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Der Würger von Osnabrück

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„Wir hätten besser was bei Rabbel essen sollen“, meinte Anna, als sie bereits wieder die fünf Kilometer zwischen Tecklenburg und Lengerich zurückgelegt hatten und jetzt in einer der zahlreichen Döner-Imbisse in der Innenstadt saßen. Haller aß mit großem Appetit einen Döner Kebab. Anna nahm nichts. Das Essen war ihrer Ansicht nach alles zu kalorienhaltig und außerdem hatte sie eine tiefe Abneigung gegen Knoblauch. Dessen Genuss erschien ihr unvereinbar mit der Ausübung sozialer Berufe. Haller schien da keinerlei Skrupel zu haben. Er aß einfach, was ihm schmeckte.

„Schon mal davon gehört: Wer Knoblauch zu sich nimmt, ist fit, aber einsam!“, konnte sie sich schließlich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen.

„Ich habe nichts gegen Fitness und nichts gegen Einsamkeit“, sagte Haller. „Passt also.“ Er unterdrückte ein Rülpsen und trank den starken Kaffee aus. „Aber zu was Wichtigerem: Was hältst du von Pamela Strothmann und ihrer Aussage? Du hast auf der Fahrt noch nichts gesagt.“

„Wir wissen jetzt, wer Olli und Björni auf dem Facebook-Foto sind. Das ist ja auch schon mal was. Und ansonsten sind die Parallelen zwischen den Ritualen dieser 'Neuen Templer' und der Art und Weise, wie der Barbier seine Opfer umbringt, schon recht auffällig.“

„Zumindest, was den Aspekt der Kopfrasur angeht“, stimmte Haller zu. „Was hältst du davon, wenn wir mal einen kleinen Abstecher nach Osnabrück machen? Sind von hier aus keine zwanzig Kilometer – und da wir schon mal fast dort sind, könnten wir uns diesen Tornhöven und seine Templer doch mal vorknöpfen.“

„Gut.“

Haller nahm sein Laptop aus seiner Umhängetasche, die er bis dahin gegen ein Stuhlbein gelehnt hatte. Es dauerte nicht lange und er war online und ließ sich die Webseite der 'Neuen Templer' anzeigen. „Im Impressum steht ein Verein“, meinte er dann etwas verwundert.

„Wir sind in Deutschland“, sagte Anna. „Auch Exorzisten oder Anti-Exorzisten, Dämonenjünger und Geheimsekten treten als Vereine auf.“

„Immerhin haben die anscheinend Geld genug, eine schöne Stadtvilla in Osnabrück anzumieten“, meinte Haller.

„Vielleicht gehört sie den 'Neuen Templern' sogar“, gab Anna zurück.

Haller blickte auf und hob die Augenbrauen. „Wie kommst du darauf?“

„Spirituelle Erfüllung kombiniert mit Lebenshilfe und Übertragung mentaler Ressourcen durch Teilhabe an einer verschworenen Gemeinschaft, wozu letztlich auch diese Ekelrituale dienen. Das ist eine unschlagbare Kombination – vor allem, wenn man auf den Trichter gekommen ist, dafür ordentlich viel Geld zu verlangen. Was gut ist, sollte schließlich auch teuer sein und wenn man für etwas viel bezahlt hat, wird man kaum wahrhaben wollen, dass das alles nur fauler Zauber war!“

„Wenn du das alles weißt, weshalb schlägst du dich dann immer noch als Psychologin mit irgendwelchen Krankenkassen oder unserer Zahlungsstelle herum und gründest nicht einfach eine Religion?“

„Ich bin nicht Psychologin geworden, um Menschen zu betrügen. Dann wäre ich vielleicht in die Werbung gegangen und hätte keine Praxis.“

„Ach, nein? Spielt der Aspekt des falschen Trostes denn nicht immer dabei mit?“

„Trost ja, aber kein falscher, Sven.“

„Dann bist du tatsächlich Psychologin, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen?“

„Nein, um zu wissen, wie man die Wahrheit ertragen kann.“

„Das klingt ehrlich gesagt deprimierend.“

„Findest du?“

„Allerdings.“

„Hast du denn eine weniger deprimierende Erklärung dafür, weshalb du Polizist geworden bist? Die Aussicht auf eine gute Pension kann es ja wohl nicht gewesen sein, denn dass diese den Beamten deines Jahrgangs niemand mehr zahlen wird, weiß doch jeder, der die vier Grundrechenarten beherrscht und die aktuelle Diskussion um Demographie und Alterspyramide verfolgt.“

Haller verzog das Gesicht. „Du kommst – wenn auch auf Umwegen - immer wieder auf denselben Punkt zurück.“

„Ist das tatsächlich so auffällig?“

„Ja. Aber da ich weiß, dass du mich deswegen immer wieder löchern wirst, weil du es anscheinend nicht ertragen kannst, wenn du die Beweggründe der dich umgebenden Personen nicht restlos durchschaust und berechnen kannst, werde ich dir eine Antwort geben.“

„Ich bin gespannt!“

Haller lehnte sich etwas zurück. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, weil es so simpel klingt und so genau in deine Analyse-Schemata passt, dass es eigentlich schon wieder nicht wahr sein kann.“

„So ist manchmal das Leben. Und wenn das, was du Schemata nennst, nicht auch ab und zu mal zutreffen würde, dann wären es keine Schemata!“

„Eins zu null.“

„Und?“

Haller beugte sich vor und sprach in gedämpftem Tonfall. „Als ich acht war, dachte mein Vater, es sei eine gute Idee, die klamme Familienkasse aufzufüllen, indem er die Zweigstelle einer Bank überfiel. Das hat unser ganzes Familienleben danach etwas auf den Kopf gestellt, wie man sich vorstellen kann.“

„Und jetzt soll der Kriminalhauptkommissar Haller das irgendwie wieder in Ordnung bringen“, schloss Anna.

