem niedrigen Tisch war eine Schale mit Chips zu sehen. Außerdem ein paar Game Controller.
Einige von Talibans Freunden drängten sich auf dem Sofa und den Sesseln.
„Er ist cool, ich schwör!“, sagte Taliban, noch ehe jemand eine Bemerkung machen konnte. „Hat Problem, ich helfe.“
Branagorn deutete auf einen von mehreren Rechnern und Laptops, die sich sowohl auf als auch unter einem Küchentisch befanden. Einige der Geräte waren unverkabelt, andere jedoch sogar eingeschaltet.
„Ich brauche dieses Artefakt, um das Böse zu bekämpfen“, sagte Branagorn.
„Ey, willst du zocken?“, fragte Taliban. „Sach doch gleich! Ich dachte, Welt retten und jetzt nur daddeln.“
„Ihr irrt, werter Taliban. Es geht darum, eine Mörderseele zu fassen und eine Seelenverwandte vor dem Unheil zu bewahren.“
„Verwandte? Meinst du Ehre von Schwester.“
„Schwester der Seele“, sagte Branagorn.
„Ehre von Schwester ist heilig.“
„Ich brauche die Maschine des Suchens – und Ihr wisst zweifellos damit umzugehen.“
„Ach Google!“, meinte Taliban.
„Gibt auch I'm Halal“, mischte sich einer seiner Freunde ein. „Ist auch Suchmaschine – aber nur islamisch und alles halal.“
„Nein“, widersprach Taliban. „I'm halal ist schon wieder abgeschaltet.“
„Wieso das?“
„Stand nicht so viel drin. Kein Sex und keine Schlampen. Darum hat keiner geklickt.“
„Ach so.“
Taliban wandte sich an Branagorn. „Ich helfe“, erklärte er.Wenig später erschienen Seiten auf dem Bildschirm von einem der Rechner, die Branagorn in einem scheinbar rasenden Tempo überflog. Taliban schaute dabei nur kopfschüttelnd zu und half Branagorn ab und zu, wenn es technische Probleme gab. „Ich bin nur an die Maschinen des Rechnens gewöhnt, die es in der Universitätsbibliothek gibt“, erklärte Branagorn. „Wie kommt man auf diese Seite dort?“
„Zeitungsarchiv. Ist gebührenpflichtig – aber gibt Weg“, versprach Taliban. „Wie bei Kopierschutz, ich schwör. Ist alles für Arsch.“
*
Branagorn sog die Informationen nur so in sich auf. Ein Hausbrand in Borghorst, ein Mädchen, das überlebt hatte und durch zahlreiche Hauttransplantationen an Kopf und Bein gerettet wurde. Dreizehn Jahre war Melanie Aufderhaar damals. Branagorn fand ein aktuelles Bild in einem Netzwerk für ehemalige Schulfreunde und auf einer Seite, die sich mit der Herstellung und dem Verkauf von Porzellanpuppen beschäftigte. Ein ausführlicher Zeitungsartikel stellte sie anlässlich eines Preises vor, den ihre Puppenkrippe durch das Bistum erhalten hatte. Äußerlich war ihr nichts mehr anzusehen und sie sah ihrer Schwester Sarah, der Branagorn ja begegnet war, zum Verwechseln ähnlich. Zumindest für den oberflächlichen Blick der Sterblichen!, dachte Branagorn. Denn so sehr sie ihre Perücke auch der ihrer Schwester angeglichen haben mochte, einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden gab es.
Die Augen.