Читать книгу Die besten 12 Strand Krimis im September 2021 - Alfred Bekker - Страница 69
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ОглавлениеDer Mafiaboss war geflohen. Der Schusswechsel in den Ruinen musste ihn wohl doch irritiert haben. Auch er kannte sicherlich den Unterschied zwischen einem Gewehr- und einem Pistolenschuss. Also musste ihm klar gewesen sein, dass noch jemand mitmischte. So hatte er sich vorsichtshalber abgesetzt.
Roberto prüfte seinen Wagen erst gründlich, bevor er sich hineinsetzte. Aber Ragozzini hatte wohl weder Zeit noch Gelegenheit gehabt, etwas an dem Fahrzeug zu manipulieren. Es wurde Zeit, die Gegend zu verlassen. Für die ersten Touristen am nächsten Morgen würde es eine unangenehme Überraschung geben, wenn man die beiden Toten fand. Nadir würde sich sicherlich befreien können.
Roberto startete den Motor. Ragozzini würde jedoch nicht aufgeben. Der Kopf von Roberto Tardelli war das Einzige, das ihn jetzt noch vor der Wut seiner Auftraggeber über sein Versagen retten konnte. Die Mafia ließ bei Misserfolgen keine Ausreden gelten.
Roberto überprüfte die beiden Revolver. Einen schob er in die Tasche, den anderen legte er auf den Sitz.
Dann verließ er das Gelände von Ephesos und machte sich auf den Weg nach Norden. Sein Ziel hieß Istanbul. Von dort wollte er so schnell wie möglich zurück in die Vereinigten Staaten fliegen. Sein Auftrag, die Vernichtung der Mohnfelder, war erfüllt. Die örtliche Organisation war schwer angeschlagen, und auch die Kurden würden für Hilfsdienste nicht so schnell wieder zur Verfügung stehen.
Es war ein Erfolg auf der ganzen Linie. Nur ein Punkt war noch nicht erledigt: Ragozzini.
Roberto fuhr nicht mehr lange und verbrachte den Rest der Nacht im Wagen. Nach einigen Stunden Schlaf fühlte er sich wieder erfrischt. Er frühstückte in einem Café an der Strecke. Er erschrak allerdings fast, als er sich in einem großen Spiegel betrachtete. Er sah aus wie ein Landstreicher oder wie ein Bandit. Das schienen auch einige der Leute zu denken, denen er begegnete.
Roberto setzte sich wieder ans Steuer. In Istanbul würde er Gelegenheit haben, sich in einen vernünftigen Menschen zu verwandeln.
Eine halbe Stunde später hatte er alle Gedanken daran vergessen. Hinter ihm befand sich wieder der bekannte Wagen.
Ragozzini.
Der Mafioso musste ihm irgendwo auf der Strecke aufgelauert haben. Natürlich konnte sich Ragozzini denken, dass Roberto Tardelli nach Istanbul wollte. Nur dort gab es die internationalen Flugverbindungen in alle Welt.
Roberto lächelte. Der andere Wagen hielt einen weiten Abstand. Da die Frontscheibe spiegelte, konnte er nicht erkennen, ob außer Ragozzini noch jemand im Wagen saß. Theoretisch musste der Gangster allein sein. Roberto hatte keine Angst vor ihm. Er glaubte sich ihm völlig gewachsen.
Durch Akhisar und Balikesir ging die Fahrt nach Bursa. Ragozzini blieb die ganze Zeit hinter ihm. Einmal war der Wagen verschwunden, tauchte aber bald wieder auf.
Roberto musste tanken und schob den Revolver unter den Sitz. Der zweite steckte nach wie vor in seiner Tasche. Roberto dachte flüchtig daran, was aus Nadir geworden war, aber der zähe Kurde hatte bestimmt noch rechtzeitig das Weite gesucht. Es war Roberto unerklärlich, wieso auch Nadir auf seiner Spur geblieben war. Wahrscheinlich hatte sich der Kurde an die Mafiosi gehängt. Oder er hatte erfahren, dass Roberto auf dem Weg nach Izmir war. In diesem Falle hätte er von Ankara nach Izmir fliegen und Roberto auf diese Weise überholen können.