„Ja, so könnte man das wohl zusammenfassen.“

Haller griff zu seinem Mobiltelefon und rief im Präsidium an. Er hatte Raaben am Apparat. „Ich möchte alles über die 'Neuen Templer' wissen. Vor allen Dingen, ob es da in der Vergangenheit irgendwelche strafrechtlich relevante Sachen gab. Körperverletzung, finanzielle Unregelmäßigkeiten, was auch immer. Und außerdem wüsste ich gerne, ob irgendein anderes unserer Opfer etwas mit dieser Sekte zu tun hat ... Wie bitte? Da sitzt schon ein Kollege dran? Dann setz dich zu ihm, damit es schneller geht. Danke.“

„Einen kooperativen Führungsstil nennt man das nicht gerade“, meinte Anna.

„Vollkommen richtig. Davon halte ich auch nicht viel“, sagte Haller. „Und davon abgesehen, wird Klarheit häufig mit Autorität verwechselt. Das ist in Wahrheit aber was ganz anderes.“

„Na dann ... Es sollte sich noch mal jemand über den Obduktionsbericht hermachen, Sven.“

„Wieso? Wir wissen, woran Jennifer Heinze gestorben ist.“

„Aber es könnte sein, dass die Rituale, von denen Pamela Strothmann gesprochen hat, Spuren hinterlassen haben. Spuren, die vielleicht nicht beachtet wurden, weil niemand sich vorstellen konnte, wonach eigentlich gesucht wird. Wir wüssten dann zumindest, ob Pamela Strothmann nur viel redet, oder ob an ihrer Aussage tatsächlich etwas dran ist!“

„Ich werde einfach direkt in der Gerichtsmedizin anrufen“, kündigte Haller an. „Um in dem Bericht noch mal nachzusehen, bin ich schlicht zu faul.“

„Ich glaube nicht, dass man sich dort darüber freuen wird, dass du die Berichte nur überfliegst.“

Haller klappte sein Laptop zusammen. „Ich erledige das während der Fahrt“, kündigte er an.

*



Wenig später saßen sie wieder im Volvo und Haller bog an einer Aral-Tankstelle in die Osnabrücker Straße ab, die ihren Namen schließlich in Osnabrücker Landstraße änderte.

„Keine Autobahn?“, fragte Anna.

„Nein. Die Zeitersparnis ist nicht der Rede wert. Und wenn wir direkt in die Stadt fahren, nehme ich lieber die Landstraße.“

Sie hatten den Teutoburger Wald überquert, der hier nicht mehr als eine kleine Steigung war – was die Anwohner keineswegs davon abhielt, von 'Berg' zu sprechen. Anna hatte das oft genug mitbekommen, wie Pfleger und Ärzte der westfälischen Kliniken darüber sprachen, von denen einige in Osnabrück und Umgebung ihren Wohnsitz hatten. Osnabrück und Niedersachsen lagen 'hinter dem Berg' und niemand hätte gesagt: 'Ich fahre über den kleinen Hügel.' Alles war eben relativ. Und wenn man als Lastwagenfahrer dumm genug war, bei Schnee und Eis ohne Winterreifen unterwegs zu sein, dann reichte selbst dieser kleine Hügel in Kombination mit der für die hiesigen Verhältnisse typischen Schneetiefe zwischen einem und maximal zwei Zentimetern vollkommen aus, um die Reifen eines Sattelschleppers durchdrehen zu lassen und die Osnabrücker Landstraße an der ersten kleinen Steigung zu blockieren.

Haller telefonierte während der Fahrt mit Dr. Eugen Wittefeld, dem Chef des gerichtsmedizinischen Instituts. Wie üblich benutzte er dabei nicht die Freisprechanlage und Anna überlegte schon, ob Haller vielleicht deswegen die Landstraße fuhr, weil er dort mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf Kollegen traf, die dort Streife fuhren.

Das Gespräch mit Dr. Wittefeld war etwas zäh. Er schien wenig Verständnis dafür zu haben, dass er Haller seinen Bericht erklären musste, an dem es nach Meinung des Gerichtsmediziners offenbar nichts zu erläutern gab. Eine alte Mediziner-Krankheit, dachte Anna.

