Читать книгу Killer gesucht: 7 Strand Krimis - 1500 Seiten Spannung - Alfred Bekker - Страница 36
Morgengrauen
ОглавлениеIn dieser Nacht plagte Anna van der Pütten erneut ein Albtraum. Aber irgendwie schien es sich um einen Traum von wohl ausgewogenem Grauen zu handeln, das keineswegs ausreichte, um sie zu wecken.
Wach wurde sie dann durch das schrille Geräusch ihres Handys, das gleichzeitig schnarrte und vibrierte. Dabei bewegte es sich langsam über den Nachtisch und hatte die Kante schon fast erreicht, als Anna zum ersten Mal die Augen öffnete – oder besser gesagt nur das linke Auge, denn das rechte war noch zu verklebt. So lange sie sich erinnern konnte, litt sie unter entzündeten und verklebten Augen, wenn sie erwachte und daran hatten auch all die verschiedenen Augentropfen nichts zu ändern vermocht, die sie im Laufe der Zeit ausprobiert hatte.
Gerade als Anna zugreifen wollte, fiel das Handy auf den Boden und schnarrte dort unverdrossen weiter.
Sie erhob sich. An ihren Albtraum hatte sie diesmal nur noch sehr verschwommene, vage Erinnerungen. Aber das war vielleicht auch besser so. Sie setzte sich auf, langte dabei nach dem Handy. So ist das eben, dachte sie. Das reale Grauen verdrängt das Grauen aus dem Traumreich. Vielleicht wäre das ja auch mal ein ganz neuer Therapieansatz ...
Sie hatte im nächsten Moment das Handy am Ohr.
„Ja!“, ächzte sie. „Van der ... Pütten!“ Vor dem 'Pütten' musste sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund erst Mal Luft holen. Vielleicht war auch einfach noch nicht genug Blut in den entscheidenden Regionen des Gehirns, um sich schnell genug an die dritte und längste Komponente ihres Nachnamens erinnern zu können. Es fühlte sich an, als hätte der Rechner in ihrem Oberstübchen einen Hänger und wäre bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit damit beschäftigt, den Arbeitsspeicher so zu erweitern, dass sie ihren gegenwärtigen Status tatsächlich und guten Gewissens mit dem Wort 'wach' bezeichnen konnte.
„Anna?“, fragte eine Stimme am anderen Ende der Verbindung.
„Ja, habe ich doch gesagt“, murmelte Anna etwas unwirsch. Und die Sekunden, in denen sie das sagte, brauchte sie auch, um zu erfassen, dass es Sven Haller war, mit dem sie sprach.
„Anna, es hat einen weiteren Mord des Barbiers gegeben.“
„Was?“
„Ist irgendetwas mit der Verbindung oder was ist los oder warum verstehst du mich so schlecht?“
„Ich war wohl gerade in der Tiefschlafphase oder so.“
„Ich bin schon unterwegs. Du musst deinen eigenen Wagen nehmen.“
„Heißt das ...“
„Es wäre schön, wenn du auch dort sein könntest, um dir den Tatort anzusehen.“
„Wo ist der denn?“
„In Borghorst. Adresse gebe ich dir durch. Ach ja, vielleicht macht es dich etwas wacher, wenn ich dir sage, dass am Tatort ein gewisser Frank Schmitt aufgegriffen wurde.“
„Was?“
„Der Mord geschah im letzten Haus einer Straße, die Haselstiege heißt. Nummer habe ich hier gerade nicht und Kevin, der neben mir sitzt, weiß sie auch nicht. Aber du findest das schon. Das letzte Stück wirst du sowieso zu Fuß gehen müssen, weil vermutlich schon ein halbes Dutzend Einsatzfahrzeuge alles vollgestellt hat.“
„Warte mal ...Sven.“
„Bis nachher.“
Das Gespräch war unterbrochen.
So, dachte Anna, beginnt kein guter Morgen!
*
Als Anna ihren Renault in der Nähe eines Friedhofs parkte, war bereits die Sonne als blutroter Ballon aufgegangen. Eine Schlange von Fahrzeugen stand vor dem Grundstück am Ende der Straße. Polizeifahrzeuge waren ebenso darunter wie das Fahrzeug der Gerichtsmedizin. Sven Hallers Volvo war auch darunter. Uniformierte Kollegen standen vor dem Haus. Andere gingen bei den Nachbarn von Tür zu Tür. Die meisten Anwohner waren noch nicht zur Arbeit, sodass man sie befragen konnte. Vielleicht hatte ja jemand eine Beobachtung gemacht oder konnte einen sachdienlichen Hinweis geben.
„Sie können hier nicht weiter“, sagte ein Polizist, den Anna nicht kannte.
„Mein Name ist Anna van der Pütten, Kriminalpsychologin. Kriminalhauptkommissar Haller wartet auf mich – und ich weiß, dass er bereits hier sein muss. Sein Wagen steht nämlich da vorne.“
„Tja, ich weiß nicht. Ich kenne Sie ja schließlich nicht. Haben Sie irgendwie einen Dienstausweis oder irgendetwas anderes, womit Sie ...“
„Ist schon in Ordnung, die gehört dazu!“, hörte Anna hinter sich eine wohlbekannte Stimme sagen.
Kevin Raaben war hinter ihr aufgetaucht.
„In Ordnung“, sagte der Uniformierte.
„Los jetzt“, forderte Raaben Anna auf und führte sie ein paar Schritte weiter auf die Haustür zu. Anna bemerkte, wie ein Kollege der Spurensicherung sich gerade den in der Einfahrt stehenden Wagen vornahm. Dass Areal davor war mit Flatterband zum Teil abgesperrt. Offenbar wurde auch dort nach Spuren gesucht.
