Читать книгу Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung - Alfred Bekker - Страница 30

Um ein Haar in Borghorst

Оглавление


Branagorn ging die Nordwalder Straße in Borghorst entlang. Er hatte noch eine ganze Weile nach seinem Gespräch mit Nadine Schmalstieg im Café Mauritius vor seinem Glas Mineralwasser gesessen und nachgedacht. Eigenartigerweise hatten solche Phasen etwas längerer innerer Versenkung immer die Folge, dass irgendjemand fragte, ob denn alles in Ordnung sei oder man noch etwas wünschte.

Branagorn hatte sich danach verabschiedet und war durch die Straßen gegangen. Sich den Stadtplan noch einmal anzusehen, war nicht nötig. Ein Blick reichte völlig aus, um alles Notwendige zu erfassen.

So gelangte er schließlich in die Nordwalder Straße. Hier suchte er nun systematisch nach der Adresse von Sarah Aufderhaar. Aufderhaar war nicht gerade ein besonders seltener Name im Münsterland und auch Sarah hatte nicht gerade Seltenheitswert, aber Branagorn hoffte, dass diese Kombination nicht gerade in dieser Straße mehrfach auftrat.

Branagorn ging in jede Einfahrt, in jede Hausnische und sah sich jedes Namensschild an, denn leider hatte sich Nadine Schmalstieg ja nicht an die Hausnummer erinnert, wo Sarah Aufderhaar wohnte.

Als der Elbenkrieger gerade von einer der Haustüren zurück zur Straße kam, wartete dort der Postbote in seiner gelb-blauen Kombination – ein Mann in den Fünfzigern, breit, mit rundem Gesicht und grauem, kurzgeschnittenen Haarkranz und dunklem Knebelbart sowie sehr kräftigen Augenbrauen, die in der Mitte zusammenwuchsen und eine geschlängelte Linie bildeten, sobald sich die Stirn in Falten zog.

„Sagen Sie mal, was machen Sie da eigentlich?“, fragte der Mann in Gelb und Blau, während er sich auf sein vollgepacktes Dienstfahrrad stützte. „Ich beobachte Sie nämlich schon eine ganze Weile.“

„Ich bin auf der Suche, werter Herold in Gelb und Blau“, sagte Branagorn und verneigte sich höflich.

„Tja, sind wir das nicht alle in gewisser Weise? Fragt sich immer nur wonach!“

„Ihr sprecht weise Worte“, erwiderte Branagorn.

„Aber ein Sternsinger sind Sie nicht zufällig, oder? Dafür wären Sie nämlich ein bisschen zu spät ...“ Der Postbote grinste und wurde dann aber sofort wieder ernst. „Sie kennen sich hier nicht aus?“

„Die Veränderung ist allgegenwärtig. Es ist schon sehr lange her, dass ich dieses Lande zuletzt besucht habe.“

Der Postbote seufzte. „Ja, da sagen Sie was Wahres“, gestand er zu. „Grade diese Straße hat sich stark verändert. Da vorne, über die Straße, da war zum Beispiel früher eine Volksschule, da war ich Schüler. Ist alles abgerissen. Und hier war ein Geschäft. Terres hieß das.“

„Ihr scheint Euch gut in diesem Lande auszukennen. Bei mir ist es schon länger her, dass ich hier war. Damals war hier nichts außer einem Feldweg, auf dem ein Fuhrwerk steckenblieb, wenn es geregnet hatte.“

Der Blick des Postboten wurde jetzt sehr skeptisch. „Dass muss aber wirklich schon sehr lange her sein. Was weiß ich! Kaiser Wilhelm oder so was.“

„Kaiser Otto“, korrigierte Branagorn. „Aber Ihr habt recht – was bedeuten schon tausend Jahre im Angesicht der Ewigkeit?“

„So, so“, murmelte der Postbote. „Muss ich mir irgendwie Sorgen um Sie machen?“

„Nein, gewiss nicht.“

„Ist schon eigenartig.“

„Was?“

„Na, Sie haben gesagt, Sie würden eine Adresse suchen.“

„Das trifft zu, werter Herold.“

„Aber Sie stehen hier vor einem Postboten und kommen nicht auf die Idee, ihn danach zu fragen!“

„Warum sollte ich Euch fragen?“, gab Branagorn zurück und sein sonst sehr gleichmütig wirkendes Gesicht drückte jetzt deutlich seine Verwunderung aus.