Aber schließlich konnte Haller in Erfahrung bringen, was ihn interessierte. „Es gibt Spuren von Fesselungen an Hand- und Fußgelenken“, sagte er dann. „Allerdings schienen die bisher nicht im Zusammenhang mit dem Fall zu stehen und auch Dr. Wittefeld hat sie eindeutig als tat-irrelevante Merkmale definiert.“

„Das übliche Problem also.“

„Wie?“

„Zu frühe Festlegung“, erläuterte Anna. „Der häufigste Ermittlungsfehler. Man schließt bestimmte Beweise von vornherein aus, weil man schon glaubt, zu wissen, was sich ereignet hat. Wenn man erkennt, dass man falsch lag, ist es dann häufig schon zu spät.“

„Sag bloß, da gibt es sogar eine empirische Untersuchung darüber!“

„Die gibt es bestimmt, auch wenn ich jetzt nicht auswendig die Stelle in der Fachliteratur zitieren könnte.“

*



Anna nutzte die Fahrt ebenfalls für ein Telefongespräch. Sie rief die Handynummer von Frank Schmitt an. Na komm schon, melde dich!, ging es ihr etwas ungeduldig durch den Kopf, ehe sie schließlich auf eine Mailbox weitergeleitet wurde. „Branagorn? Ich hoffe, Sie hören sich diese Meldung auch irgendwann einmal an. Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es Ihnen gut geht und Sie bis zur nächsten Sitzung mit allem klarkommen ...“ Anna machte eine Pause. „Denken Sie nicht, dass ich Sie kontrollieren möchte, Branagorn. Ich will Ihnen nur helfen. Und wenn Sie genauer darüber nachdenken, werden Sie zugeben müssen, dass dies der Wahrheit entspricht. Also melden Sie sich ruhig bei mir, falls Sie mir ein Feedback über die letzten Tage geben wollen. Machen Sie es gut.“ Anna beendete das Gespräch.

„Der Spinner scheint den festen therapeutischen Händen entglitten zu sein!“, stellte Haller mit deutlich heraushörbarem Sarkasmus fest. „Sollte es möglich sein, dass er dich vielleicht einfach nicht mehr braucht!“

Anna seufzte. „Ja, das könnte natürlich sein.“

„Wäre die Loslösung aus dem übermäßig engen Therapeuten-Patienten-Verhältnis nicht eigentlich ein wünschenswerter Zustand?“

„Natürlich!“, erwiderte sie. „Aber ich mache mir trotzdem Sorgen um ihn.“

„Vielleicht sollte man sich mehr Sorgen um die Therapeutin machen.“

„Weil ich die Distanz nicht wahre?“

„Zum Beispiel.“

„Entschuldigung, aber das können Sie nicht beurteilen.“

Ein Satz wie ein Fallbeil.

„Sie?“, echote Haller.

„Ich meinte du.“

„Nein, du meinst Sie, denn es ist viel leichter jemanden mit 'Sie' abzukanzeln als beim 'Du'. Du könntest mich stattdessen auch einfach beschimpfen – denn das ist beim 'Du' leichter.“

Anna seufzte. „Wir sollten uns auf den Mörder konzentrieren, den wir den Barbier nennen.“

„Richtig. Und nicht auf Herrn Schmitt.“

„Herr Schmitt steht ihm aus irgendeinem Grund nahe. Es tut mir leid, aber was er über den Barbier gesagt hat, ist zwar auf den ersten Blick sehr verworren, aber seltsamerweise liegt er doch so nahe an der Wahrheit. Er scheint einfach einen sehr guten Instinkt zu haben.“

„Magie ist ein verbotenes Wort für Leute mit Hochschulstudium. Aber genau das ist doch gemeint.“

„Nein, das ist nicht gemeint“, widersprach Anna. „Für die Fähigkeiten von Frank Schmitt gibt es nachvollziehbare Erklärungen – und wenn er sagt, dass er dem Täter schon mal begegnet ist und ihn an den Augen zu erkennen vermag, dann halte ich das nicht grundsätzlich für ausgeschlossen.“

„Ich möchte nicht sehen, was für Gesichter in der Staatsanwaltschaft gemacht werden, wenn ich mit einem Verdächtigen ankomme, den ich nur deshalb verhaftet habe, weil sich ein offensichtlich psychisch kranker Mensch einbildet, anhand der Augen erkennen zu können, wer der Täter ist!“

„Er ist nicht in dem Sinne krank“, widersprach Anna. „Schon der Begriff Patient ist eigentlich irreführend, denn das setzt eigentlich voraus, dass jemand leidet. Aber Branagorn leidet nicht. Er ist einfach nur anders und alles, was ihm an Schwierigkeiten widerfährt, hat in erster Linie mit seiner Andersartigkeit zu tun.“

„Nicht eher damit, dass er die Realität nicht zur Kenntnis nehmen kann?“

„Von was für einer Realität sprechen wir? In unserer Welt nehmen wir Dinge wahr und vergessen den größten Teil gleich wieder. Das müssen wir, um das Wesentliche behalten zu können. Und das, was wesentlich ist, kann sehr verschieden sein. Darum gibt es so viele unzuverlässige Zeugenaussagen, bei denen sich Menschen einbilden, einen bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gesehen zu haben, obwohl das eigentlich gar nicht sein kann – ein Phänomen, das einem Kripo-Beamten doch geläufig sein sollte!“

