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Siebtes Kapitel: Der Prinz von Samarkand

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Als Li zum ersten Mal die Türme und Kuppeln von Samarkand in der Ferne auftauchen sah, hielt sie einen Moment inne und glaubte im ersten Moment, ein Traumbild zu sehen - ein Trugbild, wie es von den Karawanenführern in der flirrenden Wüstenglut gefürchtet wurde. Die Muezzine riefen von den Minaretten zum Gebet und an den Toren stauten sich Händler und Kameltreiber, die Waren auf die Märkte der Stadt brachten.

Die Karawane war in den letzten Tagen nicht besonders schnell vorwärts gekommen, was vor allem daran lag, dass die Kamele völlig überlastet waren. Schwere Barren hatten sie anstatt leichter Seide zu tragen.

Die Trampeltiere, die Thorkild Larsson Eisenbringer ursprünglich benutzt hatte, um die Stahlbarren aus dem Süden Chorasans fortzubringen, waren ihm an einem Fieber eingegangen, wie Li inzwischen erfahren hatte. Vielleicht waren sie auch einfach nur nicht richtig behandelt worden oder es hatte an fachkundigen Treibern gemangelt. In einem langen Marsch waren Li und die anderen Gefangenen zusammen mit den erbeuteten Kamelen in ein Tal getrieben worden, in dem ein Teil von Thorkilds Männern mit den Barren gewartet hatten. Die wenigen Kamele und Maultiere, die sich bei diesem Lager befunden hatten, wären niemals in der Lage gewesen, auch nur die Hälfte der Barren zu laden und über eine längere Strecke zu tragen.

„Eine Stadt wie diese habe ich noch nie gesehen“, stieß Li hervor.

Meister Wang lächelte. „Du bist nie in Bian gewesen... Aber du hast recht, verglichen mit allem, was uns seit unserer Verschleppung aus Xi Xia begegnete, ist dies ein Ort, der zivilisiert wirkt...“

Samarkand lag auf einer Hochebene, durch die sich der Fluss Serafchan zog.

Sie erreichten das prachtvolle Stadttor. Li fiel auf, dass es mit sehr vielen Wächtern besetzt war und dass auch die Wehrgänge der Mauern sehr stark bemannt waren. Ein Zeichen dafür, dass man sich vor äußeren Feinden fürchtete. Li hatte inzwischen einen feinen Instinkt dafür entwickelt. Ähnliche Zeichen waren ihr auch in den Oasenstädten aufgefallen, durch die sie zuletzt gezogen waren. Konnte es sein, dass die Furcht vor dem Kara Khan sich auch hier noch bemerkbar machte? Es schien so zu sein.

Die Wachen ließen Thorkild und sein Gefolge schließlich passieren, nachdem dieser einen Ring vorgezeigt hatte, der ihm offenbar besondere Privilegien einräumte. Und außerdem wechselten einige Silbermünzen den Besitzer.

In der Stadt herrschte geschäftiges Treiben. Menschen in bunten Gewändern bevölkerten die Straßen und Li kam sich ziemlich schäbig vor in ihrer Kleidung. Grob gewebte Gewänder und Hosen, wie sie die Nomaden trugen, sah man kaum in den Straßen dieser prachtvollen Stadt. Blau schimmerten Kuppeln und Türme.

Die Kamele wurden in einer Karawanserei versorgt und dort lud man auch die Stahlbarren zunächst einmal ab. Was die Nordmänner untereinander redeten, vermochte Li nicht zu verstehen, aber es war ziemlich offensichtlich, dass Thorkild ihnen einschärfte, die Barren nicht aus den Augen zu lassen. Zwischenzeitlich rief Thorkild Li herbei, damit sie für ihn übersetzte. Die Kameltreiber verstanden ihr Uigurisch, während Thorkild sich mit ihnen ansonsten nur sehr unzureichend auf Persisch hätte verständigen können.

Zwei Tage verbrachten sie in der Karawanserei. Von der Stadt, in der angeblich jeden Tag ein Buch geschrieben wurde, hatte Li noch nicht viel gesehen, mal abgesehen davon, dass ihr beim Weg zur Karawanserei aufgefallen war, dass man an jeder Ecke die Dienste eines Schreibers mieten konnte und es in den Straßen und auf den Märkten tatsächlich Händler gab, die Abschriften verschiedener Bücher im Angebot hatten. Ohne, dass Li das im Einzelnen hätte nachprüfen können, nahm sie an, dass es sich dabei wohl vor allem um Abschriften des Koran handelte.