Roberto bezahlte und fuhr weiter. Jetzt erst fuhr auch Ragozzini an die Tanksäule und ließ ebenfalls den Tank füllen. Er war allein im Wagen, das sah Roberto deutlich. Bis jetzt war der Mafioso einer Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen. Er musste einen bestimmten Plan haben. Und der konnte für Roberto nichts Gutes bedeuten.
Roberto sah auf die Karte. Er war gut vorangekommen, da er schon so früh aufgebrochen war. Vielleicht schaffte er es heute noch, nach Istanbul zu kommen. Er hatte nach der Stadt Bursa zwei Möglichkeiten. Er konnte über unbefestigte Straße fahren, aber das würde zu lange dauern. Oder er konnte die Fähre über das Marmarameer nehmen. Damit würde er ein erhebliches Stück abkürzen. Die Fähre fuhr alle zwei Stunden. Vielleicht hatte er Glück und erwischte gerade eine.
Die Straße wand sich durch eine hügelige Landschaft. Dann tauchte in der Ferne der zweieinhalbtausend Meter hohe Gipfel des Uludağ auf, an dessen Fuß die Stadt Bursa lag.
Roberto hatte keine Lust, sich in der typisch türkischen Stadt mit ihren engen verwinkelten Gassen aufzuhalten. Er fuhr von Westen in die Stadt und blieb auf der Hauptstraße, die am Bus-Bahnhof entlangführte und die Altstadt rechts liegen ließ.
In den Straßen herrschte noch lebhaftes Treiben. Ragozzini hatte dichter aufgeschlossen, um ihn nicht zu verlieren.
Rechts von Roberto ragte die Große Moschee mit ihren zwanzig Kuppeln über das Dächergewirr, aber er hatte keinen Blick für irgendwelche Sehenswürdigkeiten, solange er nicht wusste, was sein Verfolger plante.
Wenig später musste er links abbiegen, und bald lag Bursa hinter ihm. Der Abstand zu Ragozzini war größer geworden.
Bis zur Fähre waren es noch etwa 70 Kilometer. Eine knappe Stunde Fahrt. Auf der Straße war es leerer geworden, der Verkehr flaute ab. Es gab hauptsächlich hochbeladene Lastwagen.
Plötzlich bemerkte Roberto im Rückspiegel, wie Ragozzini aufholte. Der andere Wagen war wesentlich schneller und kraftvoller in der Beschleunigung, sodass Roberto nicht viel dagegen tun konnte.
Ragozzini setzte auf einem geraden und zurzeit freien Stück der Straße zum Überholen an.
Roberto runzelte die Stirn. Was bezweckte der andere damit? Es ergab noch keinen Sinn, wenn Ragozzini vor ihm war, außer er wollte einen Hinterhalt aufbauen.
Aber dann wusste Roberto plötzlich, dass es reine Verzweiflung war, die Ragozzini zu seinem Überholmanöver trieb.
Der Mafioso hatte das rechte Seitenfenster heruntergekurbelt und blickte mit hassverzerrtem Gesicht herüber. Dann hob er plötzlich eine Pistole und schoss durch das offene Fenster.
Roberto bremste abrupt, und die nächsten Schüsse Ragozzinis gingen wirkungslos in die Landschaft.
Der Mafioso beschleunigte, und sein Wagen war bald in der Ferne verschwunden. Jetzt war Roberto hinter ihm. Das hieß, er musste in jedem Augenblick mit einer bösen Überraschung rechnen. Dieser Feuerüberfall war relativ harmlos gewesen.
Auch Roberto fuhr wieder schneller. Es war wohl doch besser, wenn er Ragozzini nicht aus den Augen verlor.
Dann erreichte er den Ort Yalova. Er entdeckte das Hinweisschild zur Fähre, die ihn auf die andere Seite des Golfes bringen sollte. Von dort waren es nur noch 20 Kilometer bis Istanbul.
Roberto hatte Glück. Die Fähre war noch da. Aber sie war schon ziemlich voll. Zahlreiche Autos, Eselskarren und andere Fuhrwerke waren umdrängt von vielen Menschen, die teilweise mit den unmöglichsten Sachen beladen waren. Es war eines der typischen bunten orientalischen Bilder.
