Читать книгу Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung - Alfred Bekker - Страница 26
Eine Warnung in Tecklenburg
ОглавлениеSven Haller ließ den Motor seines Volvo aufheulen und überholte dann ungeduldig das landwirtschaftliche Nutzfahrzeug auf der Straße zwischen Lengerich und Tecklenburg. Anna van der Pütten saß auf dem Beifahrersitz und dachte: Nirgendwo scheint der Mensch ursprünglicher mit seinen ureigensten und niedrigsten Instinkten verbunden zu ein als im Straßenverkehr.
Der Anruf von Pamela Strothmann aus Tecklenburg hatte dafür gesorgt, dass sich Haller auch auf den Weg hierher gemacht hatte. Pamela Strothmann war nämlich einer der Telefontakte in Jennifer Heinzes Handy-Menü. Allerdings ein Kontakt, der nur in diesem Handy-Menü vorkam. Sie hatte keinerlei Verbindungen zu den anderen Opfern – zumindest keine, von denen man bisher wusste.
Am Telefon hatte Pamela Strothmann angegeben, einen konkreten Verdacht zu haben, wer Jennifer Heinze auf dem Gewissen hatte. Näheres hatte sie am Telefon nicht sagen wollen und ins Präsidium nach Münster zu kommen, sei für sie auch nicht möglich, da sie arbeiten müsste und außerdem ihr Wagen in der Werkstatt sei.
Pamela Strothmann hatte das Gespräch ziemlich abrupt abgebrochen. So zumindest hatte es Ilse Rakowski berichtet - die Kollegin, die das Gespräch angenommen hatte.
„Ich will ja nichts gegen Frau Rakowski sagen, aber ich glaube, wenn ich eine Zeugin wäre und sie am Telefon hätte, würde ich mich auch erschrecken und auflegen“, meinte Anna van der Pütten.
„Na ja, ich gebe zu, dass Frau Rakowski nicht unbedingt die sensibelste Kollegin ist, die bei uns Dienst tut“, gab Haller zu. „Allerdings wurden wir in der ersten Zeit durch Anrufe geradezu überschwemmt. Da konnte wir nicht nur die netten und freundlichen Kollegen an die Leitungen setzen. Oder gar psychologisch geschultes Personal, so wie Sie!“
„Ganz normale geschäftsmäßige Freundlichkeit wäre doch schon genug“, meinte Anna.
Ilse Rakowski war zwar eine sehr zarte Frau, der selbst die kleinste Uniformgröße noch locker zu sitzen schien. Allerdings hatte sie eine Stimme, die so rau war, dass viele Männerstimmen dagegen mädchenhaft wirkten. Darüber hinaus schien sie vollkommen unfähig zu sein, leise zu sprechen, was sie darauf schob, dass sie zusammen mit fünf lauten Brüdern aufgewachsen sei, wo wohl immer der lauteste letztlich Recht bekommen hätte. Diese Geschichte fand Anna insofern plausibel, als Ilse Rakowski tatsächlich einem der letzten geburtenstarken Jahrgänge angehörte. Inzwischen hatte Anna lange genug mit der Münsteraner Polizei zu tun, um zu wissen, dass dort über die Herkunft von Ilse Rakowskis Stimme noch ein paar andere Legenden kursierten. Dazu gehörten übermäßiger Konsum harter Alkoholika, eine Schilddrüsenoperation, ihre fanatische Unterstützung der ersten Fußballmannschaft von Preußen Münster durch laute und entsprechend stimmbandfeindliche Anfeuerungsgesänge im Stadion bis hin zum zeitweiligen Anabolika-Missbrauch während ihrer Zeit als deutsche Polizeimeisterin im Kugelstoßen. Ihre Schwierigkeiten als Verantwortliche für die Fahrradausbildung und Verkehrserziehung an den Grundschulen und in Kindergärten, die in zahlreichen Beschwerden durch Eltern völlig verängstigter Kinder gegipfelt und schließlich zu ihrer Abberufung geführt hatten, lagen Annas Einschätzung nach aber weniger an Ilse Rakowskis Stimme als an ihrer rustikalen Wortwahl.
„Vielleicht hat es ja sein Gutes“, meinte Anna.