„Und wo sind die Werkstätten der Papiermacher, von denen gesprochen wurde, während wir diese Reise unfreiwilligerweise antraten?“, wandte sie sich an ihren Vater. „Ich sah viele prächtige Gebäude, aber wer sagt, dass das wirklich alles Stätten der Gelehrsamkeit sind, in denen Bücher aufbewahrt werden?“

„Nur Geduld, mein Kind. Wir werden nach und nach sicher mehr erfahren“, behielt Meister Wang wie üblich die Ruhe.

Es schien keine Schicksalsschlag zu geben, der heftig genug war, um ihn aus seinem inneren Gleichgewicht bringen zu können und in dieser Hinsicht konnte Li immer nur wieder ein Vorbild in ihm sehen. „Jetzt sitzen wir hier in einem Kamelstall und sehen diesen großäugigen Trampeltieren dabei zu, wie sie auf ihren Mahlzeiten herumkauen und dabei die Hälfte aus dem Maul verlieren!“ Li ahmte den Gesichtsausdruck von einem der Tiere nach, das daraufhin einen Moment lang innehielt und ihr entgegenstarrte.

„Das geziemt sich nicht“, sagte Meister Wang.

„Wir könnten ja versuchen uns einfach davon zumachen!“, schlug Gao vor, der sich unter Meister Wangs strengen Augen ein Grinsen nur schwer verkneifen konnte.

„Das würde ich nicht empfehlen“, widersprach Meister Wang. „Dieser Mann, den man den Eisenbringer nennt, scheint in Samarkand hervorragende Beziehungen zu haben. Davon abgesehen hätten uns seine Männer innerhalb kürzester Zeit wieder eingefangen und dann wären wir schlimmer dran als jetzt. Nein, wir sollten darauf vertrauen, dass sich die Dinge zu unseren Gunsten wenden.“

Li wandte sich an Bruder Anastasius. Inwiefern er etwas von der Unterhaltung der drei Papiermacher mitbekommen hatte, vermochte Li schwer abzuschätzen. Sie wusste mit Sicherheit, dass er Latein, Griechisch und Persisch sprach und wohl auch ein paar Brocken in den uigurischen und türkischen Dialekten. Aber ob er auch die Sprache des Han-Volkes verstand oder zumindest ein paar Wörter kannte, hatte sie nicht herausfinden können und entsprechenden Fragen war Bruder Anastasius bisher auch stets ausgewichen. Fast schien es so, als gefiel es ihm, sie darüber im Unklaren zu lassen, sodass sie nie wusste, ob sie sich unbelauscht mit Gao und ihrem Vater unterhalten konnte oder nicht. Andererseits, wenn er tatsächlich so weit in den Osten gelangt war, wie er behauptet hatte, dann war es äußerst unwahrscheinlich, dass er kein einziges Wort der Han-Sprache dabei aufgeschnappt hatte.

Mochte er auch ein noch so heiliger Mann sein. Auch er musste essen und brauchte in der Nacht eine Unterkunft – und darüber immer nur mit Händen und Füßen zu verhandeln, war auf die Dauer gewiss etwas kompliziert.

„Wohin wird Euch Euer Weg führen?“, fragte sie. „Wisst Ihr das schon?“

„Thorkild wird mich zumindest bis Buchara mitnehmen. Und dort werde ich mit Sicherheit jemanden finden, der mich in Richtung Konstantinopel mitnimmt. Sich allein auf den Weg zu machen, dürfte allerdings wohl kaum empfehlenswert sein. Und ich kann nur hoffen, dass der Eisenbringer sich bald auf den Weg macht...“

„Warum?“

„Weil der Weg über Buchara vielleicht schon bald nicht mehr sicher ist. Die Krieger des Kara Khan haben die Stadt schließlich schon einmal erobert und man munkelt, dass sie einen erneuten Versuch unternehmen könnten. Der Emir zieht überall Truppen zusammen.“

„Das klingt nicht gut“, sagte Li. „Und wenn Ihr nicht mehr hier seid, werden mir Eure Lektionen in Griechisch und Latein fehlen.“

„Du solltest nicht damit aufhören, die Wörter zu wiederholen, die ich dir beigebracht habe“, meinte Bruder Anastasius. „Du weißt nicht, wann du dieses eines Tages mal brauchen kannst – und zumindest griechisch sprechende Menschen verirren sich doch auch ab und zu hier her, nach Samarkand...“

„Wer weiß, eines Tages begegnen wir uns vielleicht in Konstantinopel und dann könnt Ihr sehen, wie viel ich von Eurem Unterricht behalten habe“, entgegnete Li.