„Sicher.“

„Aber bei Frank Schmitt und anderen Savants funktionieren diese Filter des Bewusstseins nicht wie bei uns. Sie registrieren unter Umständen jedes Detail und behalten es ewig.“

„Klingt nach einem überlasteten und absturzgefährdeten Hirncomputer.“

„Ja, die Gefahr besteht tatsächlich. Aber man sollte niemals vergessen, dass das, was jemand wie Frank Schmitt registriert hat, immer abrufbar bliebt – und zwar mit einer Präzision, von der unsereins nicht einmal zu träumen wagt!“

„Wenn das ein Versuch gewesen sein sollte, diesen Verrückten wieder in irgendeiner Form in unsere Ermittlungen zu integrieren, dann kann ich nur noch mal mein Veto dagegen wiederholen, Anna! Oder aus welchem Grund kommst du immer wieder auf diesen komischen Krieger zurück?“

„Ich dachte eigentlich, dass das nur eine ungezwungene Plauderei war.“

„Ungezwungene Plauderei!“, echote Haller und lachte kurz auf. „Wenn du das sagst, klingt das irgendwie so ähnlich wie Nachrichtensprecher im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die sich gegenseitig duzen, um eine Lockerheit zu demonstrieren, die sie einfach nicht haben.“

„Danke. Du weißt genau, was deine Gesprächspartner nicht hören wollen.“

„Tut mir leid, ist wohl eine Berufskrankheit“, meinte Haller.

*



Sie hatten inzwischen Osnabrück erreicht, fuhren auf der grünen Welle durch die Stadt, vorbei am gelb gestrichenen Schloss, in dem ein Großteil der Universitätsverwaltung untergebracht war.

Das Parkleitsystem zeigte an, wo wie viele freie Einstellplätze zu finden waren. Anna war nicht oft in Osnabrück, darum kannte sie sich hier nicht sonderlich gut aus und hatte ziemlich bald die Orientierung verloren, nachdem Haller ein paarmal abgebogen war.

Schließlich erreichten sie eine von Bäumen umsäumte Allee, die zu beiden Seiten mit mehr oder minder gut erhaltenen Villen im Jugendstil bebaut war. Umgeben wurden die Grundstücke oft von hohen Mauern, auf die gusseiserne Gitter aufgesetzt waren. Hohe Bäume und Sträucher verdeckten häufig die Sicht.

Haller fand einen Parkplatz am Straßenrand.

„Ein paar Schritte, dann müssten wir dort sein.“

„Schöne Gegend“, meinte Anna.

„Schöne Stadt“, ergänzte Haller. „Aber wohnen möchte ich hier trotzdem nicht.“

„Wieso nicht?“

„Wegen den Fliegerbomben. Immer wieder kommt von dem Zeug noch was ans Tageslicht und dann werden ganze Straßenzüge evakuiert.“ Er schüttelte den Kopf. „Den Stress täte ich mir nicht an.“

Anna stieg aus und streckte sich etwas. Sie führte die Bewegung aber nicht richtig zu Ende, denn irgendwie war es ihr peinlich, sich so hemmungslos zu zeigen. Und im Grunde war es ihr sogar schon peinlich, überhaupt mit dem Ausstrecken der Arme begonnen zu haben.

Haller hingegen schien gar nichts peinlich zu sein. Er pupste einfach. Besser hier als im Auto, schien er zu denken und tat dann so, als hätte es diese fast unabwendbare Folge des Döner-Verzehrs gar nicht gegeben.

Sie gingen ein Stück die Straße entlang. Die meisten Villen schienen gar nicht in Privatbesitz zu sein und wenn man hier und da mal einen etwas genaueren Blick durch die gusseisernen Gitterstäbe erhaschen konnte, dann war sehr deutlich, dass viele der Grundstücke nicht gut gepflegt waren. Schierer Wildwuchs schien da zu herrschen – oder aber Ebbe in der Kasse derer, die für die Pflege zuständig gewesen wären. Das wäre unter anderem die Universität Osnabrück gewesen, die einige dieser Häuser angemietet hatte, um Fachbereiche oder Verwaltungsabteilungen auszulagern, zusätzliche Seminarräume zur Verfügung zu haben oder Forschungsinstitute unterbringen zu können. So wirkten einige dieser Anwesen wie ziemlich verwunschene Hexenhäuschen.

Dann fanden sie schließlich an einer Einfahrt ein Schild, an dem >Kirche und Orden der Neuen Templer/Verein für angewandte Spiritualität und Lebenshilfe e.V.< stand.

„Das klingt ja fast so seriös wie <Institut für sozialhistorische und religionsgeschichtliche Studien des alten Orients<“, meinte Haller grinsend.

„Vielleicht steckt im Kriminalhauptkommissar Sven Haller ja auch ein verkappter Savant mit fotografischem Gedächtnis und dem ein oder anderen zwanghaften Verhaltenszug“, meinte Anna.