Roberto lenkte den Wagen vorsichtig an die Fähre, und mindestens sieben Männer begannen ihn aufgeregt mit den Armen einzuwinken. Die Fähre sah nicht sehr vertrauenerweckend aus, aber Roberto hatte keine andere Wahl. Im Übrigen hatte er in diesem Land weitaus Schlimmeres erlebt.
Er hatte das Gefühl, dass die Fähre kentern müsste, wenn er auch noch darauffuhr, denn sie kam ihm hoffnungslos überladen vor. Aber plötzlich stand er auf der Fähre, eingekeilt von Menschen, Tieren und Fahrrädern, die ihm nur für einen Moment Platz gemacht hatten.
Er stieg aus, wobei er Mühe hatte, die Tür aufzubekommen, und bezahlte den Fahrpreis. Dann dehnte und streckte er sich nach der langen Autofahrt. Die Seitenscheibe ließ er heruntergedreht, um die zerschossenen Scheibe zu verbergen, denn es befanden sich auch einige Soldaten an Bord, denen vielleicht etwas aufgefallen wäre.
Roberto ging ein paar Schritte nach vorn und erstarrte. Drei Wagen vor ihm stand Ragozzini. In dem Gewühl hatte er den Wagen bisher noch nicht bemerkt.
Ragozzini saß hinter dem Steuer und hatte Roberto im gleichen Augenblick im Rückspiegel gesehen. Er riss seine Pistole hoch und zielte durch die heruntergedrehte Scheibe nach Roberto.
Der ging sofort in Deckung und zwängte sich zwischen zwei Wagen auf die andere Seite. Ragozzini brachte es tatsächlich fertig und begann hier eine Schießerei!
Roberto tastete nach seiner Tasche, in der er den Revolver hatte. Aber die Waffe kam nur für den letzten Notfall infrage. Denn hier auf der Fähre konnte er viel zu schnell einen Unschuldigen treffen. Er spähte nach vorn. Ragozzini stieg gerade aus.
Roberto drängelte sich durch die Menge weiter nach vorn, wobei er den Mafioso immer im Auge behielt, der ihn mit hochgerecktem Kopf suchte. Dann tauchten ihre Blicke plötzlich ineinander. Ragozzini fletschte die Zähne und kämpfte sich ebenfalls weiter nach vorn.
Die Fähre war ziemlich groß. Es war eigentlich ein richtiges Schiff. Die Überfahrt würde eine ganze Weile dauern. Es wurde langsam dunkel, aber auf der Fähre brannten genügend Lampen.
Roberto huschte hinter Decksaufbauten, wo sich kein Mensch aufhielt. Er zwängte sich in eine Nische und lauschte. Vorsichtige Schritte waren zu hören. Dann kam Ragozzini um die Ecke. Er blieb lauernd stehen und sah sich misstrauisch um.
Roberto zog langsam den Revolver aus der Tasche. Geräuschlos spannte er den Hahn. Das leise Knacken konnte er selbst kaum hören.
Ragozzini kam näher.
Noch ein paar Schritte, dachte Roberto, nur noch zwei Schritte. Er entspannte den Revolver wieder und packte ihn am Lauf. Er hielt den Atem an.
Dann war Ragozzini keinen Meter entfernt.
Roberto sprang aus seiner Deckung und schwang den Revolver. Doch Ragozzini war kein Anfänger. Er warf sich zur Seite, als er den Luftzug spürte.
Der Schlag mit dem Kolben glitt ab und erwischte Ragozzini nur an der Schulter. Roberto wurde durch den eigenen Schwung nach vorn gerissen und musste mühsam sein Gleichgewicht behaupten.
Ragozzini stöhnte auf. Der Schlag musste ihn trotzdem ziemlich schmerzhaft getroffen haben. „Ich mach dich fertig, Roberto Tardelli“, stieß er hervor.
Der Arm mit der großkalibrigen Waffe schwenkte herum.
Roberto reagierte wie ein Automat.
Sein Fuß kickte hoch und traf die Schusshand. Im Schwung der gleichen Bewegung warf er sich nach vorn und erwischte Ragozzini mit der geballten Faust seitlich am Kopf.
Der Mafioso stieß ein paar Beschimpfungen in italienischer Sprache heraus und wehrte sich verzweifelt. Roberto hatte seinen rechten Arm gepackt und hieb das Gelenk immer wieder auf die eiserne Reling.
