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Die Nacht der Toten

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Branagorn ging zurück zum Friedhof. Dort, so nahm er sich vor, wollte er die Stunde bis zum Morgengrauen verbringen. Er musste damit rechnen, dass Timothy unter Umständen die ganze Nacht bei Nadine blieb und sich dementsprechend auch in der Frühe nicht die Möglichkeit eines Gesprächs ergab. Aber wenn das der Fall war, konnte er ja abwarten, bis Timothy davongefahren war.

Branagorn betrat den Friedhof und suchte nach einer Bank. Auf vielen Friedhöfen standen auch Parkbänke und es gab keinen Grund, weshalb das in diesem Fall nicht so sein sollte. Der Mond stand inzwischen hoch am Himmel. Es waren kaum Wolken zu sehen und so schimmerten die Grabsteine im fahlen Mondlicht. Branagorn mochte die Atmosphäre von Friedhöfen und er hielt sich gerne dort auf, wenn er Ruhe und innere Einkehr suchte. Das eine oder andere Mal hatte ihm das schon Ärger eingetragen, denn aufgrund seiner ungewöhnlichen Gewandung vermutete man schnell, dass er vielleicht zu denen gehörte, die diese Stätten dazu missbrauchten, irgendwelche okkulten Rituale abzuhalten oder einfach nur durch das Umstürzen von Grabsteinen auf sich aufmerksam machen wollten.

Aufmerksam las er den einen oder anderen Spruch, der in die Grabsteine als letztes geistliches Geleit graviert worden war. Anhand der Namen und der angegebenen Geburts- und Sterbedaten versuchte Branagorn sich dann so genau wie möglich vorzustellen, wer dort wohl zu Grabe getragen worden war. Seine Vorstellungskraft war dabei so groß, dass er die Toten dann regelrecht vor sich zu sehen glaubte. Wie Geister, die für eine kurze Frist aus dem Jenseits zurückgekehrt waren.

Manchmal unterhielt er sich dann mit den Geistern der Toten. Sie waren verständnisvolle, vorurteilsfreie Zuhörer, die ihn nicht unterbrachen, sich nicht über seine Ausdrucksweise wunderten und ihn besser zu verstehen schienen, als alle lebenden Wesen dieser Welt. Vielleicht war es der Abstand zur Welt der Lebenden, der den Toten diesen klaren, toleranten Blick verlieh – so hatte Branagorn oft überlegt. Und vielleicht verstanden sie auch seine Fremdheit in dieser Welt besser als jeder andere, denn schließlich waren die Toten doch auch Fremde im Jenseits und hatten sich an die dortigen Gegebenheiten zu gewöhnen.

Branagorn erinnerte sich, einmal gegenüber einem der Therapeuten in Lengerich über seine Angewohnheit, auf Friedhöfen mit den Toten zu sprechen, geäußert zu haben, woraufhin ihn dann der Therapeut auf frühkindliche Verlustängste angesprochen hatte. Aber davon hatte Branagorn nichts hören wollen. Genau genommen hatte davon nicht einmal der Teil von ihm, der sich vielleicht doch ein bisschen durch den Namen Frank Schmitt angesprochen fühlte, etwas hören wollen.

Während ihm all das durch den Kopf ging, ließ sich Branagorn auf einer Bank nieder, nachdem er genauestens überprüft hatte, dass sie nicht durch Vogelkot oder irgendetwas anders verunreinigt war.

Er sah für einen Moment ein Augenpaar vor sich. Augen, die von einem mörderischen Wahn gezeichnet waren. Augen, die Fenster zu einer Seele waren, von der der Traumhenker Besitz ergriffen hatte ...

Nein!, dachte er. Jetzt nicht ... Nicht diese Gedanken ... Nicht in diesem Augenblick ... Branagorn spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.