„Inwiefern?“
„Wenn das nicht nur heiße Luft ist, kommen wir vielleicht endlich mal einen Schritt weiter.“
Sie erreichten inzwischen das für die flache Topographie des Münsterlandes recht hoch gelegene Tecklenburg, den ehemaligen Sitz der Grafen von Tecklenburg, die im schmalkaldischen Krieg auf der falschen Seite gestanden und ihre Selbstständigkeit verloren hatten. Dem Kreis Tecklenburg war es nach der Gebietsreform der Siebziger nicht anders ergangen. Man hatte ihn dem Kreis Steinfurt eingegliedert. Sehr selten konnte man noch Aufkleber mit dem Schriftzug 'TE muss bleiben' sehen, aber die Zahl aufrechter Tecklenburger Lokalpatrioten musste innerhalb der letzten vier Jahrzehnte inzwischen wohl auf eine Zahl im einstelligen Bereich zusammengeschmolzen sein. Haller hatte sich einen dieser Aufkleber noch aus seiner eigenen Grundschulzeit in Ladbergen aufbewahrt, als sie von Heimatkundelehrern gerne verteilt wurden. Er hatte immer schon mal darüber nachgedacht, ihn aufzukleben, fand aber letztlich, dass er dazu zu schade war. Es handelte sich schließlich um ein quasi historisches Stück und aufkleben konnte man es nur einmal – vorausgesetzt der Klebstoff unter der Schutzfolie klebte überhaupt noch nach all diesen Jahren. Es wäre auf einen Versuch angekommen, den Haller aber angesichts des immer schnelleren technischen Verfallsdatums moderner Blechkarossen wohl so schnell nicht wagen würde.
Haller parkte auf einem Parkplatz, von dem aus man eine hervorragende Fernsicht hatte.
„Den Rest müssen wir leider zu Fuß gehen“, meinte er an Anna gerichtet.
„Macht nichts, ein bisschen Bewegung tut gut“, meinte sie. „Und die Luft scheint hier auch recht frisch zu sein.“
„Luftkurort“, sagte Haller, als wäre das eine Erklärung für irgendetwas. „Bei gutem Wetter kann man fast bis Münster sehen.“
„Und bei nicht so gutem?“
„Bis zu der Staubwolke aus den Schornsteinen des Zementwerks in Lengerich“, meinte Haller. „Na ja, das ist vielleicht etwas übertrieben.“
„Tja ...“
„Woran liegt das, dass du mit meinem Humor nicht klarkommst, Anna?“
„Vielleicht aus demselben Grund, weil manche Grundschulkinder oder Zeugen sich vor deiner Kollegin Ilse Rakowski fürchten.“
„Wie das?“
„Das Stichwort heißt Unangemessenheit der Äußerung.“
„Aber das ist doch gerade der Witz.“
„Siehst du! Da liegt das Problem!“
„Ich wette, du hattest früher nicht viele Freunde und hast dir überlegt, wieso das bei anderen nicht so ist. Und daraus ist dann dein Interesse für Psychologie erwachsen.“
„Ich glaube, hier liegt ein Rollenirrtum vor“, erklärte Anna sehr ernst, während sie eine Steintreppe mit sehr langen Stufen emporstiegen, die zudem ziemlich rutschig waren. Haller trug Turnschuhe zu seiner Jeans und seinem ausgebeulten Jackett, dem man ansah, dass er darin viel gesessen hatte, denn es wies die dafür charakteristischen Falten auf. Anna van der Pütten hingegen trug flache, glatte Schuhe. Schuhe mit Absätzen mochte sie nicht, denn darauf stand man zu unsicher. Sicher auf festem Grund stehen, das war sehr wichtig für sie. Aber ihre Schuhe erlaubten das nur innerhalb geschlossener Räume oder auf ebenen, asphaltierten Flächen, nicht auf einem so rutschigen Pflaster wie jenes, das sie im Moment unter den Füßen hatte.
Haller musste also schon nach kurzer Zeit auf sie warten, nachdem sie um ein paarmal fast ausgerutscht wäre, als sie versuchte, mit seinem Tempo mitzuhalten.
„Alles in Ordnung, Anna?“
„Ja!“, ächzte sie.