Ein Kollege, den Anna schon des Öfteren in Münster auf dem Präsidium am Friesenring gesehen hatte, von dem sie aber nicht den Namen kannte, war gerade damit beschäftigt, Fotos von den Reifenspuren zu machen, die davor selbst für einen Laien zu erkennen waren.
„Ja, da hat jemand so was wie einen Kavalierstart hingelegt“, meinte Raaben, der Annas Gedanken zu erraten schien. „Und wir wissen von einer Nachbarin, dass es wohl ein Geländewagen gewesen ist. Die Dame ist zwar schon alt, hat aber gut funktionierende Augen und sitzt oft bis spät in den frühen Morgen vor dem Fernseher, weil sie nicht schlafen kann.“
„Was ist hier genau passiert?“, fragte Anna. „Und wo ist Branagorn, als ich meine ...“
„Herr Schmitt.“
„Genau.“
Raaben kratzte sich am Hinterkopf. „Tja, der Sven hat noch nicht am Telefon darüber gesprochen?“
„Nein, das hat der Sven nicht gemacht. Und jetzt bitte Klartext! Was ist mit Herrn Schmitt?“
„Alle Achtung! Eine Psychologin, die sich mehr für ihren Patienten interessiert als für den Mord! Ich hoffe, wenn man mich mal bei einer schrecklich zugerichteten Leiche mit einem verbogenen Schwert in der Hand findet, dann setzt sich auch jemand für mich ein.“
„Wo ist er?“
„Er sitzt in der Küche und blickt etwas stumpfsinnig vor sich hin.“
„Und wo ist Sven?“
Raaben zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Muss hier irgendwo herumlaufen. Vielleicht ist er im Garten – kann aber auch sein, dass er sich mit einem der Nachbarn darüber unterhält, ob sie nicht doch etwas gesehen oder gehört haben!“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Schmitt diese Nadine Schmalstieg umgebracht hat“, gab Anna ihrer Überzeugung Ausdruck.
Kevin Raaben sah sie etwas erstaunt an. „Davon habe ich auch nie etwas gesagt. Herr Schmitt hat den Mord gemeldet und wahrscheinlich auch das eine oder andere angefasst, was unseren Kollegen von der Spurensicherung den Job sicherlich nicht gerade erleichtern wird.“
Anna atmete innerlich auf. „Es hieß erst, Herr Schmitt wäre in Gewahrsam ...“
„Ja, der örtliche Beamte, der zuerst an den Tatort gelangte, schien die Sache wohl etwas anders einzuschätzen. Und davon abgesehen wissen wir natürlich nicht, was sich noch herausstellen wird. Also aus dem Schneider ist Herr Schmitt noch nicht hundertprozentig!“
*
Wenig später gelangte Anna in die Küche, wo Branagorn am Tisch saß. Er blickte starr vor sich und schien sie zunächst gar nicht zu bemerken.
Den eigentlichen Tatort konnte Anna im Moment sowieso nicht betreten, da er noch nicht abgespurt war, wie Markus Friedrichs und seine Kollegen von der Spurensicherung das nannten. Selbst der Gerichtsmediziner Dr. Wittefeld musste zunächst warten. Er ging ungeduldig im Flur auf und ab, der von Markus Friedrichs und seinen Spusi-Kollegen als erstes abgespurt worden war, denn zu einem späteren Zeitpunkt wäre dort wohl kaum noch etwas Brauchbares zu finden gewesen.
Anna setzte sich Branagorn gegenüber.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte sie.
„Nicht gut“, sagte Branagorn. „Man hat mir zum zweiten Mal ein Schwert entwendet, um es eine Untersuchung zuzuführen. Aber alles, was daran zu finden ist, kann ein jeder mit seinen bloßen Augen erkennen! Ein Wagen ist mir über das Schwert gefahren. In ihm saß die Mörderseele, die vom Traumhenker besessen ist. Ich stellte mich ihr entgegen, aber anscheinend waren meine Kräfte nicht stark genug. Wenn ich das andere Schwert als Artefakt hätte verwenden können ...“ Branagorn zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, vielleicht hätte ich das Übel stellen und bannen können. Aber so war es mir einfach nicht möglich.“ Er sah auf und Anna erkannte sofort die schier grenzenlose Traurigkeit in den Augen ihres Patienten. „Ich habe den Tod der Heilschwester nicht verhindern können.“
„Warum nennen Sie Nadine Schmalstieg eine Heilschwester?“
„Weil das ihre Profession ist. Sie arbeitet am Marienhospital. Ich lernte sie kennen, als sie noch eine Schülerin war und ich für eine gewisse Zeit bei den Türmen zu Lengerich weilte ... Zur selben Zeit begegnete ich in Lengerich auch dem Traumhenker, wie ich Euch schon einmal berichtet habe.“
„Ja, das habe ich nicht vergessen.“
„Ich habe Nadine Schmalstieg darüber befragt, denn sie hatte ja schließlich damals Dienst und hätte dieser Mörderseele ebenfalls begegnen müssen. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Sie haben mit ihr noch gesprochen?“, wunderte sich Anna.
„Ja, am Tag zuvor an einem Ort, der sich Café Mauritius nennt. Ich erwähnte das kurz während unseres Gesprächs über das sprechende Artefakt. Aber ich sehe schon, dass ich Euch alles von Anfang an und im richtigen Zusammenhang berichten muss, sonst würdet Ihr das alles nicht verstehen ...“
„Das fürchte ich auch“, nickte Anna.