„Wie kommst du darauf?“

„Du hast immerhin wortwörtlich behalten, was auf dem Schild drei Häuser hinter uns gestanden hat!“

„Nein, das war nur das trainierte Gedächtnis eines Polizisten. Tut mir leid. Aber falls ich jetzt plötzlich versuchen sollte, diese Eisengittertür mit Magie zu öffnen, dann hätte ich auf jeden Fall eine Entschuldigung für mein Verhalten, von dem ich wüsste, dass eine gewisse Diplom-Psychologin namens Anna van der Pütten sie akzeptieren würde!“

„Da sei dir mal nicht zu sicher!“

„Wieso? Genießt für dich nur Frank Schmitt alias Branagorn den ausgedehnten Artenschutz eines Irren?“

„Am Anfang steht immer eine sorgfältige Diagnose. Und die fällt in diesem Fall vollkommen anders aus.“

Am gusseisernen Tor gab es eine Klingel und eine Sprechanlage. Haller betätigte die Klingel. Aber es erfolgte keine Reaktion. Also klingelte er noch einmal und wartete.

Wieder nichts.

„Scheint, als würden auch Freizeit-Templer pünktlich Feierabend machen“, meinte Anna. „Der Gewerkschaftsgedanke scheint sich selbst bei der Mission, die Welt erst von falschen Dämonen zu befreien und sie anschließend mit den richtigen zu infizieren, irgendwie durchgesetzt zu haben.“

Haller versuchte es ein letztes Mal, ohne zu glauben, dass ihnen tatsächlich noch jemand öffnen würde. Eine rechtliche Befugnis, die Tür aufzubrechen oder die Mauer zu überklettern gab es nicht. Schließlich war keine Gefahr im Verzug und gegen Jürgen Tornhöven lag abgesehen von den Verdächtigungen durch Pamela Strothmann nichts vor. Und ob die wirklich stichhaltig waren, musste sich erst noch herausstellen.

„Ich glaube, wir sollten bei Tornhövens Privatadresse vorbeischauen“, schlug Anna vor. „Das dürfte deutlich ergiebiger sein, als darauf zu warten, dass sich hier noch irgendetwas tut.“

Haller umfasste einen der gusseisernen Gitterstäbe des Tors und stellte fest, dass es sich öffnen ließ. Es war ganz offensichtlich nicht abgeschlossen. Mühelos bewegte es sich und stand wenig später einen etwa einen Meter breiten Spalt weit offen. „Ich würde sagen, das ist so etwas wie eine Einladung“, fand Haller und machte die ersten Schritte nach vorn.

Die Scharniere des Tors quietschten, als Haller es so weit öffnete, dass er hindurchgehen konnte. Er war schon ein Dutzend Schritt weit auf das zur Villa der 'Neuen Templer' gehörende Grundstück getreten, als er sich umdrehte. Anna stand noch immer am Tor und war ihm bisher nicht gefolgt.

„Was ist los?“

„Ist das denn alles rechtens so?“

„Interessiert es dich nicht, was hier los ist? Komm schon, ich mache nur das, was auch der Postbote tun würde, wenn die Klingel kaputt ist.“

„Die Klingel ist nicht kaputt.“

„Also, ich hatte schon das Gefühl.“

Anna überwand schließlich ihre Bedenken und folgte Haller, der allerdings nicht auf sie wartete. Er ging auf die Haustür zu. Auch dort gab es eine Klingel, die der Kriminalhauptkommissar betätigte. Anna holte ihn ein.

„Hier ist zurzeit niemand“, gab Anna ihrer Überzeugung Ausdruck.

Haller sah auf seine Armbanduhr. „Und ich dachte immer, die Zeit kurz nach Feierabend wäre genau das Richtige für Hobby-Okkultisten und Geheimtreffen von Sektierern, weil dann niemand mehr arbeiten muss! Aber vielleicht brauchen die einfachen Ritualteilnehmer ja sogar einen Zweitjob, um sich den Spaß leisten zu können und haben dann erst gegen Mitternacht Zeit, sich den dämonischen Mächten zu widmen.“

„He, Sie!“, rief eine heisere Stimme, der ein Husten folgte. Raucherhusten!, glaubte Anna sofort zu erkennen. Sie hatte ein untrügliches Ohr dafür. Ihr Vater hatte jahrzehntelang geraucht, bis es ihm der Arzt nach dem ersten Herzinfarkt verboten hatte. Anna hatte lange Zeit unter der Vorstellung gelitten, wegen des jahrelangen Passiv-Rauchens irgendwann an Lungenkrebs oder einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems zu sterben und war deswegen auch regelmäßig zum Arzt gegangen. Inzwischen hatte sie diese Check-ups auf ein Mal im Vierteljahr reduziert, was sie allerdings nicht davor bewahrte, von ihren Hausärzten regelmäßig für eine Hypochonderin gehalten zu werden, was dazu führte, dass sie relativ häufig den Arzt wechselte. Aber es war ja ohnehin vernünftig, auch andere Meinungen hinzuzuziehen.

