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Eine Stunde später saß ich im Präsidium.

"Dann wollen wir mal das Protokoll aufnehmen", meinte der bebrillte Endfünfziger auf der anderen Seite des Schreibtisches, der sich mir mit Müller-Sowieso vorgestellt hatte. Die zweite Hälfte des Namens hatte ich zwar verstanden, aber sogleich wieder vergessen. Einzig der Müller war mir im Gedächtnis haften geblieben. Reichte ja auch völlig.

"Herr Rehfeld möchte gleich noch mit Ihnen reden, aber wir können ja schon einmal anfangen!"

Ich deutete auf die uralte mechanische Schreibmaschine, die er sich bereitgestellt hatte und in die er nun umständlich ein Blatt einspannte − nicht ohne sich dabei die Finger am Farbband zu schwärzen. Seine Fingerabdrücke würden am Ende wohl das Protokoll mit meiner Aussage zieren.

"Mit dieser alten Schraxe?", fragte ich.

"So etwas nennt man Schreibmaschine!"

"Was Sie nicht sagen!"

"Ja, denken Sie mal an!"

"Meines Wissens gibt es inzwischen schon Moderneres!"

"Ja, aber bis das technische Zeitalter bei der Polizei Einzug hält, wird's wohl noch ein paar Jahrhunderte dauern! Wir haben hier für zwanzig Mann drei Diktiergeräte!"

"Und der PC da vorne?"

Er grinste. "Das Programm zur Protokoll-Erstellung hakt, und der System-Administrator hat Urlaub."

Ich grinste auch. "Schon doof."

"Tja."

"Wie wär's damit, die alte Kiste auf den Schrott zu werfen und was Neues zu kaufen?"

"Unser Etat für innere Modernisierung ist auf Jahre ausgeschöpft."

Jetzt tat er mir fast Leid. "Vielleicht sollten Sie und Ihre Leute mal ein bisschen öfter in die Spielzimmer Ihrer Kids schauen. Ich schätze, da werden Sie alles finden, was Sie brauchen!"

"Kann schon sein. Aber wir müssen so viele Überstunden machen, dass wir kaum dazu kommen, einen Blick in irgendwelche Spielzimmer zu werfen!"

Da war er also! Des Pudels Kern, der bei jedem Missstand als Argumente-Knüppel aus dem Sack geholt wurde! Die personelle Unterbesetzung, die vielen Überstunden! Zum fünfhundertsten Mal mussten sie für alles herhalten, was nicht stimmte.

Es dauerte schier endlos, bis meine Aussage endlich auf dem Papier war, denn Müller-Sowieso beherrschte sein Zwei-Finger-Suchsystem nicht besonders gut.

Ich bot ihm an, selbst in die Tasten zu hauen. Schließlich hatte ich meine ersten Romane auf einer Maschine getippt, die noch schlechter war als die, die da jetzt zwischen uns auf dem Schreibtisch stand.

Aber das lehnte er ab. Warum, das sagte er mir nicht. Vermutlich ging es ihm gegen die Ehre. Zu dumm, dass mich sein Stolz so viel Zeit kostete. Zeit genug, um ein paar Seiten an den ›Gnadenlosen Wölfen‹ herunterzureißen. Im Kopf rechnete ich den Verlust aus.

Ich sollte Müller-Sowieso auch auf Schadensersatz verklagen!, dachte ich. Ihn und den toten Lammers - posthum sozusagen - und vielleicht auch noch die unbekannte Schöne mit den grüngrauen Augen und noch ein paar andere Leute, die mir in letzter Zeit auf die Nerven gegangen waren oder mich sonstwie von meiner Arbeit abgelenkt hatten!

Leider würde sich meine Rechtsschutzversicherung wohl weigern, solche Fälle zu übernehmen!

Stück um Stück kamen wir vorwärts, und endlich konnte ich dann meine drei Kreuze unter das Schriftstück setzen.

Müller-Sowieso seufzte erleichtert. Ich seufzte auch.