Branagorn griff an seinen Gürtel und nahm den Beutel hervor, in den er das Haar aus dem Flur des Hauses in der Nordwalder Straße getan hatte. Mit dem Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand griff er dabei mit einer Sicherheit zu, die wohl für ein gut ausgebildetes, scharfes Auge sprach, ein Elbenauge eben, wie Branagorn immer wieder betonte. Er hielt Anna das Haar hin. „Ich hoffe, Ihr habt dafür Verwendung in den Laboratorien Eurer Alchemisten.“
„Sicher. Nur habe ich im Moment nichts, worin ich dieses Beweisstück aufbewahren könnte.“
„Ich hole ein Tütchen“, sagte der Beamte, der bis dahin mit im Raum gesessen hatte. „Einen Moment.“
„Vielen Dank“, sagte Anna.
„Das ist übrigens der werte Ralf Meyer zu Gentrup, der unter den Hütern der Ordnung den Rang eines Polizeikommissars bekleidet, wenn ich mich recht erinnere. Er war der Erste von ihnen, der hier eintraf, nachdem ich mit dem sprechenden Artefakt Hilfe gerufen hatte.“ Branagorn schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich konnte den Traumhenker nicht aufhalten, obwohl es mir nicht an Mut mangelte ... Das wird sich in Zukunft als schwere Bürde für mich erweisen.“
„Es gibt Ihnen niemand die Schuld am Tod von Nadine Schmalstieg!“
„Sagt das nicht, meine werte Ratgeberin und Gefährtin“!, widersprach Branagorn. „Wenn sich im Wohnzimmer nicht ein blutiger Fußabdruck gefunden hätte, der weder vom unglückseligen Opfer dieser Gewalttat noch von mir stammen kann, dann wäre der nette Herr Meyer zu Gentrup sehr schnell zu meinem eindringlichsten Ankläger geworden – ganz zu schweigen von jenem Hüter der Ordnung, der den Namen Haller trägt und mit dem Ihr in besonders enger Weise zusammenzuarbeiten scheint. Es war so schrecklich, in der Gewissheit das Haus zu betreten, einem furchtbaren Bild des Grauens zu begegnen. Wie sie da saß, die Kehle geöffnet und das Haar auf eine so grobe Weise entfernt, dass dies nur einem unendlich großen Hass entsprungen sein kann. Einem Hass, wie er in dieser furchtbaren Intensität für mich nicht nachvollziehbar ist. Doch das liegt vielleicht an der Natur des Elbenvolkes ...“
„Jeder Mensch ist unter den geeigneten Umständen dazu fähig, die schlimmsten Instinkte in ihm an die Oberfläche kommen zu lassen“, erwiderte Anna. „Niemand von uns weiß, wo bei ihm persönlich die Grenze liegt, an der die dünne Tünche der Zivilisation und der Kultur von ihm abfallen und etwas zum Vorschein kommt, was dann für gewisse Zeit jegliche Kontrolle außer Kraft setzt.“
„Euer Lehrmeister Freud nimmt doch ohnehin an, dass das Unbewusste die meisten Entscheidungen trifft und dabei viel weniger von den ordnenden Instanzen des Ich und des Über-Ich beeinflusst wird, als die meisten Menschen glauben oder – wie in Eurem Fall – hoffen.“
„Sie kennen Freud?“, wunderte sich Anna, fand es dann aber im nächsten Moment gar nicht mehr verwunderlich. „Na ja, Sie lesen ja viel ...“
„Ich muss gestehen, dass ich nie etwas von ihm gelesen habe. Aber irgendwann in den 1890er Jahren hatte ich die Gelegenheit, in Wien persönlich einem Streitgespräch zwischen Freud und dem Okkultisten Hermann von Schlichten über die Macht des Unbewussten zu folgen. Für mich war das sehr aufschlussreich, wie ich gestehen muss.“
„Ah ja“, murmelte Anna.
Branagorn nahm mit der Rechten Annas Hand, während Daumen und Zeigefinger der Linken nach wie vor ein Haar festhielten. Ihr erster Impuls war, sie ihm zu entziehen, doch dann überwog ihre Neugier. Sie hatte das Gefühl, dass Branagorn auf diese Weise eine besondere Verbindung zu ihr herzustellen versuchte und etwas sagen wollte. Etwas, das auch für sie von großer Bedeutung sein mochte. Undeutlich stießen die Erinnerungen an ihren ersten Albtraum vom Traumhenker wieder in ihr auf, aber dann schalt sie sich eine Närrin. Müdigkeit und persönliche Verstrickung in einem Fall, das war wirklich keine gute Kombination, dachte sie. Es wurde in ihrem Fall wirklich höchste Zeit für die Supervision durch einen unbeteiligten Kollegen. Im Moment allerdings ging es erst einmal darum, einem Mörder auf die Spur zu kommen. Na ja, dachte sie, irgendeine Ausrede hat jeder!
„Wir müssen noch einmal zu diesem Haus in der Nordwalder Straße, in dem Sarah Aufderhaar lebt. Dort kommt dieses Haar her! Ich hoffe, dass die Alchemisten bereits jenes untersucht haben, das ich in Telgte fand!“
„Nun ...“
Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Wenn Haller das Haar von der Planwiese vielleicht auch nicht einfach in den Müll geworfen hatte, so war auf der anderen Seite auch nicht anzunehmen, dass sich wirklich jemand dieses Beweisstücks annahm. Und was dieses Haar anging, sah Anna kaum bessere Chancen.