Ein dicker Mann mit hochrotem Kopf und krausem grauen Haar kam hinter der Hausecke auf die beiden Besucher zu und der erste Gedanke, der Anna nach der zielsicheren Raucherhusten-Diagnose kam, war der, dass sie illegal hier waren und es jetzt auf jeden Fall Ärger geben würde. Wenn etwas schiefging, dann in der Regel richtig. Aber das sollte Haller ausbaden. Sollte sich der Kripo-Mann doch eine gute Ausrede ausdenken. Sie würde so tun, als hätte sie das nicht gehört. Eigentlich war das Kopf-in-den-Sand-Stecken beim Auftauchen von Schwierigkeiten etwas, was sie ihren Patienten niemals empfohlen hätte. Irgendwann während des Studiums hatte einer ihrer Professoren sie mit einem zynischen Statement sehr erbost, wonach ein Hinweisschild niemals in die Richtung laufen würde, in die es wies. Warum hätte man also von einem Ratgeber erwarten sollen, dass er unbedingt seine eigenen Ratschläge auch selbst befolgte? In diesem Moment verstand Anna zum ersten Mal, die Wahrheit, die darin lag.

Der Mann näherte sich langsam, aber bemüht. Und er rang dabei nach Luft, hustete noch einmal und brauchte erst ein paar Augenblicke, um wieder sprechen zu können. Dass das nur in zweiter Linie an dem zum Asthma ausgewachsenen Raucherhusten und seinem Übergewicht lag, war bereits zu ahnen, denn in seinem Gesicht stand blankes Entsetzen.

Er trug eine braune Cordhose und ein kariertes Hemd, dessen ersten drei Knöpfe offen waren, was ihm offenbar trotzdem nicht genug Luft zum Atmen verschaffte. In der Brusttasche des Hemdes steckte eine Packung Zigaretten. Er ist also einer von den Unverbesserlichen, die von ihren Sargnägeln einfach nicht lassen können!, ging es Anna durch den Kopf. Aber die Furcht, die in seinen auffallend unruhigen, flackernden Augen zu sehen war, irritierte sie zunehmend.

Haller nutzte den sprachlosen Moment und hielt dem Raucher seinen Ausweis hin. „Haller, Kripo Münster.“

„Na, Gott sei Dank, Sie sind schon da.“

Auf Hallers Stirn bildete sich eine tiefe Falte. „Schon da?“, echote er.

„Ja, ich hab Sie doch gerufen. Mit dem Handy.“

„Gerufen?“

„Sie müssen sich das ansehen!“

„Was?“

„Na, kommen Sie einfach ...“, er atmete noch mal heftig und rasselnd, bevor er dann den Satz zu Ende brachte, obwohl man sowieso wusste, was noch kommen würde, „... mit!“

Haller zuckte mit den Schultern, sah kurz zu Anna herüber und sagte dann: „Bitte nach Ihnen, Herr ...“

„Driemeyer. Ich heiße Driemeyer und mir gehört das Haus hier.“

Er drehte sich um und ging voran. Haller und Anna folgten ihm.

„Dann haben Sie es an diese sogenannten 'Neuen Templer' vermietet?“

„Genau.“ Er ächzte. „Großer Fehler. Aber das weiß man ja nie im Voraus. Andererseits haben die bisher immer ihre Miete gezahlt, was heutzutage auch nicht unbedingt ...“ - Er ächzte wieder und vollendete den Satz dann auch nicht mehr. „In einem anderen Haus, das mir gehört, hatte ich Mietnomaden. Hat mich fast ruiniert.“

Das Gras war knöchelhoch und von zahllosen Blumen und Moos durchsetzt. Mehr eine Wildwiese als ein Rasen. Anna kam sich vor wie ein Storch, weil sie das Gefühl hatte, genau darauf achten zu müssen, wo sie ihren Fuß hinsetzte. Sie wollte schließlich in nichts hineintreten. Was auch immer das auch sein mochte. Schnecken, Hundekot, Dornengewächse oder einfach nur eine Stelle, an der sich seit dem letzten Regen noch etwas Feuchtigkeit gehalten hatte, sodass ihre Socken nass wurden. Haller trampelte einfach drauflos. Auch, als das Gras noch etwas höher wurde und ihm fast bis zum Knie reichte.

„Ja, ist nicht gerade gut gepflegt hier, ich weiß“, sagte Driemeyer.

„Na ja, Sie wollen ja auch nicht am Wettbewerb 'Unser Dorf soll schöner werden' teilnehmen, oder?“, meinte Haller wenig sensibel, denn dieser Mann hatte nun wirklich im Moment für flapsige Bemerkungen keinen Sinn. Dass er schwitzte, musste ja an der Kombination warmes Wetter plus Übergewicht liegen. Aber sein Gesicht war so aschfahl wie Anna das bisher nur bei Menschen gesehen hatte, denen soeben etwas widerfahren war, das sie zutiefst schockiert hatte.

Sie gelangten schließlich an ein Kellerfenster, das in einen etwa anderthalb Meter tiefen Schacht eingelassen war. Es war abgeklappt. Ein gusseisernes Gitter verhinderte, dass eventuelle Einbrecher sich das hätten zunutze machen können. Und außerdem gab es noch ein Rost, das den Schacht abdeckte, damit niemand hineinfiel.

Ein übler Gestank schlug Anna entgegen.

Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen vergleichbaren Geruch in der Nase gehabt zu haben. Zumindest nicht in gleicher Intensität. Sie hielt unwillkürlich den Atem an. Myriaden von glänzenden Fliegen umschwirrten das Fenster. Sie drangen aus dem Fenster heraus und surrten unruhig durcheinander. Ihre Panzer glänzten im Licht der inzwischen schon tiefer stehenden Sonne.