Er murmelte eine Folge von Silben. Eine Formel, die ihm half, sich zu konzentrieren und die Macht des Traumhenkers abzuwehren. Du bist ihm begegnet und er wird auf ewig in deinen Gedanken sein!, rief Branagorn sich ins Gedächtnis. Und der Kampf gegen ihn wird nie vorbei sein ... Er wird in deinem Inneren ewig weitertoben, selbst wenn es dir gelingen sollte, die Mörderseele zu stellen!

Die Erkenntnis war deprimierend.

*



Schlurfende Schritte rissen Branagorn aus seinen Gedanken. Eine abgerissene Gestalt trat in den Schein des fahlen Mondlichts und schob einen Einkaufswagen vor sich her, in dem er offenbar seinen gesamten Besitz verstaut hatte.

Der Bärtige trug eine fleckige Baseballmütze und der dünne Regenmantel reichte fast bis zu den Knöcheln. Aus der Seitentasche ragte der Hals einer Bierflasche.

„He, was machst du denn hier!“, empörte sich der Mann. „Was hast du hier zu suchen, verflucht noch mal!“

„Ich ruhe aus“, erklärte Branagorn. „Und mir dünkt, dass Ihr eine ähnliche Absicht hegt.“

„Du laberst ziemlich geschwollen“, meinte der Bärtige, „aber im Prinzip hast du recht.“

„Soweit ich gesehen habe, gibt es auf diesem Friedhof noch ein paar andere Bänke, die Euch zur freien Verfügung stehen, werter Herr.“

„Werter Herr – wir wollen mal nicht übertreiben. Ich bin der Klaus.“

„Mein Name ist Branagorn.“

„Das ist aber ein seltsamer Name. Aber nicht so schlimm wie Justin-Jason oder Cheyenne. Ich sag immer, manche Eltern wissen gar nicht, was sie ihren Kindern antun, wenn sie ihnen einen eigenartigen Namen geben. Oder bist du Ausländer? Woher kommst du?“

„Von weit her.“

„Was? Osteuropa? Ich hatte eher an Skandinavien gedacht – wegen der hellen Haare. Oder sind die nur gefärbt? Na ja, ist auch egal. Jedenfalls war das immer meine Bank und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich verziehen würdest. Ich bin nämlich ziemlich müde.“

„Ich habe gegen Eure Anwesenheit nichts einzuwenden, werde mich aber nicht dazu bereit erklären, diesen gastlichen Ort zu verlassen, nur weil Ihr meine Gesellschaft nicht zu ertragen bereit seid!“

Klaus atmete tief durch. „Meine Güte, hast du mal auf dem Amt gearbeitet oder wo hast du gelernt, so zu quatschen? Du hörst dich ja an wie so ein Sachbearbeiter, der einem erklärt, wieso man all die Dinge, auf die man ein Anrecht hat, doch nicht bekommt und einem dann das Wort im Mund umdreht!“ Klaus setzte sich nun zu Branagorn auf die Bank. „Kommst du jetzt öfter her?“

„Nein, ich hoffe nicht, dass das nötig sein wird“, erwiderte Branagorn.

„Sag mal, ist das wirklich ein Schwert, was du da auf dem Rücken trägst?“

„Ein Schwert, das als Artefakt der Magie dient! Ihr habt es erkannt.“

„Magie?“ Klaus runzelte die Stirn. „Ein bisschen durchgeknallt bist du aber schon, was? Hast du mal Drogen genommen oder so was?“

„Ich bevorzuge die Klarheit der Gedanken und des Bewusstseins – ungetrübt durch Berauschendes aller Art“, erklärte Branagorn.