„Weil es Stunden dauern könnte, bis Sie den richtigen Namen an einer Tür entdeckt habt – vorausgesetzt er steht überhaupt dort!“

„Ich habe Zeit genug“, sagte Branagorn.

„Wie schön für Sie“, gab der Postbote dünnlippig zurück. „Aber falls Sie nur von Tür zu Tür gehen sollten, um herauszufinden, wer vielleicht im Moment gerade im Urlaub ist und wo sich ein Einbruch lohnen könnte, dann sollten Sie wissen ...“

„Ich versichere Euch, dass dies mitnichten meine Absicht ist!“, unterbrach Branagorn seinen Gesprächspartner. „Andererseits ist mir natürlich durchaus bewusst, dass man in dieser Welt durch abweichendes Verhalten sich dem Verdacht aussetzt, eine böse Absicht zu verfolgen.“

„Sie haben eine etwas eigenartige Weise, das auszudrücken, aber Sie bringen es auf den Punkt, Herr ...“

„Herzog Branagorn von Elbara werde ich genannt.“

„Herr Herzog, soll ich vielleicht irgendwen für Sie anrufen, der sich um Sie kümmert?“

„Nein, habt Dank für Euer Angebot, aber ein sprechendes Artefakt besitze ich selbst.“

„Ich meine ja nur ...“

„Lebt wohl, werter Herold!“

Branagorn zog weiter seines Weges. Der Postbote war auf der Nordwalder Straße in entgegengesetzter Richtung unterwegs und sah aber dem Elbenkrieger noch eine Weile nach. Als Branagorn zwei weitere Häuser vergeblich nach einem Schild mit dem Namen Aufderhaar aufgesucht hatte, bemerkte er aus den Augenwinkeln heraus, dass der Postbote zu seinem Handy gegriffen hatte. Vielleicht, so dachte Branagorn, ist es gar nicht schlecht, wenn der Herold nun die Hüter der Ordnung herbeiruft, auf dass sie im Kampf gegen den Traumhenker zu Hilfe eilen mochten!

*



Zwei weitere Eingänge wurden von Branagorn erfolglos nach einem Aufderhaar-Namensschild abgesucht, dann wurde er fündig.

Es war ein zweistöckiges Haus. Im Erdgeschoss wohnte ein gewisser oder eine gewisse A. Gross, während an der zur oberen Wohnung gehörenden Klingel Aufderhaar stand.

Kein Vorname, kein akademischer Grad oder irgendein weiterer Zusatz – einfach nur Aufderhaar.

Branagorn klingelte.

„Ja bitte?“, meldete sich eine Frauenstimme.

„Spreche ich mit Sarah Aufderhaar?“, vergewisserte sich Branagorn.

Eine Pause entstand. „Wer sind Sie denn und was ist Ihr Anliegen?“

„Es geht um Eure toten Freunde und um die Gefahr, dass Ihr selbst das Opfer einer Mörderseele werdet!“, sagte Branagorn. „Mein Name ist Branagorn von Elbara und ich bin ein Bekannter der ehrenwerten Nadine Schmalstieg, mit der ich über die schrecklichen Morde in Eurem Bekanntenkreis gesprochen habe. Jennifer Heinze war das letzte Opfer und ich möchte die Mörderseele entlarven, bevor sie noch mehr Unheil anrichtet ...“

„Einen Moment“, kam es durch die Sprechanlage.

Ein Surren ertönte. Die Tür ließ sich jetzt öffnen. Branagorn trat ein. Offenbar habe ich die richtige Form der Ansprache gefunden!, ging es ihm durch den Kopf, während er in den Flur trat.

Dieser Flur führte geradewegs zum Hinteraufgang und war ziemlich breit. Rechts gab es die Wohnungstür von A. Gross. Ein altes Damenrad stand gegen die Wand gelehnt. Wozu der Raum auf der rechten Seite diente, vermochte Branagorn nicht zu erraten. Auf jeden Fall gab es dort weder ein Schild noch eine Klingel oder irgendein anderes Zeichen, das einen Hinweis darauf hätte geben können.

„Hallo?“, fragte eine Stimme von oben. Und gleichzeitig öffnete sich die Tür von A. Gross ein Stück. Aber nur einen einen Spalt, der kaum breiter war als ein Daumen. Jemand beobachtete Branagorn von dort aus. „Hallo?“, ertönte nun noch einmal die Stimme von oben. Es war zweifellos jene Stimme, mit der Branagorn sich über die Sprechanlage unterhalten hatte.