„Ich weiß, dass mich niemand ernst nimmt, und ich weiß auch, dass die Gefahr, die den nächsten Opfern droht, die Hüter der Ordnung aus irgendeinem mir nicht nachvollziehbaren Grund trotzdem nicht dazu veranlassen, mir zu glauben, obwohl ich sicher bin, der Mörderseele näher auf der Spur zu sein als jeder andere.“
„Branagorn, ich weiß nicht, ob Sie wirklich ...“
„Nein, hört mir zu, Cherenwen, hört mir zu und erfüllt mir diese eine Bitte, um die ich niemals bei Euch anfragen würde, wenn es nicht wirklich dringlich wäre. Fahrt mit mir zu diesem Haus, wenn Ihr hier abkömmlich seid! Ich habe Euch ja meinen Ärger, der mir dort widerfuhr, über das sprechende Artefakt kurz geschildert. Wenn ich dort ein zweites Mal auftauchte, müsste ich erneut damit rechnen, unlauterer Absicht verdächtigt zu werden. Aber Ihr könntet Euch dort umsehen und mir Eure Augen und Euren Mund leihen, Cherenwen ... Würdet Ihr das tun?“
„Ich weiß nicht ...“
„Bitte! Wenn Ihr es nicht meinetwegen zu tun bereit seid, dann zumindest um der zukünftigen Opfer willen!“
Anna seufzte. Dieser Patient drohte ihr noch den letzten Nerv zu rauben. Andererseits beunruhigte sie die Tatsache ebenfalls, dass dieser unbekannte Mörder noch weiter sein grausiges Spiel fortsetzen konnte, immer mehr. Seit er sogar Stoff ihrer Albträume geworden war, hatte dieser Aspekt noch einmal eine neue Qualität bekommen. Die Jagd nach dem Barbier war für Anna inzwischen zu einer sehr persönlichen Angelegenheit geworden. Und auch wenn sie sich hundertmal sagte, dass das eigentlich niemals hätte passieren dürfen, so war es inzwischen nun einmal eine Tatsache, die sie nicht mehr leugnen konnte.
„Also gut“ versicherte sie. „Ich fahre mit Ihnen dorthin. Das verspreche ich Ihnen.“
„Danke. Und falls die Hüter der Ordnung doch noch einen Grund finden, mich festzuhalten, so ...“
„... werde ich dieses Haus alleine aufsuchen.“
In diesem Moment kehrte Polizeikommissar Meyer zu Gentrup zurück. Er hatte eine kleine, transparente Plastiktüte in der Hand, wie sie verwendet wurde, um Spuren zu sichern. „Hat einen Moment gedauert, aber die Kollegen sind sehr im Stress!“, sagte er.
„Das macht nichts“, antwortete Anna.
Meyer zu Gentrup ließ Branagorn das Haar in das geöffnete Plastiktütchen tun. Es war dem Elbenkrieger anzusehen, wie ungern er diesen Beweis abgab. Fast so, als würde es sich um eines seiner magischen Artefakte handeln!, überlegte Anna. Aber vielleicht misstraute er auch einfach nur der Polizei und glaubte nicht, dass dieses Haar jemals einem Labor zugeführt werden würde.
„Es gibt übrigens noch einen wichtigen Zeugen, der vielleicht Beobachtungen gemacht hat, die helfen könnten, den Fall aufzuklären“, ergänzte Branagorn.
„Was ist das für ein Zeuge?“, fragte Meyer zu Gentrup.
„Es ist der werte Klaus. Ich habe mit ihm zusammen auf dem Friedhof genächtigt. Er pflegt mit einem Handwagen durch die Lande zu ziehen, der offenbar seinen gesamten Besitz trägt, und war früher ein Maschinenmagier.“
„Wie bitte?“
„Ich glaube, irgendwann in den letzten zweihundert Jahren hat man angefangen, so etwas einen Ingenieur zu nennen.“
Meyer zu Gentrup grinste breit und schob sich seine dicke und ziemlich schwere Brille zurück zur Nasenwurzel. Irgendwie schien seine Brille nicht für seine relativ schmale und in einem steilen Winkel abfallende Nase geschaffen zu sein, sodass Meyer zu Gentrup ungefähr alle paar Minuten damit beschäftigt war, die Brille wieder in die Position zu bringen, die für einen klaren Durchblick passend war.
„Einen Nachnamen wissen Sie nicht zufällig?“, fragte Anna.
„Nein“, gestand Branagorn. „Aber möglicherweise weilt er sogar noch auf dem nahen Friedhof und wenn nicht, so ist damit zu rechnen, dass er bald wieder auftaucht, denn er scheint die Gesellschaft der Totengeister regelmäßig in Anspruch zu nehmen, da er sich in ihrer Gegenwart sehr wohl fühlt.“
„Wir können ja nachher mal sehen, ob der Kerl dort irgendwo ist“, mischte sich Meyer zu Gentrup ein.
„Schildern Sie mir jetzt bitte alles von Anfang an, Branagorn.“
„Wie Ihr wollt, werte Cherenwen.“
*
Sven Haller war zur selben Zeit gerade damit beschäftigt, einen Mann mit langen und leicht gewellten Haaren zu befragen. Haller tippte auf einen pensionierten Akademiker. Wahrscheinlich Studienrat, zu mehr fehlte diesem Typ einfach wohl der Ehrgeiz. Wer sich schon nicht entscheiden konnte, ob er ein richtiger Hippie oder doch nur die beamtete Version werden sollte, der war sicherlich auch nicht das Risiko eingegangen, sich bis in die vierziger mit Assistentenstellen über Wasser zu halten, bis dann die Habilitationsschrift in irgendeinem obskuren gesellschaftswissenschaftlichen Seitenzweig tatsächlich fertig wurde und der betreuende Professor bis dahin noch nicht verstorben war.