Und dann kam Rehfeld. Müller-Sowieso verzog sich und nahm die Schreibmaschine mit, während Rehfeld seinen Mantel auszog und an einen Haken hängte. Dann setzte er sich dorthin, wo zuvor Müller-Sowieso gesessen hatte.

Die Hydraulik des Bürostuhls gab einen seltsamen Laut von sich, als er niederplumpste.

"Sie war also bei Ihnen, Herr Hellmer."

"Richtig. Das habe ich Ihnen ja am Telefon gesagt."

"Sie hat sich nicht zufällig vorgestellt und Ihnen ihre Adresse gegeben?"

"Nein."

"Zu schade!"

"Sie war nicht sehr gesprächig! Und sie wollte sich partout nicht mit Ihnen unterhalten!"

Rehfeld lachte heiser und kehlig, wobei sein Doppelkinn vibrierte. "Wird wohl einen Grund dafür haben, die Dame ..."

Und dann zog er ein Foto hervor und legte es mir unter die Nase. Ich sah kurz hin. Dort war ein junges Mädchen zu sehen mit Punk-Frisur und einer Sicherheitsnadel im linken Ohrläppchen. Das Gesicht war zu einer Fratze verzogen.

"Wer soll das sein?"

"Schauen Sie mal genau hin! Könnte das nicht die Frau sein?"

"Die, die mir begegnet ist, war besser angezogen! Und auch älter."

"Das Foto ist acht Jahre alt!"

Ich nahm das Bild mit zwei Fingern und sah es mir noch einmal an. Und dann sah ich es auch. Ja, sie war es. Ein paar Jahre jünger und furchtbar zurechtgemacht, aber sie war es, da konnte es nicht den Hauch eines Zweifels geben. Ich weiß nicht, was es war, das mich so sicher machte. Vielleicht ihre Augen. Die hatten sich nicht verändert, nicht ein bisschen. Ein Gesicht kann man schminken, Haare können gefärbt, gerollt, gewickelt oder sonstwas werden.

Aber Augen?

Ich nickte also. "Sie ist es."

"Gott sei Dank", seufzte Rehfeld.

"Warum?"

"Weil wir dann wenigstens etwas haben."

"Wer ist sie?"

"Sie heißt Annette Friedrichs und hat ein ziemlich trauriges Leben hinter sich. Erziehungsheim, Ausbruch, Ladendiebstahl, ein anderes Erziehungsheim, Motoraddiebstahl, Einbruch, Prostitution und so weiter und so fort. Dieses Foto wurde gemacht, als sie gerade angefangen hatte, mit Koks zu dealen."

"War sie süchtig?"

"Es würde mich wundern, wenn es anders wäre!"

"Wie haben Sie sie so schnell ausfindig machen können?"

"Ihre Telefonnummer stand in Jürgen Lammers Adressbuch."

"Dann wissen Sie doch sicher auch, wo sie wohnt."

"Nur, wo sie gemeldet ist."

"Verstehe ich nicht."

"Wir haben ihrer Wohnung einen Besuch abgestattet."

"Und?"

"Sie war nicht da. Die Post von Wochen stapelte sich im Briefkasten."

"Merkwürdig ..."

"Ja, nicht?"

Ich legte das Foto wieder auf den Tisch. "Kaum zu glauben, dass das dieselbe Frau ist. Sie scheint Karriere gemacht zu haben. Ihr Outfit war nicht von schlechten Eltern."

Rehfeld zog sich den dicken Windsorknoten an seiner Gurgel zurecht.

"Fragt sich nur, womit sie Karriere gemacht hat. Gelernt hat sie nämlich nichts. Und sie hat auch weder zum Einbrecher noch zum Koks-Dealer viel Talent bewiesen! Schließlich ist sie bei beidem erwischt worden."

"Wer weiß, vielleicht hat sie ja dazugelernt."

"Glaube ich nicht."

"Dann hat sie wohl noch andere Talente."

"Was meinen Sie damit?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Sie sieht gut aus. Sie wird sich jemanden angelacht haben, dessen Brieftasche dick genug war, um sie auszuhalten."

Damit stand allerdings wohl fest, dass es sich bei diesem Jemand auf keinen Fall um einen Schreiber von Heftromanen handeln konnte!