„Ja, ich bin hier“, sagte Branagorn laut.

Sein Blick wurde von etwas gefangen genommen, das er am Boden entdeckt hatte. Es handelte sich um ein Haar. Auf dem glatten, hellen Boden war es gut erkennbar, denn es hob sich dunkel dagegen ab. Zumindest hatte Branagorn diesen Eindruck.

Zwei Schritte war es von ihm entfernt. Er trat hinzu, bückte sich und hob es auf. Dann hielt er es ins Licht.

Anschließend steckte er es in einen Beutel, den er an seinem Gürtel trug und ging die Treppe hoch. Eine Frau von Ende zwanzig kam ihm entgegen. „Aufderhaar“, sagte sie. Es klang knapp und streng. Ihre dunklen Augen musterten Branagorn aufmerksam.

„Wenn Euch mein Aufzug wundert, so möchte ich dem entgegenhalten, dass auch Ihr bisweilen in Gewandung aufgetreten seid und dies unter Euresgleichen doch eigentlich nichts Ungewöhnliches ist.“

„Ja, das ist schon richtig“, sagte sie. „Oder besser: Das war mal richtig.“

„Wenn Ihr mir diese Bemerkung bitte erläutern würdet, werte Frau Aufderhaar?“

„Irgendwann wird jeder mal erwachsen.“ Nach einem weiteren abschätzigen Blick fügte sie dann noch hinzu: „Na ja – fast jeder!“

„Nun, wie dem auch sei – eine Bemerkung möge mir gestattet sein. Euch steht die Gewandung einer Maid ganz gewiss außerordentlich gut, um nicht zu sagen: besser, als die fantasielose Kleidung dieses Zeitalters, die reinem Zweckdenken verpflichtet ist, weil die Schneider es verlernt haben, ihr Handwerk so auszuüben, wie man es früher von ihnen gewohnt war. Aber vielleicht fehlt ihnen ja auch nur die Magie ...“

„Sie sind ein seltsamer Kerl, und mir ist ehrlich gesagt noch nicht so ganz klar, was Sie eigentlich von mir wollen“, stellte sie betont kühl fest.

„Doch, das ist Euch durchaus klar, denn nur aus diesem Grund habt Ihr mir überhaupt geöffnet. Allerdings weiß ich nicht, ob es wirklich ratsam ist, wenn wir uns hier im Treppenhaus unterhalten. Mir dünkt, dass die aufmerksamen Ohren von Spionen allgegenwärtig sind.“

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor ihr Mund wieder zu einer geraden Linie wurde und sie so beherrscht und kühl wie zuvor wirkte. „Herr Gross ...“, murmelte sie. Sie blickte kurz über das Treppengeländer in die Tiefe. Für ein paar Augenblicke herrschte Stille. Dann waren unten Schritte zu hören. „Kommen Sie herein, Herr ... Herzog oder wie immer Sie auch in Wirklichkeit heißen mögen.“

*



Branagorn folgte ihr in die Wohnung. Die Räume waren sehr hoch. Die meisten Wände waren mit Bücherregalen vollgestellt. Bei den Büchern schien es keinen thematischen Schwerpunkt zu geben. Branagorn sah Romane neben Bänden, die sich mit mittelalterlichem Leben und Gepflogenheiten beschäftigten, und Kochbüchern. Dazwischen waren immer wieder Porzellan-Puppen zu sehen. Manche trugen bunte Gaukler-Kostüme, andere kunstvoll gefertigte Kleider, die Branagorn ebenso wie die Frisuren an die Mode der Renaissance erinnerten.

„So, jetzt sagen Sie mir bitte, was Sie wollen.“

„Jennifer Heinze, Jana Buddemeier, Franka Schröerlücke, Elvira Mahnecke und Chantal Schmedt zur Heide – das sind die bisherigen Opfer, die das Wirken des Traumhenkers gekostet hat. Aber es wird dabei nicht bleiben. Die Mörderseele, in die er hineingefahren ist, wird mit dem Töten fortfahren. Aber ich habe mich entschlossen, den Kampf aufzunehmen.“

„Das ist ja schön für Sie und ich war selbst lange Jahre begeisterte LARP-Spielerin, aber jetzt und hier hätte ich mich gerne vernünftig mit Ihnen unterhalten. Also lassen Sie dieses Fantasy-Gequatsche weg und führen Sie hier kein Mysterienspiel auf! Es geht hier um eine ernste Sache!“