Der Mann hieß Jobst Fleischer, betonte aber, er sei von Beruf niemals Fleischer gewesen, sondern eigentlich sogar eher Vegetarier, da er sich zu neunzig Prozent von dem ernähren würde, was er eigenhändig in seine Garten angebaut hatte. „Ich sag immer: Selbst gezogen schmeckt besser und wenn man sich eigenhändig vergiftet, ist das auch in der eigenen Verantwortung.“
„Tja, so habe ich das noch nie gesehen“, sagte Haller.
Jobst Fleischer war ein hagerer Mann mit grauen Haaren und einer Strickjacke, die aussah, als wäre bei ihrer Herstellung jeder nur erdenkliche Wollrest eingestrickt worden. Eine Patchworkjacke, bei der weder auf farbliche Zusammenstellung noch auf so etwas wie eine Passform irgendeine Rücksicht genommen worden war. Vermutlich war die Jacke ein Geschenk, dachte Haller. Ein Geschenk, von dem Jobst Fleischer aus irgendeinem Grund dachte, dass er es nicht ablehnen konnte, es auch zu benutzen. So etwas kannte eigentlich jeder. Der kratzende Pullover von der Oma, den man dann zu ihrem Besuch tragen musste, egal, ob die meteorologischen Gegebenheiten das auch in angemessener Weise rechtfertigten. Aber Haller fand, dass man mit Ende fünfzig – auf dieses Alter schätzte der Kriminalhauptkommissar den Mann – aus aus dieser Phase eigentlich raus sein sollte. Aber vielleicht war das etwas anderes, wenn man mit der rücksichtslosen Schenkerin eine Beziehung hatte, in der man vielleicht unangenehmen und langwierigen Diskussionen im Interesse des Friedens eher aus dem Weg ging.
Fleischer wohnte drei Häuser weiter – bezogen auf die Adresse von Nadine Schmalstieg. Der Vorgarten unterschied sich kaum von denen anderer Häuser in der Gegend. Der Rasen war kurzgeschnitten und es gab ein paar widerstandsfähige Zierpflanzen, die nicht viel Pflege verlangten. Die Anbaugebiete von Fleischers Nutzgarten musste sich auf der Rückfront des rot verklinkerten Reiheneckhauses befinden.
Haller und Fleischer standen vor dem Haus. Fleischer stützte sich auf eine Hacke. Was er damit auf dieser Seite des Hauses eigentlich wollte, war Haller schleierhaft. Wahrscheinlich diente dieses Werkzeug einfach nur dazu, ihm ein Alibi zu verschaffen, das es ihm gestattete im Vorgarten zu stehen und ungeniert zu gaffen.
„Wollen Sie hereinkommen?“, fragte eine Frau, die wie ein weiblicher Zwilling ihres Mannes aussah. Sie hatte die gleiche hagere Figur, die gleichen gewellten grauen Haare und fleckigen Jeans, deren Schnitt noch den Schick der frühen Achtziger erkennen ließ und bewiesen, wie nachhaltig man mit mit einem Stück gewebter Baumwolle doch umgehen konnte und was Nachhaltigkeit wirklich bedeutete. Die Strickjacke, die sie trug, passte in ihrer Machart zu der ihres Mannes. Haller fühlte sich jetzt bestätigt. Die Offensiv-Strickerin, deren Werke den schmalen Grad zwischen Relativität und Chaos auszuloten versuchten, war zweifellos entlarvt. Mit der Entlarvung des Barbiers würde es so leicht nicht vorangehen, befürchtete der Kripo-Mann aus Münster.
„Ja, in Ordnung, gehen wir rein“, sagte Haller. Im Moment waren die Spusi-Leute am Tatort und da störte er ohnehin nur. Und wenn diese Leute hier den ganzen Tag nicht viel mehr zu tun hatten, als ihr Gemüse zu beobachten, dann wussten sie ja vielleicht auch ganz gut über die Verhältnisse in der Nachbarschaft Bescheid und konnten womöglich wertvolle Hinweise geben.
„Sie können grünen Tee haben“, sagte die Frau.
„Danke.“
„Danke ja oder nein?“
„Danke ja.“
Was soll's, dachte Haller. Schließlich war grüner Tee ja dafür bekannt, dass er magenfreundlich sein sollte, auch wenn er schmeckte wie gekochtes Gras und sein Geruch Haller immer an eine Scheune voller Heu nach einem Sommerregen erinnerte, wobei die Scheune allerdings kein Dach hatte und auf diese Weise alles nass geworden war.
Haller folgte den beiden.
Jobst Fleischer stellte seine Hacke neben der Tür ab. Es gab keine Klingel, nur ein Namensschild. Jobst Fleischer und Ruth Störicke-Fleischer.
Jobst Fleischer führte ihn zu einem rustikale Tisch in der Mitte des Eingangsraumes. Dort bekam er wenig später den versprochenen grünen Tee in einer Tasse beziehungsweise ihrem selbst getöpferten Äquivalent.
„Ja, das ist wirklich tragisch, was mit Nadine passiert ist“, sagte Ruth Störike-Fleischer nach einem tiefen Schluck von ihrem Tee und einem ebenso tiefen Seufzer.
„Sie kannten die Tote gut?“, fragte Haller.