„Ich muss schon sagen, aus dir werde ich nicht schlau. Aber vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, wenn du in der Nähe bist. An jemanden, der ein Schwert trägt, traut sich so schnell niemand heran. Und leider sind Leute wie wir ja nicht bei allen besonders beliebt. Oder freut sich immer jeder, wenn du irgendwo auftauchst, um dein Lager aufzuschlagen?“

„Nein, Ihr sprecht ein wahres Wort“, nickte Branagorn und war überrascht, wie sehr ihn dieser wildfremde Vagabund zu verstehen schien. „Gerade heute habe ich erst feststellen müssen, wie schnell man einer üblen Absicht bezichtigt wird, obwohl man nichts dergleichen im Sinn hat!“

„Du sagst es“, stieß Klaus hervor. „So geht es mir auch jedes Mal, wenn ich am Bahnhof herumhänge und dann die Bullen kommen, um mich zu vertreiben.“

„Ihr sprecht sehr abfällig von den Hütern der Ordnung. Aber ich gestehe, dass ihr Verstand tatsächlich manchmal nicht größer als der von Rindviechern ist“, stimmte Branagorn seinem Gesprächspartner zu und war erstaunt darüber, wie ähnlich doch auch in diesem Punkt ihrer beider Einschätzung war.

Klaus schlug Branagorn kräftig auf die Schulter, was dieser überhaupt nicht mochte. Aber Branagorn reagierte trotzdem gleichbleibend freundlich. Schließlich schien Klaus der Herrscher dieses verwunschenen Ortes zu sein, und es war gewiss klüger, ihn nicht zu verärgern.

„Ich bin müde“, sagte Branagorn. „Und Ihr seid es gewiss auch. Und da Ihr anscheinend die älteren Rechte an dieser Bank habt, so werde ich mir eine andere suchen.“

Branagorn wollte gerade aufstehen, als er Klaus' Hand auf seiner Schulter fühlte. Es war eine große, kräftige Pranke.

„Bleib doch noch!“, sagte Klaus.

„Gerade wolltet Ihr mich von der Bank vertreiben – und jetzt, da ich freiwillig gehe, versucht Ihr, mich zum Gegenteil zu überreden.“

„Ist vielleicht ganz lustig, wenn du noch etwas hierbleibst. Du scheinst mir in Ordnung zu sein. Willst du ein Bier?“

„Ich lehne den Genuss berauschender Getränke ab.“

„Bier ist einfach nur ein Nahrungsmittel, würde ich sagen. Aber ich habe auch einen Schokoriegel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum – aber noch gut.“ Er holte ihn aus der Gesäßtasche seiner Hose. Der Schokoriegel war etwas platter, als die Produzenten ihn mal designt hatten. „Ist sogar wieder hart geworden, obwohl es heute ziemlich warm war!“

„Ich danke Euch sehr für Eure Gastfreundschaft.“

„Heißt das nun, dass du ihn haben willst?“

„Nein.“

„Gut, dann werde ich ihn mir genehmigen.“

„Ihr erinnert mich an einen Trork.“

„Trork? Was ist das denn?“

„Ein Mischwesen aus Troll und Ork. Ich kann nicht unbedingt sagen, dass ich die Gesellschaft von Trorks sehr schätze – andererseits habe ich keinen Grund anzunehmen, dass Ihr mir feindlich gesonnen seid!“

„Du redest eigenartiges Zeug“, meinte Klaus. „Aber eigenartig und doof ist was anderes als eigenartig und interessant.“

„Anscheinend seid Ihr von recht vorurteilsfreiem Charakter!“

Klaus musterte Branagorn. „Ich habe eine Menge durchgemacht. Weißt du, früher war ich mal Ingenieur und hatte Familie, ein Haus und einen Mercedes in der Garage. Das ist alles nach und nach den Bach runtergegangen. Aber wenn ich mir dich so ansehe, dann denke ich: Um so durchgeknallt zu sein wie du, muss man noch viel Schlimmeres erlebt haben!“

„Welchen Sinn hat es, sich bei den höheren Mächten zu beklagen“, sagte Branagorn.