„Oh, dem will ich nicht widersprechen“, erwiderte Branagorn. „Und ich verstehe durchaus Eure Gereiztheit. Der Atem des Todes ist Euch im Nacken, das spüre ich deutlich. Ihr seid dem Traumhenker vielleicht näher als Euch lieb ist und es ist nur allzu leicht nachvollziehbar, dass Euch dies sehr belastet. Denn auch Euch ist zweifellos bewusst, dass es keine Möglichkeit gibt, sich vor den Mächten der Finsternis, von denen ich künde, zu verbergen. Selbst die Mittel der Magie versagen da zumeist, wie ich leider eingestehen muss!“

„Wissen Sie was? Ich habe keine Ahnung, was für ein Spinner Sie sind, aber ich glaube nicht, dass Sie sich ernsthaft mit diesem Fall beschäftigen, geschweige denn, dass Sie etwas wissen.“

„Oh, da irrt Ihr gewaltig, werte Frau Aufderhaar!“

„Am besten Sie gehen jetzt wieder! Was immer Sie da für ein Spiel abziehen, ich gehe Ihnen nicht auf den Leim – nur weil Sie ein paar Namen aus dem Hut zaubern, die Sie wahrscheinlich aus der Presse haben!“

„Ihr irrt!“

„Guten Tag, Herr Herzog von irgendwas!“

„Ich habe ein Haar im Flur gefunden – und es ähnelt sehr stark jenem Haar, das ich auf der Planwiese in Telgte fand! Ein Haar, das Jennifer Heinze wohl zuzuordnen ist, auch wenn die Untersuchung der Ordnungshüter und ihrer Alchemisten in diesem Punkt wohl noch nicht abgeschlossen ist.“

„Raus!“

„Beantwortet mir erst eine Frage! Wie kann es sein, dass dieses Haar in Eurem Flur zu finden war?“

„Ich habe keine Ahnung von irgendeinem Haar!!“

„Haar, das der Toten abgeschnitten wurde, so wie jene Mörderseele, die von den Hütern der Ordnung als Barbier bezeichnet wird, es bei all ihren Opfern vollzogen hat! Tut nicht, als wüsstet Ihr das nicht – denn die Opfer waren Euch gut bekannt: Mit einigen von ihnen sah ich Euch auf einem Bild im Buch der Gesichter ...“

„Sie reden anscheinend nur wirres Zeug. Ich hatte angenommen, dass Sie vielleicht einem der Opfer nahestehen würden oder tatsächlich irgendetwas wüssten. Aber das scheint nicht der Fall zu ein. Gehen Sie jetzt – sonst muss ich die Polizei rufen.“

„Ich habe nichts dagegen, wenn Ihr die Hüter der Ordnung ruft. Auch wenn wir die eine oder andere Meinungsverschiedenheit haben, so kann ich doch sagen, dass ich ein gutes Verhältnis zu ihnen pflege.“

„Was Sie nicht sagen ...“

„Neben der Wohnung des Aufmerksam-Vieläugigen ...“

„Herr Gross?“

„... gibt es noch eine andere Tür, die aber kein Schild trägt. Was ist dahinter zu finden?“

„Das ist eine Abstellkammer.“

„Das Haar, das ich gefunden habe, hat jemand verloren, der entweder zu Herrn Gross wollte, oder in diese unbekannte Kammer.“

„Herr Gross wohnt hier schon genauso lange wie wir, und Sie können mir glauben, ich kenne ihn sehr gut. Er mag etwas eigenartig sein und es kann manchmal auch etwas nerven, dass er versucht alles mitzubekommen, was im Haus vor sich geht, aber er ist ganz sicher kein Mörder. Mal davon abgesehen ist es ist es wirklich ziemlich absurd, von einem einzigen Haar solche Rückschlüsse zu ziehen.“

„Ihr sagtet gerade wir“, stellte Branagorn fest.

„Wie bitte?“

„Ihr sagtet wir – nicht ich. Diese andere Person, mit der Ihr diese Wohnung teilt, ist Eure Zwillingsschwester, nicht wahr?“

Ihr Gesicht veränderte sich und wurde starr. „Was wissen Sie über Melanie?“

„Nur, dass Ihr in magischer Weise mit ihr verbunden seid. So schilderte es mir die werte Heilschwester Nadine und ich habe nicht den geringsten Grund, an ihren Worten zu zweifeln.“

„Magie?“ Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Ich habe fast den Eindruck, Sie glauben den Schwachsinn wirklich, den Sie da erzählen. Ich meine, es gibt in der Rollenspieler-Szene schon eine ganze Menge durchgeknallte Typen, aber ich muss sagen, Sie sind wirklich irre! Denn im Gegensatz zu Ihnen, spielen Sie das nicht, sondern sie glauben tatsächlich daran!“ Sie schien ziemlich fassungslos zu sein.