„So, wie du das sagst, klingt es fast, als würde es sich tatsächlich erfüllen“, lächelte Bruder Anastasius.

„Ich habe es mir fest vorgenommen, das Zentrum des Reiches der Mitte im Westen zu besuchen, wenn ich ihm schon einmal so nahe gekommen bin!“

„Nahe?“ Der Mönch hob die Augenbrauen. „Der Weg bis Konstantinopel ist immer noch unvorstellbar weit – ein Weg, so weit, wie ihn nur ganz wenige Menschen in ihrem ganzen Leben gehen.“

––––––––



Am dritten Tag, nach ihrer Ankunft in Samarkand, kamen bewaffnete Männer, die sich als Angehörige der Leibwache des Statthalters ausgaben, und forderten Li, Meister Wang und Gao auf, ihnen zu folgen. Weitergehende Erklärungen gaben sie nicht. Die Nordmänner, die bei der Karawanserei geblieben waren, um die Barren und die Gefangenen zu bewachen, schienen eingeweiht zu ein, aber mit ihnen war eine Verständigung unmöglich. Thorkild Larsson Eisenbringer selbst hatte Li seit ihrer Ankunft in Samarkand kaum noch gesehen. Bruder Anastasius wusste offenbar mehr.

„Er führt vermutlich Gespräche mit seinen einflussreichen Freunden hier in Samarkand“, meinte er. „Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob der Eisenbringer da nicht etwas übertreibt.“

Die Bewaffneten nahmen die drei Papiermacher in ihre Mitte und führten sie einmal quer durch die Stadt. Die Menschen wichen vor ihnen aus. Die Bewohner schienen sie zu fürchten und bildeten bereitwillig eine Gasse, sobald sie sie bemerkten.

Scheue, verwunderte Blicke wurden den drei Angehörigen des Han-Volkes zugeworfen.

„Wohin führt Ihr uns?“, fragte Li zum wiederholten Mal in dem besten Persisch, das sie zustande bringen konnte. Bisher waren die Wächter stumm. Li hatte schon den Verdacht, dass es sich vielleicht um Söldner handelte, die selbst nicht viel Persisch sprachen.

Aber nun erbarmte sich einer von ihnen und löste die quälende Ungewissheit auf.

„Es geht zum Badehaus!“, sagte er.

Das Badehaus, das die Wächter meinten, schien Li ein Teil des Palastes zu sein. Dort angekommen wurde Li von ihrem Vater und Gao getrennt. Mehrere Frauen nahmen Li in Empfang und begannen damit, ihre zerlumpten und inzwischen vor Dreck starrenden Sachen auszuziehen. Anschließend wurde sie gebadet. Der Duft kostbarer Öle erfüllte den Raum. Li dachte an Jasmin, mit dem man sich auch in Xi Xia zu baden pflegte. Sie genoss das warme Wasser, in das sie ihren schlanken Körper tauchte. Die Tropfen perlten ihr über die Haut. Li seufzte leise. All die Strapazen der letzten Wochen fielen für einen Moment von ihr ab.

Zwei Frauen näherten sich dem Bad mit einem Krug. Sie begannen Lis blauschwarze Haare mit einer Essenz zu waschen, die angenehm roch. All dies ließ Li bereitwillig mit sich geschehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so wohl gefühlt hatte.

Nach dem Bad lagen Gewänder aus fließenden Stoffen für sie bereit. Eine Frau mit freundlichen Augen kümmerte sich um ihre Haare, die nun sauber, aber inzwischen ziemlich verfilzt waren. Oft genug war es während der langen Reise, die sie hinter sich hatte, nur möglich gewesen, sich notdürftig um ihre blauschwarzen, langen Haare zu kümmern. Aber die Frau mit den freundlichen Augen schien einiges davon zu verstehen. Am Ende war ihr Haar glattgekämmt und zu einem Zopf zusammengefasst.