"Wenn sie sich bei Ihnen meldet ..."

Ich runzelte die Stirn. "Weshalb sollte sie das?", fiel ich dem dicken Rehfeld ins Wort.

"Was weiß ich? Sie ist einmal in Ihrer Wohnung gewesen. Vielleicht laufen Sie ihr ja noch mal über den Weg."

"Was soll ich dann tun? Ihr Ihre freundliche Einladung überbringen? Das habe ich bereits einmal versucht. Ohne viel Erfolg."

Ich erhob mich.

Irgendwie verstand ich Rehfelds Dilemma. Er konnte schließlich nicht die Betten sämtlicher vermögenderer Herren im Umkreis von 20 Kilometern durchsuchen.

"Was hat diese Annette eigentlich mit Lammers zu tun?", fragte ich.

Rehfeld zuckte mit den Schultern. "Nichts. Außer, dass sie in seinem Adressbuch stand."

"Vielleicht war Lammers ja derjenige, der sie aushielt."

Diese Vermutung klang ziemlich behämmert, aber jetzt war sie einmal ausgesprochen und ließ sich nicht wieder rückgängig machen.

Lammers schien mir nicht zu jenen zu gehören, die finanziell in der Lage waren, sich eine Geliebte zu halten, mit Exklusivrechten, sozusagen.

Wenn er vermögend gewesen wäre, hätte er sicherlich eine andere Wohnung gehabt.

Nein, zu jemandem wie Lammers passte es eher, sich zweimal im Jahr einen Besuch im Eros-Center zu leisten. Und wahrscheinlich musste er da schon fleißig drauf sparen!

Aber genau in dem Punkt irrte ich mich, wie sich herausstellen sollte.

"Seltsam, dass Sie das sagen", meinte Rehfeld und stand jetzt ebenfalls auf.

Der Unterton, in dem er das gesagt hatte, gefiel mir nicht. Es war der Pass-nur-auf-ich-krieg-dich-schon-Ton, den die Fernsehkommissare immer dann an sich hatten, wenn sie sich ganz sicher waren, dass ihr Gegenüber Dreck am Stecken hatte.

Rehfeld kam zu mir herüber, blies sich auf wie ein Heißluftballon und streckte mir dabei seine stramme Wampe entgegen. "Mir scheint, Sie wissen mehr, als Sie mir weismachen wollen!"

"Ich habe Ihnen alles gesagt."

"So?"

"Ja!"

"Wie kommen Sie dann darauf, dass sich Lammers eine Geliebte leisten konnte? Er ist arbeitslos und lebt von der Sozialhilfe. Wie sind Sie darauf gekommen, dass er trotzdem genug Geld hatte, um ..."

Ich hob die Schultern und machte ein Gesicht, das möglichst unschuldig wirken sollte. "Es war einfach nur ein Gedanke!"

"Allerdings einer, der genau ins Schwarze trifft!"

"Ich verstehe nur Bahnhof!"

"Lammers verfügte über ein Nummernkonto in der Schweiz. Schon merkwürdig, nicht? Aber, dass Sie davon wussten, Hellmer, das ist noch merkwürdiger!"

Jetzt schlug es aber dreizehn! Eine ganze Sekunde brauchte ich, um diesen Verbalschlag zu verdauen. "Ich wusste nichts davon!", behauptete ich und fand mich selbst nicht so recht überzeugend dabei.

Rehfeld rollte genervt mit den Augen. "Ach, kommen Sie, Hellmer, Sie haben sich verplappert!"

Ich lächelte dünn. "Irgendwie scheinen Sie was gegen mich zu haben. Mögen Sie keine Western-Romane?"

Rehfeld grinste schief. "Nein, mag ich nicht. Ist das ein Fehler?"

"Das ist eine Sache des Standpunktes!"

"Ich weiß, dass der Trend zum Zweitbuch geht, aber man muss ja nicht jede Mode mitmachen, oder?" Rehfeld machte eine hilflose Geste und ging dann ein paar Schritte auf und ab.

Schließlich wirbelte er wieder zu mir herum und hielt mir beschwörend seinen dicken, fleischigen Zeigefinger unter die Nase.