„Das sage ich mir auch immer, wenn ich im Amt eine Nummer gezogen habe und darauf warte, dass ich endlich dran bin“, meinte Klaus. „Erzähl mal was über dich! Woher kommst du und was hast du erlebt?“

„Das ist eine sehr lange und verworrene Geschichte“, erwiderte Branagorn. Dann begann er doch zu erzählen. Von den anderen Welten, in denen er gewesen war, von der Drachenhölle, die er durchlitt, und vor allem von Cherenwen, die er zuerst verloren und in dieser Welt vielleicht wiedergefunden hatte. Klaus kaute dabei auf seinem platt gesessenen Schokoriegel herum, aber diese Kaubewegungen wurden immer langsamer, je länger er zuhörte. Er vergaß sogar, mit einem Schluck aus der geöffneten Bierflasche in seiner Manteltasche, etwas nachzuspülen.

„Auf jeden Fall ist deine Erzählung besser als das Gequatsche der Heilsarmee oder der Sozialarbeiter“, meinte Klaus schließlich, als Branagorn lange nach Mitternacht geendet hatte. „Eins sag ich mal an deine Adresse: Manche Medikamente sind aber auch nicht harmlos!“

„Wie oft seid Ihr eigentlich hier, an diesem Ort der inneren Einkehr?“, fragte Branagorn.

„Auf'm Friedhof? Fast jeden Tag“, erwiderte Klaus, der etwas irritiert über den für ihn etwas plötzlichen Themenwechsel war.

„Dann beobachtet Ihr gewiss auch, welche Menschen und Fahrzeuge man in dieser Gegend findet und wie ihre Gewohnheiten beschaffen sind?“

„Man könnte sagen, ich bin ein Teil der Nachbarschaft. Allerdings ein nicht ganz so gern gesehener Teil, wie ich leider zugeben muss.“

„Ja, ich glaube, ich verstehe, was Ihr meint, werter Herr Klaus!“

„Tja, wir verstehen uns!“

„So seid auch Ihr offenbar ein Ausgestoßener und Vagabund zwischen den Welten.“

„Eine so schöne Umschreibung für das gute alte und vor allem auch sehr gebräuchliche deutsche Wort Penner habe ich ehrlich gesagt noch nie gehört“, gestand Klaus ein. „Klingt auf jeden Fall sehr viel freundlicher!“

„Im richtigen Wort steckt Magie, guter Freund. In der Formel schlummert die Kraft des Verborgenen, die im Stande ist, die Realität zu verändern!“

„Wenn du damit sagen willst, dass man sich eine Menge einreden kann, stimme ich dir voll und ganz zu.“ Klaus zuckte mit den Schultern, nahm einen Schluck Bier und sah dann auf die Flasche. „Es gibt natürlich auch die Möglichkeit sich das Leben schön zu saufen. Aber ich glaube, dein Weg ist auf jeden Fall nicht so schädlich für die Leber, Branadings!“

Der ehrenwerte Klaus legte sich schließlich auf die Bank und schnarchte. In Branagorns Anwesenheit schien er sich sicher zu fühlen, auch wenn er kurz bevor er einschlief noch scherzhaft bemerkte: „Aber schlag mir nicht im Schlaf die Rübe mit deinem langen Messer ab! So besoffen, dass ich das nicht merken würde, bin ich nämlich auch wieder nicht!“

Für Branagorn blieb nur ein kleiner Teil der Bank übrig und so schlief er im Sitzen, was ihm jedoch nicht sonderlich viel ausmachte.

Schließlich schafften es doch auch die großen Meister des Zen oder die tibetischen Lamas in allen möglichen, auch scheinbar unbequemen Körperhaltungen, vollkommene Ruhe und Erholung zu finden! Alles eine Frage der geistigen Disziplin, dachte Branagorn und murmelte vor dem Einschlafen eine magische Formel, die den ehrenwerten Klaus um ein Haar wieder aufgeweckt hätte.

*



Trotz all seiner inneren Versenkung und seiner überdurchschnittlichen Konzentrationsfähigkeit blieb Branagorns Schlaf in dieser Nacht nur sehr leicht. Das Geräusch eines aufbrausenden Motors weckte ihn. Er konnte nicht sehen, was für ein Wagen das war, aber er war sich ziemlich sicher, dass er von Nadine Schmalstiegs Adresse aus zurück in die Stadt fuhr.