Dann gab man ihr ein Tuch aus einem dunkelblauen, leichten Stoff, der zwar fließend war, aber von seiner Qualität noch weit von der Festigkeit von Seide entfernt. Li verstand im ersten Moment nicht, wozu dieses Tuch diente.

„Es gilt hier als unschicklich für eine Frau, ihr Haar offen zu zeigen“, sagte die Frau mit den freundlichen Augen. Sie sprach sehr langsam und auffällig deutlich akzentuiert. Offenbar glaubte sie, dass Li sie so besser verstehen konnte. „Dieses Tuch dient dazu, dein Haar zu verhüllen. Wenn man dich und die beiden anderen Papiermacher vor Prinz Ismail bringt, dann soll dabei sein Verstand nicht durch das unziemliche Auftreten einer Heidin verwirrt werden.“

„Wer ist dieser Prinz Ismail?“, fragte Li.

„Ein Neffe des Emirs von Buchara.“

„Ist das der Herrscher aus dem Geschlecht der Samaniden?“

„So ist es.“

„Ich habe von der Macht dieses Herrschergeschlechts gehört.“

„Es herrscht über die Länder Chorasan, Mawarannahr und Ferghana...“

„Ich habe gehört, dass der Emir seine Hauptstadt Buchara an den Schwarzen Herrscher verlor...“

„Das ist schon ein paar Jahre her – und Prinz Ismail gewann Buchara für seinen Onkel und sein Geschlecht zurück.“

„Wurde er deswegen mit der Würde eines Statthalters von Samarkand belohnt?“

„Deine Sprache ist barbarisch und doch scheust du dich nicht viele Fragen zu stellen, so als wolltest du alles an einem einzigen Tag erfahren.“

„Was ist falsch daran?“

„Es ist falsch daran, dass du die meisten dieser Dinge nicht zu wissen brauchst, denn du bist aus einem einzigen Grund her: Weil du eine Kunst verstehst, die in diesem Land sehr geschätzt wird und auf die sich anscheinend nur Menschen mit schmalen Augen und gelber Haut wirklich gut zu verstehen scheinen.“

„Unter meinen Sachen war ein Sieb aus Rosshaar, das mit dieser Kunst zu tun hat...“

Die Frau mit den freundlichen Augen rief eine der anderen Frauen des Badehauses herbei. Die Worte, die bei diesem überraschend barschen Ruf benutzt wurden, verstand Li nur zum Teil. Im nächsten Moment wurde Li das Sieb aus Rosshaar zurückgegeben.

„Was deine anderen Sachen angeht, so wird man sie am besten zu dem verarbeiten, was du herzustellen vermagst: Papier!“, meinte die Frau mit den freundlichen Augen dann und lächelte.

––––––––



Meister Wang und Gao waren ebenfalls gebadet worden und hatten frische Kleidung bekommen. Helle Gewänder und Umhänge, die von einem Gürtel zusammengehalten wurden und offenbar als vornehm genug angesehen wurden, um damit dem Statthalter von Samarkand gegenübertreten zu können.

Warum drei einfachen Papiermachern eine solche Ehre zuteil werden sollte, hatte Li noch nicht richtig verstanden und sie fragte sich, ob das vielleicht daran lag, dass sie einfach nur nicht in der Lage gewesen war, alles von dem, was die Frau mit den freundlichen Augen ihr berichtet hatte, richtig zu verstehen.

Oder hatte es vielleicht mit den besonderen Beziehungen zu tun, die der Nordmann Thorkild Eisenbringer zum Hof des Statthalters zu pflegen schien und dass ihnen deshalb diese bevorzugte Behandlung zuteil wurde?

Jedenfalls konnte es sich Li nicht vorstellen, dass in einer Stadt, in der angeblich jeden Tag ein Buch geschrieben wurde und in der es eigentlich von Gelehrten nur so wimmeln musste, die Kunst eines Papiermachers etwas so Besonderes und Außergewöhnliches sein konnte, dass allein dadurch schon ein solcher Empfang gerechtfertigt war.

Meister Wang schien die Verwunderung seiner Tochter zu teilen. „Ich frage mich, welche Wunderdinge man hier von uns erwartet“, raunte er Li zu. „Vielleicht sollen wir ein Papier erschaffen, das sich von allein beschriftet oder derlei unmögliche Dinge!“

„Man spricht immer davon, dass die Menschen des Westens sehr auf die Macht der Magie vertrauen“, gab Li zurück.