Haller scheuchte einige von ihnen mit wedelnden Bewegungen davon.

„Da habe ich doch recht, oder?“, meinte Driemeyer. „Da ist doch was nicht in Ordnung!“

„Das sind Totenfliegen“, sagte Haller tonlos.

*



Martinshörner waren in diesem Moment zu hören. Einsatzwagen der Polizei fuhren offenbar auf das Grundstück, als Anna das Haus bereits wieder umrundet und die Vorderfront erreicht hatte.

Haller und Driemeyer folgten ihr etwas später. Einen Moment länger und ich hätte mich übergeben müssen!, durchfuhr es Anna und auch jetzt hatte das Ringen mit den Reflexen ihres Magen-Darm-Traktes kein Ende. Ihr war ziemlich flau. Der Geruch hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit dem, den sie in einer Leichenhalle mal erlebt hatte. Nur dass darin auch eine deutliche Note irgendwelcher Desinfizierungsmittel herauszuriechen gewesen war, was die Sache dann doch um einiges erträglicher machte. Im Hintergrund hörte sie, wie Haller und Driemeyer sich unterhielten.

„Also das war so: Vom Nachbargrundstück sind Kinder hierhergekommen, um einen Ball wiederzuholen, der hier rübergeflogen ist.“

„Kinder?“, wunderte sich Haller. „Das sah mir nicht so aus wie eine Gegend, in der viele Kinder wohnen.“

„Sie wohnen auch nicht hier. Aber an der Rückfront grenzt dieses Grundstück an eine Ganztagsschule. Ab und zu fliegt da schon mal was rüber und der Krach ist ja auch nicht ohne. Ein Nachbar hat früher immer vergeblich dagegen geklagt, aber das ist dann wohl im Sande verlaufen. Jedenfalls haben die Kinder ihrem Lehrer Bescheid gesagt und von ganz vielen Fliegen berichtet, die aus einem Fenster kommen und der Lehrer hat es dem Schulleiter gesagt und der hat mich dann angerufen.“

„Und was ist mit Ihren Mietern?“

„Ja, von denen war ja keiner erreichbar. Ich habe natürlich versucht, von diesem Templer-Verein jemanden an die Leitung zu bekommen, aber es ist niemand drangegangen. Also habe ich mich selbst hierherbemüht, um die Sache mal nachzuprüfen. Ich dachte erst, da spinnt jemand herum.“ Driemeyer machte eine kurze Pause, um wieder zu Atem zu kommen, was aber erst mal in einem Hustenanfall endete. „Furchtbarer Geruch!“, meinte er. „Ich glaube, den werde ich nie vergessen. Ist ja schlimmer, als in einer Kläranlage. Ich glaube, da brauche ich erst mal eine Zigarette!“

„Habe Sie denn einen Schlüssel zum Haus?“

„Ja, habe ich. Aber ich wollte auch nichts verkehrt machen und einfach hineingehen, zumal ich ja auch nicht wusste, was mich da erwartet. Ich meine, man hört doch immer so viel davon, dass man an einem Tatort keine Spuren verwischen soll und so was.“

Driemeyer steckte sich jetzt tatsächlich eine Zigarette in den Mund, suchte dann in den tiefen Taschen seiner für das Wetter viel zu warmen Cordhose nach einem Feuerzeug und fand es schließlich.

Dann blieb er stehen und versuchte, sich die Zigarette anzuzünden, was schwierig zu sein schien, denn das Feuerzeug schien ziemlich leer gebrannt zu sein. Funken sprühten, aber der Glimmstängel wollte einfach nicht glimmen, was Driemeyer schließlich so aufregte, dass er falsch atmete und einen Hustenanfall bekam – den schlimmsten bisher.

Haller ging unterdessen den uniformierten Beamten entgegen.

„Haller, Kripo Münster.“

„Oelrich, Polizei Osnabrück. Wundert mich, dass Sie aus Münster schneller hier sind als wir!“

„Nein, das ist reiner Zufall!“

„Wir haben hier einen Verdacht auf einen Leichenfund, richtig?“

„Ja.“

„Ist der Hausbesitzer erreichbar?“

„Das Haus wurde von einem Verein gemietet. Aber der Eigentümer ist hier und hat einen Schlüssel.“ Haller beschrieb Oelrich kurz die Lage, wie er sie vorgefunden hatte. „Ich würde sagen: Nichts wie rein. Sie können natürlich auch gerne noch selbst eine Nase von diesem Duft nehmen und sich etwas von den Fliegen umschwirren lassen.“

„Nein, danke“, sagte Oelrich.

Wenig später öffnete Driemeyer die Tür. Haller folgte ihm auf dem Fuß. Dann folgten Oelrich und zwei seiner Beamten und ganz zum Schluss erst Anna.

Innen war die Villa nichts Besonderes. Ein hoher Flur, eine uralte Tapete und Lampen, die man schon als Zeugen der Geschichte bezeichnen konnte. Die letzten Renovierungsarbeiten mussten schon sehr lange zurückliegen. Ein schwarzes Brett gab Auskunft über Termine und Veranstaltungen der Neuen Templer.