Der aufbrausende Herr Timothy!, ging es Branagorn durch den Kopf. Wer anderes als Timothy Winkelströter kam dafür in Frage? Offenbar hatte er Nadine jetzt verlassen.

Es war noch völlig dunkel. Nicht einmal ein erster zaghafter Sonnenstrahl kroch im Osten über den Horizont. Ein früher Zeitpunkt, um eine Geliebte zu verlassen!, überlegte Branagorn. Selbst für die ob ihrer Kurzlebigkeit so eiligen Menschen ...

Hatte es vielleicht Streit zwischen Timothy und Nadine gegeben? Selbst ohne die Anwendung irgendeiner Form von Magie lag dieser Schluss ziemlich nahe, wie Branagorn fand.

Aber die Tatsache, dass Timothy Winkelströter jetzt vermutlich das Haus von Nadine Schmalstieg verlassen hatte, bot Branagorn endlich die Gelegenheit, sich noch einmal ungestört mit ihr zu unterhalten und ihr die Fragen zu stellen, die ihm auf der Seele lagen.

Auch wenn es jetzt noch sehr früh für einen Besuch war, so dachte Branagorn, dass er sich doch zumindest schon mal auf dem Weg zum Haus machen und dann vielleicht den Rest der Nacht vor ihrer Haustür verbringen konnte, sodass er dann auch auf keinen Fall den Moment verpasste, wenn sie morgens zur Klinik fuhr, um dort ihren Dienst anzutreten.

Branagorn drehte sich noch einmal nach Klaus um, der noch immer arglos vor sich hin schnarchte.

Eine gute Seele muss das sein, wenn er so tief in den Schlaf zu sinken vermag, dass ihn selbst das Geräusch eines so aggressiv aufheulenden Fahrzeugs nicht hatte wecken können. Der Schlaf des Gerechten eben, dachte Branagorn. Und zumindest darum beneidete er diesen Mann, denn ihm selbst war es schon lange nicht mehr möglich, diese besonders tiefe Form der Ruhe zu finden. Nicht, seit er zum ersten Mal die Anwesenheit des Traumhenkers in den Augen eines anderen Menschen gesehen hatte ...

Für den Bruchteil eines Moments drohte eine Erinnerung in ihm aufzusteigen. Eine Erinnerung, die sich um ein Augenpaar und einen kahlgeschorenen Kopf drehte. Ein flüchtiger Schatten einer Vergangenheit, die noch viel weiter zurücklag als jene Begegnung in der Lengericher Klinik, von der er seiner geliebten Cherenwen in Gestalt von Anna van der Pütten schon berichtet hatte.

Doch diese anderen Augen, von demselben Wahnsinn gezeichnet, hatte er nie erwähnt und er war sich eigentlich auch sicher, dass er das niemals tun würde. Um keinen Preis. Es war schon schlimm genug von dem Erlebnis in Lengerich zu erzählen. Und auch das hätte Branagorn nicht getan, wenn er eine Chance gesehen hätte, der Spur des Traumhenkers auf andere Weise zu folgen. Doch es dämmerte ihm, dass er es allein nicht schaffen würde. Er war auf die Hilfe der Hüter der Ordnung angewiesen, so sehr ihm dieser Umstand auch missfallen mochte, denn er hatte von deren Fähigkeiten keine allzu hohe Meinung. Und außerdem war er auf Cherenwen angewiesen. Denn nur sie schien ihn zumindest einigermaßen zu verstehen. Davon abgesehen hatte sie aber auch die Gabe, mit den Hütern der Ordnung auf eine Weise zu sprechen, dass sie sich der Wahrheit dieser grausamen Täuschungsmagie, die Branagorn entlarvt zu haben glaubte, stellten.

Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist!, ging es ihm durch den Kopf. Und auch diese Unruhe, die nun schon seit langem seine nahezu ständige Begleiterin war, trug ebenfalls dazu bei, diesen Zustand andauernder Angespanntheit aufrechtzuerhalten.