„Wie man es nimmt. Sie ist vor einigen Jahren hierhergezogen. Das Haus gehörte ihrer Großtante. Die hatte selbst keine Kinder oder noch andere Angehörige. Und Nadine hat das Haus mit der Auflage gekriegt, die alte Dame zu pflegen. Sie liegt inzwischen auf dem Friedhof, an dem Sie sicher auch vorbeigekommen sind.“
„Nadine ist – war – ja Krankenschwester“, ergänzte Jobst. „Ich glaube früher hat sie in Lengerich in der Psychiatrie gearbeitet, aber das war ihr wohl auf die Dauer einfach seelisch zu belastend.“ Letzteres konnte Jobst Fleischer offenbar gut verstehen, denn in den nächsten Sätzen erfuhr Haller dann in Kurzform die Lebensgeschichte der beiden. Beide Lehrer, beide schließlich aus dem Dienst gegangen, weil sie sich diesem Stress und dem andauernden Druck nicht mehr aussetzen wollten und ein Leben ohne Zwänge zu führen versuchten. Jobst sprach dabei, und seine klaren, vieles zusammenfassenden Sätze verrieten dabei den ehemaligen Lehrer, der es wohl gar nicht so schlecht verstanden haben musste, komplizierte Dinge auf eine Weise zusammenzufassen, dass auch begriffsstutzige Pennäler und Polizisten sie schnell zu verstehen vermochten.
„Mich interessieren eigentlich mehr die Beobachtungen, die Sie gestern Abend und heute früh gemacht haben.“
„Es ist immer noch früh am Morgen“, erinnerte Jobst den Kommissar, der daraufhin ein Gähnen unterdrücken musste. Dieser Drang schien psychosomatischer Natur zu sein. Wenn ihn jemand daran erinnerte, dass er normalerweise vielleicht gerade mit dem Zähneputzen begonnen hätte, dann wünschte er sich einfach noch mal zurück ins Bett. Zumal die Wendung, die der Fall des Barbiers genommen hatte, alle bisherigen Ermittlungsergebnisse wieder massiv in Frage stellte. Wenn es sich bei dem Mörder von Nadine Schmalstieg tatsächlich um denselben Täter handelte, der auch Jennifer Heinze getötet hatte, dann konnte das unmöglich der inhaftierte Jürgen Tornhöven sein.
Andererseits waren die Spuren in Richtung der sogenannten 'Neuen Templer' so eindeutig, dass man sie nicht ignorieren konnte.
„Nadine hatte gestern einen ziemlich heftigen Streit mit ihrem Freund“, sagte jetzt Ruth Störicke-Fleischer. „Timothy heißt er. Nadine hat mir mal von ihm erzählt.“
„Du hast sie ausgefragt!“, korrigierte Jobst.
„Ja, wenn so ein seltsamer Typ mit langem Ledermantel hier herumläuft, der aussieht, als käme er irgendwie aus einem schlechten Film, dann wird man ja wohl mal fragen dürfen! Außerdem hatte er seinen Wagen so geparkt, dass ich kaum raussetzen konnte. Also zumindest ich nicht.“
„Heißt dieser Timothy zufällig Winkelströter?“, fragte Haller.
„Ja, jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir wieder ein“, bestätigte Ruth. „Und er fährt einen dicken Geländewagen.“
„Die Nummer habe ich mir übrigens aufgeschrieben, weil er ja unsere Ausfahrt zugeparkt hatte“, sagte Jobst. „Ich meine, zu dem Zeitpunkt war da zwar gerade eine Baustelle vor Nadines Haus, sodass er dort nicht parken konnte, aber das heißt ja nicht, dass man einfach überall seinen Protzwagen abstellen kann!“
„Ja, ja“, sagte Haller.
„Ich meine, Sie als Polizist sehen das doch wohl genauso!“
„Sicher!“
Insgeheim konnte sich Haller nur darüber wundern, wie spießig diese Ex-Hippies – ungeachtet ihres unkonventionellen Auftretens – offenbar inzwischen geworden waren. „Aber vielleicht kommen wir noch mal zurück zu diesem Streit“, meinte Haller schließlich und versuchte, den Faden seiner Ermittlungen wieder aufzunehmen. „Und wo hat Herr Winkelströter gestern geparkt? Wieder vor Ihrem Haus?“
„Nein, nein, die Baustelle ist schon in der vergangenen Woche fertig geworden. Gestern hat er in der Einfahrt zu Nadines Haus geparkt. Es war nämlich so, er kam zuerst und Nadine war erst später dort.“
„Er hat auf sie gewartet?“, hakte Haller nach.
„Richtig. Und zwar ziemlich lange. Nadine kam vom Dienst und konnte natürlich den Wagen nicht in die Einfahrt fahren. Das war sicher schon mal der erste Konfliktpunkt. Dann haben die beiden sich ganz fürchterlich angeschrien.“
„Konnten Sie mitbekommen, worum es ging?“
Ruth mischte sich jetzt ein. „Es fiel mehrfach ein Name. Jennifer. Aber mehr konnten wir hier auch nicht verstehen. Ich wollte schon hingehen.“
„So?“
„Ja, nicht aus Neugier, sondern um zu vermitteln. Aber dann ist dieser Timothy in den Wagen gestiegen und weggefahren. Er war ziemlich geladen, würde ich sagen.“
„Später kam er dann zurück, da wurde es schon dunkel“, ergänzte Jobst. „Was dann geschah, wissen wir nicht. Nadine hat ihn offenbar ins Haus gelassen.“
„Tja und ganz in der früh, also das war noch mitten in der Nacht, da sind wir beide durch Motorengeräusche wach geworden“, fügte Ruth hinzu. „Wissen Sie, wir haben keine Uhren im Haus. Diesem Diktat der Zeitmessung wollen wir uns nicht unterwerfen. Das Empfinden der Zeit wird durch die Natur bestimmt. Durch den Wechsel von Licht und Dunkelheit oder den Schlag des Herzens – aber nicht durch etwas Mechanisches, das alle Menschen gleichschaltet. Man sollte auf die innere Uhr hören und nicht auf dieses aufgezwungene Zeit-Diktat.“
„Na ja, solange man sich nicht verabreden will, ist dagegen ja auch nichts zu sagen“, meinte Haller etwas befremdet. „Genaue Zeitangaben kann ich also von Ihnen nicht erwarten“, stellte er dann noch fest und und dabei war seine Enttäuschung kaum zu überhören.