Meister Wang zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich nicht mehr als andernorts auch“, meinte er. „Hauptsache, man vertraut nicht unserer Magie, denn auch wenn das, was wir tun, manchen wie Magie vorkommen mag, so hat unsere Kunst doch rein gar nichts mit der eines Magiers gemein!“

Auch ihrem Vater und Gao hatte man die Siebe gelassen. Li sah darin ein Zeichen der Hoffnung, denn es bedeutete schließlich, dass die Kunst des Papiermachens offenbar bekannt genug in Samarkand war, dass auch die Bediensteten eines Badehauses es gleich als Werkzeug eines Papiermachers erkannten.

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Wächter führten Li, Meister Wang und Gao in den eigentlichen Palast, dessen Pracht sie sprachlos werden ließ. Die kunstvollen Mosaiken mussten von großen Künstlern geschaffen worden sein, die ihr Handwerk in wahrhafter Perfektion ausgeübt hatten. Formen, die an die fließenden Schriftzeichen des Koran erinnerten, waren darunter zu sehen und manchmal war sich Li nicht sicher, ob es nicht tatsächlich auch arabische Schriftzeichen waren, die in kunstvollen Ligaturen erhabene Worte in persischer oder arabischer Sprache festhielten. Ein Grund mehr, auch diese Zeichen noch zu lernen, ging es Li durch den Kopf.

Neben diesen Schriftzeichen ähnelnden Ornamenten herrschten vor allem Muster vor, die ihr gut gefielen, denn sie vermittelten etwas von jener Harmonie der Dinge, wie sie selbst hinter scheinbar widerstreitenden Kräften eigentlich stand, auch wenn es manchmal schwer war, dies zu erkennen. Diese Muster schienen Li ein Sinnbild dafür zu sein, dass die Welt im Innersten geordnet war. Auch wenn diese Wahrheit manchmal von dem Eindruck überlagert wurde, die Welt wäre ein Ort des undurchschaubaren Chaos und das Leben nur eine Abfolge unvorhersehbarer, plötzlich auftretender Ereignisse.

„Ich habe doch gesagt, dass sich alles zum Gute wenden wird“, sagte Meister Wang.

„Warten wir ab, ob es uns wirklich zum Guten gereicht, was hier auf uns wartet“, murmelte hingegen Gao zweifelnd vor sich hin.

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Prinz Ismail war ein Mann von schlanker Gestalt und einem scharf konturierten Gesicht. Der dunkle Oberlippenbart und das spitze Kinn unterstrichen die markanten Linien. Das Haupthaar war grau durchwirkt. Dunkle Augen unterzogen die drei Papiermacher einer kurzen, aber sehr intensiven Musterung.

Er trug ein einfaches weißes Gewand, das bis zum Boden reichte. Weiß, wie das Gewand eines Pilgers, der sich auf die Reise zu den heiligen Stätten im fernen Mekka gemacht hatte. Einzig die kostbare Gürtelschnalle und der juwelenbesetzte Griff des Zierdolches wiesen auf seinen Rang hin. In seinem Gefolge befand sich neben einem Leibdiener und mehreren Wächtern auch ein Hofbeamter mit einem Burnus auf dem Kopf und einer bunten Schärpe um die Schultern. Auch Thorkild Eisenbringer war anwesend. Im Gegensatz zu seinem sonstigen Auftreten war er allerdings unbewaffnet. Vermutlich duldete Prinz Ismail in seiner unmittelbaren Umgebung keine Bewaffnung, außer bei seinen Wächtern, um sich vor Attentaten zu schützen.

Meister Wang fiel vor dem Prinzen auf die Knie. Gao und Li folgten seinem Beispiel. Schließlich machte Prinz Ismail ein Zeichen, das ihnen gestattete, den Blick zu heben.

„Ich habe gehört, dass ihr unsere Sprache sprecht“, sagte der Statthalter von Samarkand.

„Wir bemühen uns um die richtigen Worte“, erwiderte Meister Wang.