Branagorn rückte sich sein Schwert auf dem Rücken zurecht und warf den Umhang zurück.

Dann setzte er mit weiten Schritten seinen Weg fort.

An einem der Grabsteine blieb er dann stehen. Das fahle Mondlicht schien genau auf die Beschriftung, und das war wohl auch der Grund, weshalb gerade dieser Stein seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Dort stand:

––––––––



Wilhelmine Auguste Schmalstieg, 2.8.1919 – 1.2.2008

Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt wird leben, wenn er auch stürbe.

––––––––



Branagorn verharrte einige Augenblicke vor dem Grab, dann nickte er leicht, so als wäre ihm gerade eben etwas klar geworden.

Mit etwas eiligeren Schritten als zuvor ging er weiter.

Wenig später erreichte er die Straße. Fast nirgendwo brannte jetzt Licht. Die Hauseingänge waren nun Orte fast vollkommener Finsternis und der Mond stand zu tief, um die Straße wirklich beleuchten zu können.

Branagorn ging schließlich auf das Haus von Nadine Schmalstieg am Ende der Straße zu. Es wirkte wie ein besonders dunkler Klecks schwarzer Farbe auf einem ohnehin schon sehr düsteren Gemälde.

Ein Wagen wurde jetzt gestartet. Das Motorengeräusch unterschied sich deutlich von jenem Fahrzeug, das Branagorn zuerst gehört hatte.

In der Einfahrt leuchteten Scheinwerfer grell auf und blendeten Branagorn.

Das Gaspedal wurde im Leerlauf durchgetreten. Der Motor heulte auf.

Das geht nicht mit rechten Dingen zu!, durchfuhr es Branagorn. Schweiß perlte ihm über die Stirn und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.

Das muss er sein! Der Traumhenker!

Für einen Moment stand Branagorn wie erstarrt da und schien unfähig zu sein, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Ihm war auf einmal eisig kalt und eine Schwäche fuhr ihm in Arme und Beine, wie er sie lange nicht gekannt hatte.

Seit jenem besonderen Augenblick, den er aus seiner Erinnerung verbannt hatte.

Die Zeit erschien ihm jetzt auf eigenartige Weise gedehnt zu werden, so als würde sie nur im Schneckentempo voranschreiten.

Der Wagen startete.

Nein, ich darf ihn nicht entkommen lassen! Diesmal nicht!, ging es Branagorn durch den Kopf. Er murmelte eine Formel, die ihm helfen sollte, die innere Erstarrung zu überwinden, die ihn so plötzlich befallen hatte. Die letzten magischen Worte dieser Formel gipfelten in einem lauten, durchdringenden Kampfschrei. Er riss das Schwert heraus, fasste den Griff mit beiden Händen und sprang mit ein paar schnellen Sätzen auf die Straße.

Genau in die Mitte der Fahrbahn stellte sich Branagorn dann aufrecht und breitbeinig auf.

Die Schwertspitze zeigte in Richtung des nur schattenhaft erkennbaren Fahrzeugs.

„Stell dich, Traumhenker!“, rief Branagorn.

Der Wagen beschleunigte. Der Fahrer trat das Gaspedal voll durch. Der Motor brüllte auf und Branagorn stand im gleißend hellen Lichtkegel der Scheinwerfer.

Branagorn sprang, bevor der Wagen ihm die Beine wegreißen konnte. Mit der Schulter rollte er über die Motorhaube. Und für den Bruchteil eines Augenblicks sah er ein paar weit aufgerissener Augen. Augen voller Hass, aus denen der unzähmbare Drang zu töten sprach. Branagorn riss das Schwert herum, wollte damit die Scheibe zerschlagen, aber die Fliehkräfte rissen ihn fort. Er wurde von der Motorhaube heruntergeschleudert, kam hart auf dem Boden auf, während der Wagen erst bremste und dann wieder beschleunigte. Die durchdrehenden, über den Asphalt quietschenden Räder rollten über sein Schwert, das ihm dadurch aus der Hand gerissen wurde. So sehr er es auch festzuhalten versuchte – es gelang ihm einfach nicht.