Mir fiel auf, dass er abgekaute Nägel hatte. Aber womit sollte er sich auch in seinen vielen Überstunden beschäftigen, die er hier, zwischen seinen Akten verbrachte, der Arme!

"Ich habe mich bei den anderen Hausbewohnern über Sie erkundigt, Hellmer!"

"Herr Hellmer für Sie. Soviel Zeit muss sein!"

"Sie hatten noch am Tag vor Lammers Tod einen heftigen Streit im Treppenhaus mit ihm, Herr Hellmer. Nicht wahr? Einen Streit, der so laut war, dass man ihn ..."

"... bei Meyers noch hören konnte, obwohl sie Fernseher und Stereoanlage gleichzeitig eingeschaltet hatten!", schnitt ich ihm das Wort ab.

Er nickte. "So ähnlich, ja."

"Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?", fragte ich.

"Ich glaube, dass Sie uns einiges verschweigen, Herr Hellmer."

"Und was zum Beispiel?"

"Ich hätte zum Beispiel gerne gewusst, worum es bei Ihrem Streit am Tag vor dem Mord ging."

"Haben Ihnen das die Meyers nicht gesagt?"

"Ich möchte es von Ihnen hören."

"So gute Ohren haben die beiden dann wohl doch nicht, was?"

"Also ..."

"Es ging um den kaputten Föhn von Lammers. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm einen Neuen kaufen würde. Das wäre für mich am Ende billiger, als wenn er mit seinem alten Ding laufend Stromausfälle provoziert."

"Ich glaube, es ging um etwas Wichtigeres."

Ich zog die Augenbrauen hoch. "Um was zum Beispiel? Ich bin wirklich gespannt. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich derjenige von uns beiden bin, der dabeigewesen ist."

Rehfeld atmete tief durch. "Diese Frau stand in irgendeinem Zusammenhang mit Lammers. Aber ich vermute, auch mit Ihnen. Schließlich ist sie in ihre Wohnung geflüchtet, wie Sie mir am Telefon erzählt haben!"

"Was soll das denn für ein Zusammenhang gewesen sein?"

"Sagen Sie es mir!"

"Sie sind auf dem Holzweg!"

"Vielleicht. Aber genauso gut ist das Gegenteil möglich! Es ist besser, wenn Sie uns alles sagen, was Sie wissen, Herr Hellmer."

"Habe ich bereits!"

Er zuckte die Achseln. "Wie Sie wollen. Wir kriegen es am Ende doch heraus. Verlassen Sie sich darauf!"

"Dann strengen Sie sich mal schön an und tun Sie was für Ihr Geld! Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei!"

Unsere Unterhaltung endete grußlos und ziemlich unerfreulich. Rehfeld hatte einen Narren an mir gefressen. Er hatte nichts außer einem Namen. Annette Friedrichs, die aus ihrem Nest wohl schon seit geraumer Zeit ausgeflogen war − ob aus Furcht vor der Polizei oder aus Angst vor anderem ungebetenen Besuch.

Und er hatte mich. Und irgendwie bastelte er sich daraus jetzt in seinem Beamtenhirn eine Story zusammen, die so an den Haaren herbeigezogen war, dass jemand, der einen Roman daraus gemacht hätte, vermutlich in einer Flut von empörten Leserbriefen ertrunken wäre.

Das war eben der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit!

Ein Roman muss stimmig sein, in der Wirklichkeit schert sich niemand um irgendeine Logik. Alles Zufall, alles Chaos, alles ausgewürfelt. Eine schreckliche Erkenntnis, nicht wahr?

Zu schrecklich für viele.

Aber es gibt ja Auswege.

Religion zum Beispiel. Was ist Religion im Kern anderes, als die Vorstellung, dass da doch irgendwo ein Autor im Himmel sitzt, ein übergroßer Dramaturg des Universums, von dem man hofft, dass er alles zu einem Happy End führt?

Jake McCord würde von mir aus jedem Schlamassel herausgeholt werden.

Jürgen Lammers war von niemandem gerettet worden.


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