„Ich hoffe, dass euer Handwerk gut ist, denn dann werdet ihr hier euer Auskommen haben. Ich selbst bin ein großer Freund des Glaubens und der Gelehrsamkeit und beide können den Unglauben und die Unwissenheit nur mit Hilfe von Büchern besiegen. Das ist der eigentliche Kampf, dem sich jeder Gläubige verschreiben sollte, die große Anstrengung, die von den Gelehrten auch der Djihad genannt wird. Und das Werkzeug dazu kann nicht nur das Schwert sein, sondern vor allem das Buch und die Schrift. Denn das Schwert trifft das Herz und tötet, aber die Schrift trifft das Herz und inspiriert mit Weisheit...“ Einige Augenblicke schwieg Prinz Ismail. Seine Sprache war gleichzeitig von großer Klarheit und Einfachheit. „Unglücklicherweise können wir auf das Schwert nicht zu Gunsten des Buchs verzichten, aber vielleicht wird das eines Tages der Fall sein, wenn sich die Einsicht und der Geist überall ausgebreitet haben und ein Kampf nur noch ein Kampf um die Wahrheit der Worte ist, wenn die Schärfe des Arguments die Schärfe der Klingen ersetzt. Aber bis dahin bedarf es vieler weiser Bücher, die auf Papier geschrieben werden. Papier, das die Weisheit Allahs trägt und doch von Heiden aus dem Bottich geschöpft wird. So kann aus Dummheit und Ahnungslosigkeit doch Weisheit geschaffen werden. Allah wird wird wissen, warum.“

„Herr, ich bin ein Meister meines Handwerks, und meinem Gesellen und meiner Tochter habe ich diese Kunst auf dieselbe Weise gelehrt, wie ich sie verstehe.“

„Das ist gut“, nickte der Statthalter. „Ich habe euch gesagt, dass ihr euer Auskommen haben werdet – aber ihr seid nicht frei. Ihr dürft euch innerhalb der Mauern von Samarkand frei bewegen und ihr dürft alle Geschäfte tätigen, die zur Ausübung eures Handwerks vonnöten sind. Ansonsten wird man euch alles zur Verfügung stellen, was ihr benötigt, um euer Handwerk auszuüben. All das wird man euch als Schuld gegen mich anrechnen, die ihr mit eurer unermüdlichen Arbeitskraft bezahlen werdet.“

„So sei es, Herr“, gab Meister Wang zurück.

Was wäre ihm auch anderes übrig geblieben.

Li verstand sehr wohl, was die Worte des Statthalters bedeuteten. Sie waren etwas Ähnliches wie Schuldsklaven. Leibeigene, die wohl kaum je die Möglichkeit hatten, diese Schuld zu begleichen.

„Mein Hofschreiber wird darüber ein Schriftstück erstellen, sodass alles seine Rechtmäßigkeit hat“, sagte Prinz Ismail schließlich. „Wenn ihr euch entschließt, dem wahren Glauben beizutreten und bezeugt, dass es nur einen Gott gibt und Mohammed sein Prophet ist, wird euch ein Drittel eurer Schuld erlassen.“

„Eure Großzügigkeit kennt keine Grenzen“, sagte Meister Wang.

Ismail wandte sich an den Schreiber, bei dem es sich wohl um den etwas geckenhaft wirkenden Hofbeamten mit Burnus und Schärpe handelte. „Du hast meine Worte gehört.“

„Ja, Herr.“

„Und zahl dem Nordmann seinen Anteil in Silber aus, wie er es gewünscht hat. Aber behaltet eine Hälfte des Betrages ein, bis wir gesehen haben, ob das Talent der Papiermacher dem entspricht, was er uns versprochen hat.“

„Sehr wohl, Herr.“

Der Statthalter machte seinen Wächtern ein Zeichen, woraufhin er mit ihnen zusammen den Raum verließ.

Nur zwei Bewaffnete blieben zusammen mit dem Hofbeamten und Thorkild Eisenbringer zurück.