Der Wagen raste davon, bremste an der nächsten Abzweigung und bog dann ein. Danach war nichts mehr von ihm zu sehen.

Branagorn griff nach dem Schwert und stand auf. Als er die Waffe hob, sah er im Mondlicht, dass die Klinge dort verbogen war, wo das Fahrzeug sie überfahren hatte.

„Verflucht seist du, Traumhenker!“, rief er. „Auch wenn du mir heute entkommen konntest – eines Tages wirst du meine Klinge und die Macht meiner Magie zu spüren bekommen! Und wenn es noch eine Ewigkeit dauern sollte und ich dich bis in die letzte und einsamste Welt des Polyversums verfolgen müsste!“

Sein Ruf verklang und Branagorn selbst fand, dass sich der Klang seiner Stimme entsetzlich schwach anhörte.

Die Verfolgung aufzunehmen hatte wohl keinen Sinn. Sein Feind war ihm an Schnelligkeit einfach zu sehr überlegen. Dann drehte er sich um und wandte sich dem Haus von Nadine Schmalstieg zu. Eine furchtbare Ahnung beschlich ihn.

Er ging zur Tür und fand sie einen Spalt offen.

Mit dem Schwert sorgte er dafür, dass sie sich zur Gänze öffnete. Anschließend trat er in einen dunklen Flur. Namenlose Schatten waberten dort. Er lauschte. Kein Geräusch war zu hören.

„Werte Heilschwester! Nadine! Seid Ihr dort irgendwo? Branagorn von Elbara spricht hier – und er ist gekommen, um Euch seinen Schutz zu gewähren ... Ich hoffe nur, dass ich nicht zu spät eingetroffen bin!“

Branagorn fand schließlich einen Lichtschalter. Im Flur wurde es hell.

Blut war auf dem Boden zu sehen. Kleine Tropfen nur, aber für Branagorn waren sie sehr deutlich erkennbar.

Und Haare.

Nicht nur ein einzelnes, sondern ein Büschel, so dick wie Branagorns schlanker Zeigefinger. Auch dieses Haarbüschel war Blutverschmiert. Branagorn murmelte eine weitere Formel vor sich hin, dann stieß er mit dem Schwert die halb offen stehende Tür zum Wohnzimmer auf. Auch dort waren um den Griff herum blutige Spuren zu sehen.

Branagorn trat in das Halbdunkel des Wohnzimmers. Eine Stehlampe verbreitete gelbliches Licht und schien auf Nadine Schmalstiegs starres, totes Gesicht.

Sie saß mit durchschnittener Kehle in einem klobigen Ledersessel. Ihr Kopf war vollkommen kahl. Beim Rasieren waren allerdings einige Schnitte unterlaufen, die zu stark blutenden Wunden geführt hatten. Aus manchen dieser Schnitte sickerte es noch immer heraus.

„Bei den vergessenen namenlosen Göttern des elbischen Lichtvolkes“, murmelte er. „Was hast du nur getan, Traumhenker? Was hast du nur getan!“

Tränen des Zorns standen ihm in den Augen.

Ich hätte es wissen müssen!, ging es ihm durch den Kopf. Ich hätte früher hier sein müssen, um es zu verhindern! Was ist los? Hat die lähmende Magie deines Feindes schon so viel Macht über dich, dass du nicht nur wie erstarrt dastehst und ganz unelbisch anfängst zu schwitzen, als wärst du ein Mensch?

Branagorn glaubte für einen Moment, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er trat auf die Leiche vom Nadine Schmalstieg zu. Jede Heilmagie, um ihr Leben doch noch zu retten, kam zu spät.

Branagorn beugte sich etwas vor und schloss der Toten die Augen.


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