Ragozzini trat mit den Füßen und versuchte, sich aus dem Griff zu lösen. Er hatte vor Schmerz Tränen in den Augen. Die Haut an seinem Gelenk war bereits aufgeplatzt und blutete.
Endlich öffnete er die Finger, und die Pistole fiel mit einem leichten Platschen ins Wasser.
Dann traf er mit einem unkontrollierten Schlag die Stelle, die Nadir schon einmal mit seinem Messer erwischt hatte. Roberto schrie auf und ließ Ragozzini kurz los. Er hatte die Wunde mit Verbandsmaterial aus dem Auto nur notdürftig verbunden, nachdem er die Blutung zum Stillstand gebracht hatte. Jetzt fürchtete er, dass die Wunde wieder aufbrechen könnte.
Ragozzini nutzte die Gelegenheit und wand sich aus seinem Griff.
Roberto hetzte hinterher.
Ragozzini rannte rücksichtslos eine Frau über den Haufen, die zufällig im Weg stand. Er lief zum Bug.
Roberto hatte keine Ahnung, was sein Gegner vorhatte. Auch Ragozzini konnte sich hier kaum auskennen und deshalb auch keinen bestimmten Plan haben. Er war nur noch ein gehetztes Wild, das sich in Sicherheit bringen wollte. Ohne seine Waffe musste er sich nackt vorkommen.
Roberto verlor ihn für ein paar Sekunden aus den Augen, entdeckte ihn dann aber wieder, wie er sich an einem Schlauchboot zu schaffen machte. Es war nur ein kleines Schlauchboot, vermutlich wurde es von der Besatzung für irgendwelche Zwecke benutzt.
Es war mit einem Strick an einer Metallstrebe befestigt, und Ragozzini bemühte sich verzweifelt, den Strick zu lösen.
Als Roberto näher kam, hatte er es gerade geschafft. Er hob das winzige Boot hoch und schleppte es zur Reling.
„Bleiben Sie stehen!“, rief Roberto. „Sie haben doch keine Chance mehr. Ergeben Sie sich!“
„Verdammter Hund!“, schrie Ragozzini mit wutverzerrtem Gesicht. „Ich treffe dich wieder, und dann wird es mir ein Vergnügen sein, dich langsam krepieren zu lassen.“
Mit einer schwungvollen Bewegung warf er das Schlauchboot über Bord und sprang hinterher.
Roberto stürzte zur Reling und sah hinunter. Ragozzini kletterte gerade über den Wulst in die schwankende Nussschale.
Roberto hob den Revolver. Das weiße Gesicht lag genau über Kimme und Korn. Dann ließ er die Waffe wieder sinken. Es war ihm unmöglich, in diesem Augenblick zu schießen. Roberto, der sich bereits abgewandt hatte und zu seinem Wagen zurückkehren wollte, zuckte herum. Hinter und neben ihm wurden aufgeregte Stimmen laut, Besatzungsmitglieder der Fähre jagten heran, türkische Flüche wurden laut.
Roberto starrte auf die Wasserfläche hinaus. Aber in der beginnenden Dunkelheit vermochte er keine Einzelheiten zu erkennen. Nur so viel war klar – das Schlauchboot sank und Ragozzini schlug wie ein Rasender laut schreiend mit den Armen und Beinen um sich.
Aber die Fähre stoppte nicht, nur die Türken gestikulierten wie wild und zeigten auf die Wasseroberfläche.
Roberto verstand sie nicht, aber dann sah er plötzlich etwas, was ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagte: Die dreieckige Rückenflosse eines Hais durchschnitt das Wasser. Dicht neben der Fähre tauchte das Tier plötzlich weg.
Roberto Tardelli spürte, wie sein Herz fast schmerzhaft gegen die Rippen pochte. Er sah in der Ferne die Lichter der Küste, aber er wusste, dass es bis dorthin noch mindestens acht Kilometer waren. Zur anderen Seite des Golfs war es noch weiter und an Backbord der Fähre lag das offene Meer.
Langsam wandte er sich ab und ging zu seinem Wagen zurück. Wenn es hier wirklich Haie gab und er hatte die dreieckige Rückenflosse verdammt genau gesehen – dann hatte Ragozzini nicht die geringste Chance zu überleben ...
ENDE