Dessen Gesicht war deutlich anzusehen, wie wenig ihm die letzten Worte des Statthalters zugesagt hatten. Vielleicht befürchtete er, dass Samarkand bereits ein Raub des Kara Khan geworden war, bevor er den vollen Erlös für seine Beute einstreichen konnte? Oder hatte er, was das Talent seiner Gefangenen anging, vielleicht so sehr übertrieben, dass er sich nicht sicher sein konnte, ob sie diese Erwartungen auch erfüllen konnten? Jedenfalls war Li immer wieder überrascht darüber, wie ungeschminkt und offen die Menschen des Westens ihre innersten Regungen nach außen dringen ließen. Ihre Gesichter waren Spiegelbilder ihrer Seele. Dabei legten sie weder darauf Rücksicht, dass es vielleicht in ihrem eigenen Interesse liegen konnte, die Regungen ihrer Seele stärker zu verbergen, noch kümmerte sie das Erschrecken derer, die dem Anblick ihrer fassungslosen Gesichter schutzlos ausgeliefert waren, da es ihnen die Höflichkeit verbot, in aller Deutlichkeit den Blick abzuwenden.

Der Hofbeamte trat an ein Stehpult, an dem Papier und Feder verfügbar waren. Das Papier war Li bereits aufgefallen. Es war von mittlerer, gerade noch annehmbarer Qualität, wenn man einmal davon absah, dass die Farbgebung nicht die nötige Gleichmäßigkeit hatte.

Noch während er schrieb, sprach er Thorkild auf Griechisch an. Er schien offenbar nicht anzunehmen, dass unter den Papiermachern aus dem fernen Osten jemand war, der diese Sprache zu verstehen vermochte und er sich daher mit dem Nordmann vollkommen ungestört unterhalten konnte, mit dem er im Übrigen sehr vertraut zu sein schien.

„Es gefällt anscheinend nicht allen, dass jeder Barren Stahl, der in die kalten Heidenländer des Nordens gebracht wird, durch deine Hände geht, Eisenbringer“, sagte der Beamte, während der Blick seiner grauen Augen auf das Schriftstück gerichtet war, das er gerade ausstellte.

„Wie meint Ihr das?“, fragte Thorkild.

„Du weißt, dass ich gute Ohren habe, Thorkild und das man mir vieles berichtet, was selbst der Statthalter oder der Emir nicht weiß...“

„Und was ist Euch in diesem Fall zu Ohren gekommen?“

„Ein Mann aus dem fernen Land der Sachsen ist hier unterwegs. Seine Name ist Arnulf, wobei ich glaube, dass deine Barbarenzunge diesen Namen besser auszusprechen vermöge als ich.“

„Arnulf...“, murmelte Thorkild und wenn er dieses Wort über die Lippen brachte, klang der Name des fremden Ritters wie ein düsterer Fluch. „Schickt ihn der Kaiser aus Saxland?“

„So muss es wohl sein. Aber in der Geographie und der Politik der Ungläubigen des Nordens kennst du dich besser aus. Schließlich bist einer von ihnen!“

Thorkild Eisenbringer stieß ein paar düstere Verwünschungen in der Sprache der Nordmänner aus. „Lasst diesen Mann für mich töten, wenn er in Samarkand auftauchen sollte“, verlangte Thorkild.

„Du überschätzt meine Möglichkeiten, Eisenbringer!“

„Ihr wollt mir ernsthaft erzählen, dass man in Samarkand niemanden finden könnte, der diesen Mann zur Strecke bringen könnte, sobald er die Stadt erreicht hat?“

„Auf jeden Fall kann ich dir einen Boten schicken. Dann kannst du das selbst erledigen, Eisenbringer.“ Der Hofschreiber des Statthalters blickte auf und lächelte. „Niemand wird etwas dagegen haben, wenn die Ungläubigen untereinander dafür sorgen, dass sich ihre Anzahl verringert.“

Dann blickte er in Lis Richtung, die vielleicht etwas zu aufmerksam zu ihm hinübergesehen hatte. Dann sagte er auf Persisch: „Was siehst du mich so an? Fast könnte man meinen, dass du Griechisch verstehst, Papiermacherin.“

„Ich habe die Qualität Eures Papiers betrachtet“, erklärte Li in aller Ruhe, denn sie war sicher, dass Thorkild nichts darüber verraten würde, dass sie Griechisch sprach.

„Und?“, fragte der Hofschreiber des Statthalters und hob dabei die dunklen Augenbrauen. „Wie beurteilst du diese?“

Li hob den Blick. In ihrem Gesicht stand ein undurchdringliches Lächeln. „Ich werde alles dafür tun, dass Ihr auf so schlechtem Papier in Zukunft nicht mehr zu schreiben braucht, Herr!“, erklärte sie.


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