Branagorns Blick blieb an einer der Puppen hängen.

„Wer von Euch widmet sich denn diesem Kunsthandwerk?“, fragte er. „Seid Ihr das – oder Eure geschätzte Schwester, mit der Ihr durch die Magie des Gedankenaustausches verbunden seid, wie mir berichtet wurde.“

„Ich habe keine Ahnung, was man Ihnen für einen Unsinn berichtet hat“, murmelte Branagorns Gesprächspartnerin, wobei sich ihr Mund kaum bewegte und auch nur soweit seine Form veränderte, wie es unbedingt notwendig war, um die Worte verständlich aussprechen zu können. Branagorn entging die plötzliche Feindseligkeit, die ihm nun entgegenschlug, nicht. Gleichwohl wusste er sie nicht zu deuten und schon gar nicht hätte er ihre Ursachen benennen können. Er war vielmehr sehr verwirrt und fragte sich, inwieweit es wohl sinnvoll sein würde, dieses Gefühl der Verwirrung zu offenbaren.

Aber es wurde schnell klar, dass er dazu ohnehin nicht mehr genügend Zeit haben würde, geschweige denn, dass er noch daran denken durfte, kurzfristig zu einer einigermaßen schlüssigen Hypothese zu kommen, was wohl so plötzlich mit ihr los sein mochte.

„Entschuldigt, wenn ich Euch Fragen gestellt habe, die zu intim gewesen sind und deren Beantwortung Euch vielleicht peinlich gewesen sein mag.“

„Gehen Sie jetzt!“, wurde Branagorn nun schon zum wiederholten Mal aufgefordert.

Er passierte die Wohnungstür, ging hinaus ins Treppenhaus und blieb dann aber auf dem Absatz stehen.

Er drehte sich noch einmal um. „Ich spüre, dass Ihr in unmittelbarem Angesicht der Gefahr lebt, werte Frau Aufderhaar! Nehmt dies nicht auf die leichte Schulter. Andere haben es womöglich schon vor Euch getan und sind heute nicht mehr unter den Lebenden!“

„Die einzige Gefahr steckt in Ihrem Kopf. Und den sollten Sie bei Gelegenheit vielleicht einmal untersuchen lassen!“

„Ihr verkennt die Wahrheit!“

„Leben Sie wohl, Herzog irgendwer oder wie immer Sie auch in Wirklichkeit heißen mögen!“

Die Tür fiel ins Schloss.

Branagorn stand einen Augenblick lang vollkommen still da. Er atmete nicht einmal. Stattdessen nahm er angestrengt auch die noch feinsten Geräusche in sich auf und ordnete sie einzelnen Vorgängen zu. Da waren die Motorengeräusche von Fahrzeugen, die von der Straße her zu hören waren, die Klingel eines Radfahrers, der aber nicht der Postbote sein konnte, denn an dessen Fahrrad hatte Branagorn keine Klingel bemerkt und außerdem ...

Schritte.

Füße, die versuchten geräuschlos durch den Flur zu schleichen. Branagorn blickte in die Tiefe.

Unten sah ihm das Gesicht eines hageren Mannes entgegen. Er war hohlwangig und schätzungsweise fünfzig Jahre alt. Sein Haar war voll, aber grau durchwirkt. Es war sehr dicht und drahtig und bildete auf Grund seiner Ausbildung von Naturlocken eine nestartige Frisur, die sein ohnehin sehr langes, schmales Gesicht mit dem v-förmigen Kinn und der schlanken, leicht nach oben gerichteten Nase noch länger und schlanker erscheinen ließ, als es ohnehin schon war.

Er trug einen Oberlippenbart, der an den Seiten schwarz und in der Mitte grauweiß war.

Filzpantoffeln, die durch eine etwas zu lange Hose mit Aufschlag fast verdeckt wurden, ein kariertes Hemd, das bis zum obersten Knopf geschlossen war, komplettierten das Bild. Die Kombination von Gürtel und Hosenträgern wären von jemandem wie Cherenwen in ihrer Erscheinung als Anna van der Pütten bestimmt als ein Zeichen für erhöhtes Sicherheitsbedürfnis interpretiert worden, ging es Branagorn durch den Kopf. Er selbst hatte zwar im Verlauf unterschiedlichster Therapien und Behandlungen einiges an beliebten psychologischen und psychiatrische Deutungsmustern kennengelernt, hielt sich selbst aber lieber an das, wovon er glaubte, dass seine Elbensinne es ihm zeigten.