„Jedenfalls fuhr der Wagen so schnell davon, wie wenn jemand flüchten will“, erläuterte Jobst. „So wie in diesen amerikanischen Serien, wobei ich gestehen muss, dass wir da wohl nicht mehr so ganz auf dem Laufenden sind.“
„Einen Fernseher besitzen wir nämlich schon lange nicht mehr“, sagte Ruth. „Diesem Konsum- und Werbeterror wollten wir uns nicht länger aussetzen. Trotzdem kommen diese Prüfer der Gebühreneinzugszentrale immer wieder vorbei und wollen uns einfach nicht glauben, dass wir darauf verzichten. Radio haben wir nämlich auch nicht.“
Jobst nickte und die tief empfundene Zustimmung zu den Worten seiner Frau hatte ihre Entsprechung in der Tiefe der jeweiligen Nickbewegungen, die immer raumgreifender wurden.
„Ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen. Aber demnächst wollen die in Berlin ja so eine pauschale Medienabgabe pro Haushalt einführen – egal ob man überhaupt ein Radio oder einen Fernseher besitzt!“
„Oder nur einen Computer!“, ergänzte Ruth.
„Jedenfalls ist das im Gespräch“, fügte Jobst hinzu.
„Und mein Mann bereitet schon mal eine Verfassungsklage vor, falls es tatsächlich dazu kommt, dass man diese Abgabe bei uns erheben will!“
„Da stecken doch nur die Konzerne hinter, Ruth! Die Konzerne und ihre Lobby.“
„Ich habe zum Schluss noch eine letzte Frage“, sagte Haller nun. Er holte nun einen Abzug des Facebook-Fotos heraus, dass Nadine Schmalstieg offenbar ins Internet gestellt hatte und auf dem wohl einige ihrer Freunde und Bekannten in mehr oder minder ausgeprägter mittelalterlicher Gewandung zu sehen waren. Dass die Ermordete die Nadine Schmalstieg war, die diesen Facebook-Account gehabt hatte, war inzwischen Stand der Ermittlungen. Allein schon die Verbindung zu Timothy Winkelströter ließ daran keine Zweifel – aber inzwischen war das auch dadurch bestätigt, dass man Benachrichtigungen dieses Accounts auf Nadines Handy gefunden hatte. Ihren Computer würden sich die Kollegen natürlich auch ansehen. „Wenn Sie sich das bitte mal ansehen würden“, sagte Haller. „Erkennen Sie irgendwen wieder?“
„Ja, natürlich! Das da! Da ist ist der Timothy!“, stellte Ruth fest. „Ich glaube, da hat sie sich den Falschen gegriffen. Ganz ehrlich, ich verstehe bis heute nicht, was sie an dem gefunden hat! Schon allein die Kleidung wirkt doch so ungeheuer ...“ Sie suchte nach dem richtigen Wort und fand es schließlich auch. „... aggressiv!“ Die Art und Weise, wie sie das aussprach, drückte aus, dass sie in dieser Eigenschaft so etwas wie eine Todsünde sah. Insbesondere die Schlusssilbe zog Ruth Störicke-Fleischer so in die Länge, dass dabei ein Zischlaut entstand, den Haller seinerseits wiederum als sehr aggressiv empfand.
„Darf ich mal näher sehen?“, fragte Jobst und nahm dabei das Foto an sich. Er kniff die Augen zusammen und Haller fragte sich, ob technische Seehilfen, wie zum Beispiel eine Lesebrille, wohl von den Fleischers ebenfalls abgelehnt wurden – als Machenschaften der Optikerketten zum Beispiel.
„Die da war auch schon mal hier“, sagte er und deutete auf eine Frau mit dunklen Haaren. „Aber das Bild ist schon älter, oder?“
„Mindestens siebeneinhalb Jahre alt“, bestätigte Haller.
„Ich wollte nämlich gerade sagen. Dieser Timothy sieht da ja noch richtig nett aus ...“ Dann tippte er mit dem Finger auf die junge Frau, die er zu erkennen glaubte. „Ich bin mir sicher, die da war schon hier.“
Eine der bisher Unidentifizierten!, erkannte Haller gleich. Vielleicht war es die geheimnisvolle Sarah, die in den Kommentaren erwähnt worden war.
„Wo ist das aufgenommen worden? Auf einem Maskenball?“, fragte Ruth. „Sieht ja aus wie venezianischer Karneval oder so was Ähnliches. Ich meine wegen der Pestmaske!“
Haller überlegte kurz. War diese Sarah noch wichtig? Erst hatte alles auf Tornhöven gedeutet, jetzt auf Winkelströter ... Wer konnte schon vorhersagen, welche Wendung dieser Fall noch nehmen würde? Haller folgte seinem Instinkt und der ließ ihn manchmal Dinge tun, die nicht bis ins Letzte logisch erklärbar waren. Alles nachhaken, alles wissen, ein breites Feld bei den Ermittlungen abdecken und sich nicht zu früh festlegen – damit hatte er gute Erfahrungen gemacht.
„Was war mit dieser Dunkelhaarigen?“, fragte Haller also.