„Und wie war das mit dem Rollenirrtum.“
„Na ja, du solltest nicht versuchen, mich zu analysieren.“
„Aber umgekehrt ist das in Ordnung?“
„Umgekehrt entspräche das unserem unterschiedlichen professionellen Profil.“
„Das heißt also, dass es stimmt.“
„Was?“
„Das, was ich eine Vermutung nennen würde und was jemand wie du dann etwas hochtrabend zu einer Analyse hochstilisiert. Wäre es anders, würdest du nicht so empfindlich reagieren!“
Anna holte ihn ein. „Hauptsache, es macht dich zufrieden, mich jetzt durchschaut zu haben und zu wissen, was mich zum Studium der Psychologie motiviert hat!“
„Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, ich würde verstehen, was den sogenannten Barbier zu seinen Handlungen motiviert.“
„Das schaffst du auch noch, Sven! Ganz bestimmt!“
„Diese Art der Ermutigung erinnert mich an die Art und Weise, wie manche Lehrer, die ich erlebt habe, schwache Schüler zu ermutigen versuchten, von denen sie insgeheim schon längst wussten, dass sie es niemals schaffen und mit Sicherheit sitzen bleiben werden!“
„Und weshalb bist du zur Polizei gegangen?“, fragte Anna. „Da du nun den innersten Kern meiner Persönlichkeit durchschaut hast, wäre es doch nur fair, wenn du mir umgekehrt zu diesem Punkt etwas offenbaren würdest.“
„Ja“, sagte Haller. „Das wäre sicherlich fair.“
„Na, und? Worauf wartest du?“
„Ich habe mir noch nicht zu Ende überlegt, ob ich überhaupt fair sein soll!“
„Ach, so einer bist du!“
„Reden wir später darüber. Der Aufstieg ist einfach zu anstrengend und dann sage ich vielleicht Sachen, die mehr über meinen mangelnden Sauerstoffgehalt im Gehirn als über meinen Charakter sagen!“
*
Etwas später erreichten sie das Café Rabbel. Hier arbeitete Pamela Strothmann. Draußen standen viele Tische und Stühle, an denen sich die Kurgäste bei Kaffee und Kuchen drängten. Anna folgte Haller ins Innere, dessen Einrichtung an ein Wiener Kaffeehaus erinnerte.
Haller zeigte der Frau hinter dem Tresen seinen Ausweis.
„Hallo, Kripo Münster. Wir hätten gerne mit Frau Pamela Strothmann gesprochen.“
„Ah, ja. Pamela hat uns gesagt, dass Sie hier auftauchen würden.“
„Wo können wir sie finden?“
„Einen Moment. Ich sage ihr Bescheid. Es wäre nett, wenn Sie einigermaßen diskret vorgehen würden.“
„Selbstverständlich.“
Die Frau hinter dem Tresen verschwand kurz hinter einer Tür. Wenig später trat eine Endzwanzigerin mit brünetter Prinz-Eisenherz-Frisur aus der Tür. Sie hatte ein feingeschnittenes Gesicht und war groß und schlank. Sie überragte Anna um einen ganzen Kopf und war immerhin noch einen einen halben Kopf größer als Haller, obwohl sie sehr flache Schuhe trug.
„Haben Sie uns angerufen?“, fragte Haller.
„Ja“, nickte sie. „Ich bin Pamela Strothmann. Und ehrlich gesagt, bereue ich auch schon, dass ich es getan habe.“
„Es wird sicher einen guten Grund dafür geben“, war Haller überzeugt.
„Kommen Sie, wir suchen uns einen Tisch, wo wir reden können.“
„In Ordnung.“
„Möchten Sie etwas zu trinken? Kuchen?“
„Das Frühstücksbuffet soll hier besonders gut sein.“
„Wir haben inzwischen Nachmittag.“
„In meinem Beruf verliert man das Gefühl für die richtige Tageszeit schon mal etwas“, verteidigte sich Haller.
Pamela Strothmann führte ihn und Anna zu einem der Tische im hinteren Bereich des Cafés. Haller nahm einen Kaffee, Anna einen grünen Tee.