Zwei wässrig-blaue Augen starrten Branagorn an. Sie schienen schreckgeweitet zu sein – entsetzt darüber, dass ihr neugieriger Blick genau in dem Moment in die Höhe starrte, als Branagorn in die Tiefe sah.

„Seid gegrüßt, ehrenwerter Herr ...“, sagte Branagorn.

Der Mann mit Gürtel und Hosenträger zog sich nun blitzartig zurück. Das Schlurfen seiner Filzpantoffel auf dem glatten Boden war für Branagorn unüberhörbar.

Der Elbenkrieger lief die Treppe hinunter. Seine Füße bewegten sich sehr schnell und so erreichte er den Flur, noch ehe der Lauscher in seiner Wohnung verschwinden konnte. An Letzterem hinderte ihn unter anderem sein großes Sicherheitsbedürfnis, das ihn nicht nur Hosenträger und Gürtel tragen ließ, sondern ihn wohl auch dazu veranlasste, seine Wohnung selbst dann abzuschließen, wenn er sie nur für ein paar Schritte über den Flur verließ.

„Ist Euer Name A. Gross?“, fragte Branagorn.

Der Mann hatte einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche herausgezogen. Dieser hing an einer langen, aber fast fingerdicken Kette, die wiederum am Gürtel festgemacht war. Er stocherte mit einem der Schlüssel etwas nervös im Schoss seiner Wohnungstür herum und machte dabei offenbar irgendetwas verkehrt. Jedenfalls öffnete sich die Tür erst nach ein paar Versuchen.

Nun drehte er sich um und blickte Branagorn entgegen.

„Wollen Sie etwas von mir?“

„Mein Name ist Branagorn, Herzog von Elbara und ich bin auf der Jagd nach der Mörderseele, von der der Totenhenker Besitz ergriff ...“

„Ah ja, vollkommen klar. Ich kaufe aber nichts.“

„Ich bin auch keineswegs ein Krämer, der Euch irgendetwas aufzuschwatzen versucht!“

„Dann würde ich sagen, sehen Sie zu, dass Sie hier rauskommen, ehe ich die Polizei rufen muss!“

„Die Hüter der Ordnung sind auf meiner Seite, denn wir verfolgen dasselbe Ziel – auch wenn ich den Fähigkeiten meiner Kampfgefährten nicht besonders viel zutraue, wie ich leider gestehen muss!“

„Hören Sie ...“

„Der Tatsache zufolge, dass Ihr diese Wohnung mit einem Schlüssel betretet, entnehme ich, dass Ihr A. Gross seid.“

„Der bin ich. Und ehrlich gesagt, können Sie sich Ihr Karnevalstheater sparen. Ich habe keinen Sinn für solche Späße – und das gilt umso mehr, als sie bewaffnet hier auftauchen!“

„Ich habe ein Haar im Flur gefunden, das vielleicht von einer toten Frau stammt. Ist das nicht Grund genug, weitere Nachforschungen anzustellen? Wollt Ihr mir da wirklich widersprechen?“

„Ein Haar?“

Das Gesicht von A. Gross veränderte sich und verzog sich zu einer Grimasse.

Branagorn deutete auf die Tür auf der gegenüberliegenden Flur-Seite, neben der das alte Damenfahrrad stand.

„Was ist in diesem Raum?“

„Wüsste nicht, was Sie das angeht!“

In diesem Moment klingelte es an der Tür. A. Gross machte einen Schritt in seine Wohnung und betätigte dort den Knopf, der es erlaubte, die Haustür von außen zu öffnen.

Zwei Polizeibeamte kamen herein, dahinter der Postbote, mit dem Branagorn sich unterhalten hatte. „Das ist der Mann“, sagte dieser und zeigte auf den Elbenkrieger.

„Ja, nehmen Sie ihn fest!“, stimmte A. Gross mit ein. „Bestimmt ein Irrer! Der ist bestimmt aus irgendeiner Anstalt ausgebrochen! Man ist ja heute nicht mal mehr in seinem eigenem Hausflur sicher!“


Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung

Подняться наверх