„Die saß in einem Wagen“, sagte Jobst Fleischer. „Ich kenne mich mit Fahrzeugen nicht so aus, aber ich denke, es war ein Audi, viertürig, silbergrau.“
Ruth sah ihren Mann mit einem Blick an, als ob sie sich darüber wunderte, wie tief ihr Mann wohl doch klammheimlich ein Opfer des Konsumterrors geworden war. Allerdings enthielt sie sich eines Kommentars dazu. Sie sagte nur: „Also, ich habe die Frau nicht gesehen.“
„Der Wagen stand stundenlang da. Und zwar nicht nur einmal“, berichtete Jobst. „Das wirkte so, als würde die Frau jemanden beobachten oder auf jemanden warten.“
„Und wen? Ich meine, was vermuten Sie?“, hakte Haller nach.
„Keine Ahnung. Ich habe sie dann allerdings mal angesprochen.“
„Davon hast du mir ja noch gar nichts erzählt!“, stellte Ruth erstaunt fest.
„Ich habe es nicht für so wichtig gehalten.“
„Und – wie hat sie reagiert?“
„Sie hat das Seitenfenster heruntergelassen, nachdem ich dagegen geklopft habe. Dann habe ich sie gefragt, ob sie jemanden sucht oder ob ich ihr irgendwie weiterhelfen könnte. Wissen Sie, wir hatten hier in der Gegend auch eine Serie von Einbrüchen. Das ist jedes Mal in der Sommerzeit dasselbe. Viele Leute sind weggefahren und dann denken Einbrecher, sie hätten leichtes Spiel.“
So besitzfixiert?, dachte Haller spöttisch. Das muss wohl der Konsumterror mit ihm gemacht haben. Gut, dass er da frühzeitig ausgestiegen ist!
„Ja und? Was hat sie gesagt?“, fragte Haller.
„Nichts. Sie wirkte allerdings sehr erschrocken. Also, ob mein Erscheinen das ausgelöst hat, weiß ich natürlich nicht.“
„Wo stand der Wagen genau?“
„Kommen Sie!“
Jobst Fleischer stand auf und führte Haller zu einem Fenster, von dem aus man einen hervorragenden Blick auf die Straße hatte. „Sehen Sie den Van dort?“
„Ja, das sind die Kollegen vom Erkennungsdienst.“
„Genau dort stand der Wagen. Ach ja und eins war im Nachhinein sehr merkwürdig.“
„Was?“
„Auf dem Beifahrersitz lag ein Fernglas. Also, wie soll ich mich da jetzt ausdrücken? Nicht so ein gewöhnliches Fernglas, wie man das vielleicht in der Oper benutzt, aber das wäre dann ja auch ein Opernglas ...“
„Sondern?“
„Also, genau genommen sah es aus wie ein Zielfernrohr für ein Gewehr. Mein Schwiegervater ist Jäger, daher kenne ich die. Ja, Ruths Vater pflegt ganz anders mit der Natur umzugehen, als ...“
„Sind Sie sich sicher?“, hakte Haller nach.
„Ja, aber das wird ja wohl nichts zu bedeuten haben. Soweit ich weiß, ist Nadine Schmalstieg doch die Kehle durchgeschnitten worden!“
„Wo haben Sie das denn gehört?“
Er zuckte die Schultern. „Nachbarschaft ...“
„Verstehe. Wie auch immer, ich danke Ihnen für Ihre Auskünfte. Falls Ihnen noch irgendetwas einfallen sollte, melden Sie sich doch bitte hier ...“ Haller gab ihm eine Visitenkarte.
„An sich stehen wir der Polizei ja sehr kritisch gegenüber“, sagte Ruth. „Aber Mord geht ja irgendwie zu weit.“
„Ganz meine Meinung“, meinte Haller. „Ach, die Nummer dieses silbergrauen Fahrzeugs haben Sie sich nicht zufällig notiert?“
Jobst Fleischer schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Ich meine, wir sind ja jetzt auch keine spießbürgerlichen Denunzianten, die jeden Falschparker anzeigen oder so. Da gibt es ja genug von. Die Frau hat zurückgesetzt, ist rückwärts in die nächste Einfahrt gefahren und dann auf und davon Richtung Stadt. Aber es war auf jeden Fall ein hiesiges Kennzeichen, also ST, wenn Sie verstehen was ich meine.“
Haller verstand durchaus.
ST – die Buchstabenkombination des Riesenkreises Steinfurt. Das war wirklich ein Schritt weiter.
*
Wenig später war Haller wieder im Freien. Er ging zu dem Van des Gerichtsmediziners – jener Stelle, an der angeblich der silbergraue Audi gestanden hatte.
Man hatte eine ausgezeichnete Sicht auf die Vorderfront und die Einfahrt von Nadine Schmalstiegs Haus.
Haller blieb einige Augenblicke dort stehen und dachte nach. Gleichgültig, ob die dunkelhaarige Frau nun Sarah hieß oder nicht – das Facebook-Foto bewies, dass sie Nadine Schmalstieg zumindest flüchtig gekannt hatte. Wieso saß sie dann stundenlang vor ihrem Haus, anstatt einfach zu klingeln?
Ob das irgendeine Bedeutung für den Fall hatte, da mochte sich Haller nicht festlegen. Aber immerhin ließ es ihn stutzen. Vielleicht brauchte man diese geheimnisvolle Frau noch als Zeugin, dachte er.
Sein Handy klingelte.
Es war Raaben.
„Die Psychologin ist hier“, sagte er.
„Hat sie schon mit diesem durchgeknallten Elbenkrieger gesprochen?“
„Sie ist dabei. Und Markus hat mir gerade gesagt, du kannst dich jetzt mit mir am Tatort umsehen. Bevor die Leiche weggeschafft wird.“
„In Ordnung. Ich bin gleich da.“