„Was haben Sie uns zu sagen, Frau Strothmann?“, fragte Haller. „Die Kollegin, die mit Ihnen gesprochen hat ...“
„Das war eine Frau? Unmöglich!“
„... erwähnte, dass Sie behaupten, den Täter zu kennen!“
„Na ja, ich habe vielleicht ein bisschen dick aufgetragen.“
„Am besten Sie sagen uns den Namen und die Adresse und dann können wir die Angelegenheit überprüfen.“
Sie strich sich das Haar zurück. „Der Name lautet Jürgen Tornhöven. Ein Typ mit Bart und langen Haaren, hat aber oberhalb der Ohren alles kahl und dürfte so um die Ende vierzig sein. Man nennt ihn auch den Prior der 'Neuen Templer', das ist diese Sekte, die er anführt. Im geheimen Kreis lässt er sich angeblich mit Hochmeister Asmodis anreden – aber allein dafür, dass ich Ihnen das verraten habe, könnte mich diese Sekte schon furchtbar bestrafen wollen. Da kennen die nämlich gar nichts.“
„Nun mal der Reihe nach“, verlangte Haller. „Wie kommen Sie darauf, dass dieser Jürgen Tornhöven Jennifer Heinze umgebracht haben könnte!“
„Weil es genau passt!“ Pamela Strothmann war ziemlich ungeduldig. Sie wirkte wie jemand, der unter einem außerordentlich hohen Druck stand.
„Gibt es irgendwelche konkreten Anhaltspunkte? Wurde Jennifer von Mitgliedern der Sekte oder diesem Tornhöven etwa konkret bedroht?“
„Ja, das wurde sie.“
„Und Sie selbst haben das mitbekommen, oder hat das nur jemand anderes Ihnen erzählt?“
„Jennifer hat mir das gesagt. Und ich hatte keinen Grund an ihren Worten zu zweifeln. Am besten erzähle ich Ihnen alles mal der Reihe nach.“
„Jennifer Heinze und Sie waren Freundinnen“, stellte jetzt Anna fest und mischte sich damit erstmalig in das Gespräch mit Pamela Strothmann ein.
Pamela nickte. „Ja, seit der Schule schon. Wir sind beide hier auf das Graf-Adolf-Gymnasium in Tecklenburg gegangen. Und auch wenn sich unsere Wege später etwas in verschiedene Richtungen entwickelt haben, so haben wir doch nie den Kontakt zueinander verloren.“
„Was meinen Sie genau mit der Entwicklung in verschiedene Richtungen“, hakte Anna nach.
„Na ja, Jennifer ist nach der Schule zur Bank gegangen und ich habe in Osnabrück studiert. Philosophie, Kunstgeschichte, Theologie. Ich gebe zu, das war bei mir alles etwas planlos und deswegen bin ich jetzt fast dreißig und habe auch noch immer keinen Abschluss. Wahrscheinlich wird das auch so schnell nichts werden, denn inzwischen bin ich schwanger und mit meinem Freund zusammengezogen, der gerade in Münster seinen Doktor in Kunstgeschichte macht, und meine Stelle hier im Café ist derzeit die einzige Einnahmequelle, die wir haben. Klingt für Sie vielleicht alles ein bisschen verworren, Frau ... irgendwie hatte ich Ihren Namen nicht mitbekommen!“
„Anna van der Pütten. Ich bin Kriminalpsychologin.“
„Ah ja, verstehe.“
Wenn Anna jemandem sagte, dass sie Psychologin war, dann sorgte das zumeist für eine entspannte Gesprächssituation. Vor allem dann, wenn die Lage gerade zu eskalieren drohte und die Beteiligten auf die Polizei nicht gut zu sprechen waren. Psychologen waren eben keine Polizisten und das allein adelte sie dann anscheinend schon. Mit einem Psychologen konnte man reden, mit einem Polizisten nicht, denn der hielt einem im Zweifelsfall nur irgendeinen Paragraphen mit irgendeiner schwer verständlichen Rechtsnorm entgegen, an die man sich doch bitteschön zu halten hätte. Aber bei Pamela Strothman war das anders. Bei ihr schien die Berufsbezeichnung Psychologe aus irgendeinem Grund Widerstände zu offenbaren. Widerstände, die Anna sehr genau wahrnahm und für die es verschiedene Erklärungen geben konnte. Unter anderem die, dass Pamela Strothmann vielleicht mal in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung gewesen war und dieses Erlebnis mit unangenehmen Erlebnissen assoziierte.
„Meine Aufgabe ist es, mir ein möglichst klares Bild des Täters zu machen“, erklärte Anna daher.