Driemeyer hatte auch den Schlüssel für den Keller parat. Den Plan, sich eine Zigarette anzuzünden, hatte er inzwischen wohl wieder aufgegeben.

Haller folgte dem Hausbesitzer eine schmale Treppe hinab, dann folgten Oelrich und ein weiterer Beamte. Der Beamte Nummer drei blieb hingegen im Erdgeschoss und sah sich das schwarze Brett an.

„Wer sind'n Sie eigentlich?“, fragte er an Anna gerichtet.

„Anna van der Pütten.“

„Neu in Münster?“

„Nein, weshalb?“

„Weil ich die Kollegen dort ganz gut kenne. Da habe ich nämlich angefangen, aber Sie sind mir nicht aufgefallen.“

„Ich bin Kriminalpsychologin. Wir bearbeiten den Barbier-Fall.“

„Ah, ja. Habe ich von gehört. Und Sie denken, das hier hat damit zu tun?“

„Ich weiß es nicht.“

Anna hatte keine Lust, sich weiter zu unterhalten. Sie folgten den anderen die Treppe hinunter. Im Keller brannten nur einfache Glühbirnen, die wohl zu den letzten ihrer Art gehören mussten, denn inzwischen war diese Art der Beleuchtung ein Opfer der Regulierungswut der Europäischen Union geworden.

Anna folgte den anderen einen Flur entlang in einen großen, kahlen Raum, dessen Einrichtung entfernt an das Studio einer Domina erinnerte.

So gab es unter anderem ein Andreas-Kreuz, das offensichtlich dazu diente, jemanden daran zu fesseln. Die Wände waren mit okkulten Zeichen bemalt und es gab ein Standbild, das einen Stierkopf zeigte. Dies war offenbar ein Raum, in dem die 'Neuen Templer' ihre Kulthandlungen durchführten.

Ein furchtbarer, fauliger Geruch lag in der Luft und Myriaden von Fliegen umschwirrten einen Krug. Todesverachtend warf Haller einen Blick hinein, wobei er gleichzeitig durch wedelnde Bewegungen versuchte, sich die Fliegen vom Leib zu halten.

„Scheiße, was ist das denn?“

„Sieht aus wie abgeschnittene Ohren“, meinte Oelrich, der mit einer kleinen Taschenlampe hineinleuchtete. „Ist ja echt ekelig!“

„Für mich sieht das aus wie Pilze“, kommentierte Driemeyer. „Stinkmorcheln. Und vor allen Dingen riecht es auch so!“

Oelrich runzelte die Stirn. „Keine Ohren?“

Driemeyer nahm eine Nase voll von dem intensiven Verwesungsgeruch, hustete erbärmlich und schüttelte den Kopf.

„Nee!“, sagte er entschieden. „Stinkmorcheln! Echt! Und die haben auch die ganzen Fliegen angelockt! Aber 'ne Sauerei ist es trotzdem!“

In diesem Moment klingelte Driemeyers Handy. Er ging an den Apparat. „Ja schön, dass Sie jetzt doch noch zurückrufen, Herr Tornhöven! Ich hatte Ihnen ja auch dreimal auf den AB gesprochen“, sagte er und musste dann erst mal husten und spucken, denn anscheinend war ihm eine der glitzernden Fliegen in den Mund geraten. „Sagen Sie mal, was ist das für eine Sauerei hier! Wir dachten schon, Sie haben eine Leiche im Keller! Was? Ja, kommen Sie schnell her! Und zwar sehr schnell!“

Das Gespräch war offenbar beendet, denn Driemeyer steckte sein Handy wieder in die ausgebeulte Hosentasche.

Inzwischen war Anna auf einige Gegenstände aufmerksam geworden, die in einer Glasvitrine zu sehen waren. Ein Sortiment verschiedenster Messer und Dolche war darunter. Die Klingen allesamt mit seltsamen runenartigen Zeichen versehen, die Anna stark an die Accessoires erinnerte, die Branagorn benutzte.

Und dann waren da auch Drahtschlingen, gute zwanzig Zentimeter lang, an deren Enden sich jeweils Holzgriffe für die Hände befanden.

„Sven, ich glaube, du solltest dir dies hier mal ansehen“, sagte Anna tonlos. „Ist das nicht genau die Art von Tatwaffen, die wir suchen?“

Haller trat neben sie. Er nickte leicht.

„Wenn jetzt noch irgendwo ein Jagdgewehr auftaucht, dann bin ich vollkommen zufrieden“, sagte er. „Auf jeden Fall wird uns dieser selbsternannte Neue Templer einiges zu erklären haben, wenn er hier auftaucht.“ Haller nahm sein Handy ans Ohr und telefonierte mit dem Präsidium in Münster. Offensichtlich hatte er Kevin Raaben am Apparat, wie Anna aus dem Verlauf des Gesprächs schloss. Unter anderem forderte er ein Team der Spurensicherung und Verstärkung an. „Nichts anfassen!“, wandte er sich an Driemeyer und Oelrich. „Ich will, dass hier alles auf den Kopf gestellt wird. Den Durchsuchungsbeschluss wird mein Kollege dabei haben, sobald er hier ist!“


Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung

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