Pamela Strothmann lächelte schwach. „Dann analysieren sie also nicht die Zeugen, die befragt werden? Es gibt doch da so eine Fernsehsehserie, wo einer den Menschen anhand kleinster Regungen und Muskelbewegungen im Gesicht ansehen kann, ob sie lügen.“
„Nein. So jemand bin ich nicht“, versicherte Anna. „Was nicht heißt, dass es nicht am besten wäre, wenn das, was Sie uns sagen, absolut der Wahrheit entspricht, Sie nichts hinzufügen und nichts weglassen. Aber ich nehme nicht an, dass Sie das vorhaben, denn dann würden Sie unsere Zeit verschwenden und damit demjenigen helfen, der Ihre Freundin auf dem Gewissen hat.“
„Natürlich“, murmelte Pamela. „Aber eigentlich wollte ich Ihnen ja was anderes erzählen ...“
„Dann tun Sie das“, forderte Anna sie auf.
Pamela blickte auf einen bestimmten Punkt auf der Tischdecke, die vor ihr lag. So als wollte sie sich dadurch besser konzentrieren. „Jennifer hat sich seit den letzten Jahren auf der Schule für dieses Mittelalter-Zeug interessiert. Sie ist da durch ihren damaligen Freund hineingeraten – na ja das hört sich an, als wäre es was Schlimmes. Meiner Ansicht nach ist es einfach nur kindisch. Sie hat mich auch mal zu einem dieser Festivals mitgenommen, aber ehrlich gesagt habe ich weder zu ihren Freunden aus dieser Szene noch der Szene selbst Zugang gefunden. Aber Jennifer ist eine ganze Weile dabei geblieben. Ich meine, vielleicht ist das auch einfach nur eine Art Ausgleich gewesen. Sie war ja bei der Bank und da muss man natürlich total konform sein, ein schickes Kostüm tragen, frisiert sein, darf nirgendwo anecken und muss den Kunden irgendwas versprechen, damit sie ihr Geld bei einem anlegen. Vielleicht ist da einfach mal ein Ausgleich wichtig, in irgendwelchen Fantasiekostümen herumzulaufen und eine ganz andere Rolle zu spielen – sei es nun als holdes Burgfräulein oder als Schwarzer Tod.“
„Wie kommen Sie auf den Schwarzen Tod?“, hakte Anna nach.
„Na ja, sie hatte ein Kostüm, das hatte irgendwie etwas mit dem Schwarzen Tod zu tun.“
„Sie meinen die Schnabelmaske eines Pest-Arztes?“
„Ja, genau!“
„Die haben wir unter ihren Sachen gefunden.“
„Sie ist mit ihrem Freund im Partnerlook damit herumgelaufen. Und ich glaube, es hat ihr Freude gemacht, damit andere zu erschrecken, ohne dass man sie erkennen konnte. Eine Spießerin, die im Geheimen ihre andere Seite zeigt, so könnte man es sagen.“ Pamela zuckte die Schultern. „Kann man ja niemandem verdenken, oder?“
„Nein, sicher nicht“, sagte Anna. „Der Freund ...“
„Timothy Winkelströter. Komischer Typ. Das war übrigens nicht der Freund, der sie in diese Szene hineingebracht hat. Der hieß anders. Aber das ist schon so lange her.“
„Hieß der erste Freund zufällig Olli oder Björni?“, mischte sich Haller ein.
„Sie nannte ihn Björni, das stimmt! Woher wissen Sie das?“
Haller holte einen Ausdruck des Facebook-Fotos hervor und legte ihn vor Pamela Strothmann auf den Tisch. „Ist dieser Björni hier drauf?“
„Ja sicher! Der links! Der gehörte zu dieser Ritter- und Schreckgestalten-Clique, von der auch Jennifer ein Teil war.“
„Den vollständigen Namen wissen Sie nicht zufällig?“
„Björn ... Björn irgendwas ... Horstkotte, glaube ich! Jawohl, Björn Horstkotte, denn Jennifer hat mir mal erzählt, dass ein neuer Lehrer erst geglaubt hätte, er hieße Björn-Horst Kotte anstatt Björn Horstkotte, weswegen ihn dann viele nur noch 'du Horst' genannt hätten. Fand ich lustig.“
Pamela Strothmanns Blick wechselte von Haller zu Anna und wieder zurück und stellte fest, dass sie offenbar bei keinem der beide den Humornerv auch nur leicht berührt hatte.
„Wissen Sie zufällig auch, wer Olli ist?“
„Olli?“
„Einer der Personen auf dem Bild soll Olli heißen.“
„Da gab es einen Oliver. Oliver Holthaus. Das ist der Kerl, der neben Björn steht. Aber ich glaube, der ist schon lange nicht mehr in der Gegend. Ich habe gehört, er soll irgendeinen tollen Job in New York oder London haben. Keine Ahnung, hat mich nicht so interessiert.“
„Was ist mit diesem Jürgen Tornhöven? So wie Sie ihn schildern, passt der doch altersmäßig gar nicht in diese Gruppe hinein.“
„Natürlich nicht! Der Kontakt kam durch Timothy Winkelströter. Der war bei dieser Sekte oder wie immer man das bezeichnen soll. Ich persönlich glaube ja, dass es denen nur ums Geld geht.“
„Wieso?“
„Weil bei denen alles ein Schweinegeld kostet. Die behaupten, dass psychische Probleme, Burn-out, Energielosigkeit und weiß der Geier was noch, darauf basiert, dass man von den falschen Dämonen besessen ist. Also reden die einem ein, man sollte sich durch eine Art Exorzismus davon befreien.“
„Hat Jennifer Heinze so etwas auch mitgemacht?“
„Ja, hat sie. Sie hatte Probleme in ihrem Job. Hohe Erwartungen an sich selbst, übertriebener Ehrgeiz ... Das läuft so ähnlich ab, wie in diesen Exorzismus-Ritualen, die man aus Horror-Filmen kennt. Soweit ich weiß, gibt es in der katholischen Kirche immer noch Exorzisten, die Teufelsaustreibungen vornehmen. Aber bei diesen sogenannten 'Neuen Templern' ist das nur die erste Stufe.“
„Und was ist die zweite?“
„Eine Art umgekehrter Exorzismus. Nennen Sie es In-Zorzismus, wenn Sie wollen. Man soll den Geist Baphomets in sich aufnehmen. Das ist so ein Stierdämon. Die geweihten Mitglieder der 'Neuen Templer' tragen eine entsprechende Tätowierung am Arm. Daran kann man sie erkennen.“
„Ja, das haben wir schon bei Timothy Winkelströter gesehen“, murmelte Haller.
„Jennifer hat sogar Stufe zwei mitgemacht.“
„Das heißt, sie hat den Geist Baphomets oder wie die das nennen, in sich aufgenommen?“, vergewisserte sich Haller.
„Ja – und dafür noch dreitausend Euro bezahlt.“
„Hat sie sich denn danach wenigstens besser gefühlt?“, fragte nun Anna. „Ich meine, Sie erwähnten doch ihren Ehrgeiz und die Ansprüche an sich selbst, die offenbar in Konflikt mit der Realität geraten waren.“
„Das war doch schon alles nach der Dämonenaustreibung besser geworden! Diese zweite Stufe hat sie glaube ich nur wegen ihrem Freund gemacht.“
„Sie sprechen jetzt von Timothy Winkelströter“, stellte Anna fest.
Pamela Strothmann nickte. „Ja – ich kenne den ja nicht so gut, aber nach Jennifers Schilderungen muss das einer sein, der einfach jedem Rock hinterherläuft und zwar eine feste Beziehung in alle Ewigkeit verspricht, aber in Wahrheit kaum eine Woche treu sein kann! Er hat was mit einer Krankenschwester namens Nadine Schmalstieg aus Borghorst angefangen und deswegen hat Jennifer mit ihm Schluss gemacht, konnte sich dann aber doch nicht von ihm trennen und so ging das eine Weile als On-Off-Beziehung weiter.“
„Und was hat Jürgen Tornhöven nun damit zu tun?“, wollte Haller wissen.
„Na, der hat die zweite und ziemlich ekelige Stufe dieses Rituals durchgeführt, die dem Empfang von Baphomet dient. Ich bin überzeugt davon, dass Jennifer das nur deswegen mitgemacht hat, weil sie glaubte, sie könnte Timothy dadurch doch noch an sich binden.“
„Was ist so ekelig daran?“, fragte Anna.
„Nachdem, was Jennifer mir erzählt hat, muss man dabei Tierblut trinken und wird am ganzen Körper damit eingerieben, sodass dann die Schmeißfliegen kommen ... Außerdem wird man mit einem Dolch geritzt – nicht so, dass man stirbt, aber so, dass man es glaubt, weil Baphomet nur in die Seele eindringen kann, wenn man Todesangst spürt. Es ist wirklich total widerlich! Völlig pervers. Sie hat mich noch gefragt, ob sie das mitmachen soll. Ich habe ihr dringend abgeraten! Dieser Timothy war das doch wirklich nicht wert – zumal dem das doch inzwischen völlig egal war! Schließlich hatte der doch längst eine andere, und wenn Sie mich fragen, dann ging ihm Jennifer längst auf die Nerven. Zumindest habe ich die Fakten so gedeutet – aber Jennifer war da völlig blind. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben.“
„Wann war das genau?“, fragte Haller.
„Das ist sicher schon zwei Monate her. Danach schien es so, als hätten sich dieser Timothy und Jennifer noch mal zusammengerauft. Aber nur bis zur nächsten Krise ... Er hat mit ihr Schluss gemacht. Trotzdem hat er sich breitschlagen lassen, sich mit ihr auf dem Mittelalter-Markt zu treffen.“
„Woher wissen Sie das?“
„Sie hat mir eine SMS geschrieben. Und ich denke, sie war der Meinung, dass nun wieder alles eingerenkt werden könnte. Aber das war meiner Ansicht nach eine Illusion.“
„Haben Sie auf die SMS geantwortet?“
„Nein, ich habe Jennifers Nachricht erst gefunden, als es schon in der Zeitung stand, was mit ihr passiert ist. Ich hatte nämlich zwischendurch mein Handy verlegt.“
„Werden einem bei diesem Baphomet-Ritual, von dem Sie sprachen, auch die Haare abrasiert?“, hakte Anna nach. „Hat Jennifer davon irgendwann mal etwas erwähnt?“
„Nein – das gehört zu den Strafen für diejenigen, die Geheimnisse aus dem Innenleben dieser Sekte nach außen tragen. Und zu den wichtigsten Geheimnissen gehört der Ablauf der Rituale. Und deswegen glaube ich ja, dass dieser Jürgen Tornhöven Jennifer umgebracht hat! Es war am Mittwoch oder Donnerstag vor dem Markt auf der Planwiese ... Jennifer und ich haben uns abends getroffen und mal wieder über alles Mögliche geredet. Ich habe mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten und ihr klipp und klar gesagt, was ich von diesen Sektenspinnern und diesem ganzen Mist halte!“
„Aber sie hat Ihnen trotzdem in aller Ausführlichkeit davon berichtet – obwohl sie doch Angst haben musste, dass sie dafür bestraft wird, wie Sie gesagt haben“, gab Haller zu bedenken.
„Ja, aber sie musste sich offenbar irgendjemandem anvertrauen! Und ich gebe zu, dass ich auch etwas nachgebohrt habe! Jedenfalls saßen wir bei ihr zu Hause im Wohnzimmer ihrer Eltern. Es war schon ziemlich spät geworden. Da klingelte jemand an der Tür. Jennifers Eltern waren nicht zu Hause, also ging Jennifer hin und schaute durch den Spion. Sie kam schreckensbleich zurück und meinte, es wäre der Prior – Jürgen Tornhöven.“
„Was haben Sie beide getan?“, fragte Haller.
„Nur abgewartet. Wir dachten, wenn er ein paarmal klingelt, wird er irgendwann verschwinden.“
„Und?“
„Stattdessen tauchte er vor dem Wohnzimmerfenster auf. Ich habe ihn gesehen – und er uns auch! Er schrie dann irgendetwas, dass sie eine Abtrünnige sei und außerdem einige Sachen, die ich nicht verstanden habe. Irgendwas Lateinisches oder so. Ich habe nur Französisch in der Schule gehabt, müssen Sie wissen. Dann ist er abgezogen, und ein paar Tage später ist Jennifer tot. Ihr wurde der Kopf rasiert – genau, wie Jennifer es mir beschrieben hatte! Und davon abgesehen hat dieser Tornhöven eine ganz eindeutige Geste hier am Hals gemacht, die man nur als blanke Drohung deuten konnte! Genau das ist dann doch auch mit Jennifer geschehen! Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten!“
„Warum haben Sie sich nicht früher bei uns gemeldet?“, fragte Haller und versuchte dabei gar nicht erst zu verbergen, wie ärgerlich er darüber war, diese Hintergründe erst jetzt zu erfahren.
Pamela Strothmann schluckte.
„Ich denke, Sie hatten Angst“, antwortete Anna van der Pütten an ihrer Stelle. „Nicht wahr?“
Sie nickte stumm. Dann öffnete sie halb den Mund, so als wollte sie noch etwas sagen, aber es kam kein einziger Ton über ihre Lippen. Sie starrte wieder vor sich auf das Tischdeckenmuster.