Читать книгу Die besten 12 Strand Krimis im September 2021 - Alfred Bekker - Страница 65
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ОглавлениеRoberto Tardelli rümpfte angewidert die Nase. Der Gestank in seinem Gefängnis war kaum auszuhalten. Nach einer etwa dreistündigen Fahrt hatten sie ein winziges Dorf in den Bergen erreicht. Roberto wurde verschnürt wie ein Paket und auf eine schmutzige Decke in einem winzigen Raum geworfen. Dort befand er sich jetzt seit über einer Stunde.
Er musterte zum wiederholten Male seine Umgebung. Aber auch diesmal entdeckte er nichts, was zu seiner Flucht beitragen konnte. Die Fesseln schnitten in seine Gelenke. Es war ihm nicht gelungen, die Stricke zu lockern. In dieser Beziehung verstanden die Kurden ihr Handwerk.
Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Das Dorf war so klein, dass es vermutlich auf keiner Landkarte verzeichnet war.
Nach weiteren zwanzig Minuten hörte er Schritte vor seinem Gefängnis. Zwei Kurden erschienen und rissen ihn hoch. Widerstand hatte keinen Sinn. Sie hätten sich nicht darum gekümmert und ihn notfalls über den Boden geschleift. Sie packten ihn rechts und links unter den Armen und führten ihn aus dem Raum. Immerhin ließ jetzt der Gestank nach.
Es wurde kein Wort gesprochen, als ihn die beiden aus der Hütte brachten und über einen staubigen Platz zu einem größeren Haus führten. Davor standen zwei Wagen, sein Jeep und die Limousine der Amerikaner.
Roberto blinzelte in die Sonne. Vielleicht zum letzten Mal, dachte er. Dann waren sie in dem anderen Haus. Der Raum war wesentlich größer und mit bescheidenen Möbeln eingerichtet. Der Boden war von Teppichen bedeckt. Und alle seine Gegner waren versammelt.
An einem Tisch in der Mitte saßen die drei Mafiosi. In ihren Gesichtern lag ein Ausdruck von Wut und Triumph. Schräg hinter ihnen stand Nadir, der Kurde. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel. Er hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und starrte Roberto nur an. Ismet Erim lehnte seitlich an der Wand. Er war der Einzige, der sich zu freuen schien. Außerdem hielten sich noch zwei Kurden in dem Raum auf. Sie standen an der Wand gegenüber und hielten ihre Gewehre schussbereit. Dazu kamen noch die zwei Männer, die ihn gebracht hatten. Der sechste Kurde hielt vermutlich draußen Wache.
Roberto hatte es also mit acht Gegnern zu tun. Sogar neun, wenn man den Unsichtbaren dazurechnete. Etwas viel für einen gefesselten Mann. Er konnte nur hoffen, dass er seine Chance noch bekam.
Roberto bekam einen Stoß zwischen die Schulterblätter und stolperte nach vorn.
Dann sah er aus den Augenwinkeln, wie einer der Männer hinter ihm sein Gewehr am Lauf packte und es durch die Luft schwang. Er wollte ausweichen, aber es war zu spät. Der Kolben traf schmerzhaft seine Kniekehlen, und Roberto brach in die Knie.
Man hatte ihm die Arme so fest an den Körper gebunden, dass er sie keinen Zentimeter bewegen konnte. Es gelang ihm trotzdem, sich wieder hochzustemmen, ohne dass er das Gleichgewicht verlor. Seine Gegner hatten ihm interessiert zugesehen.
Giuseppe Ragozzini stand auf und kam auf Roberto zu. Ohne Vorwarnung hob er plötzlich die Hand und schlug zu. Roberto taumelte, und er biss die Zähne zusammen.
„Das ist nur eine Kostprobe“, sagte Ragozzini leise. „Wir werden dich Stück für Stück auseinandernehmen, bis du um deinen Tod betteln wirst. Aber vorher haben wir noch ein paar Fragen. Es liegt an dir, uns überzeugende Antworten zu geben. Dein Tod wird dann rasch und schmerzlos sein, aber sterben wirst du in jedem Fall. Wenn du den Helden spielen willst, kriegt der dich.“ Er deutete auf Nadir. „Der wird Dinge mit dir anstellen, die selbst wir uns nicht ausdenken können. Du hast die Wahl.“
Ragozzini ging wieder zurück und setzte sich.
„So einfach sollten wir ihm das nicht machen“, sagte plötzlich Benedetto Carveso. „Dieses Schwein hat die gesamte Ernte vernichtet. Damit hat er die Arbeit eines ganzen Jahres zerstört. Gar nicht zu reden von dem Geld, das wir investiert haben.“
Stefano Pezarro starrte Roberto ins Gesicht und erhob sich. „Ich bin ganz deiner Ansicht, Ben. Wir sollten nämlich auch mal daran denken, was unsere Freunde in den Staaten sagen, wenn sie erfahren, was aus unserem Geschäft geworden ist. Wir werden verdammte Mühe haben, ihnen diese Sache beizubringen, ohne dass sie gleich aus der Haut fahren.“
„Das ist wohl meine Angelegenheit“, warf Ragozzini scharf ein. „Kümmert euch nicht darum, was die Familie tun wird. Das werde ich regeln. Zwischenfälle kommen immer vor. Wir müssen nur dafür sorgen, dass sie in Zukunft nicht mehr passieren. Dieser Kerl darf uns also nicht mehr in die Quere kommen.“
„Trotzdem sollten wir erfahren, wer er ist. Das zumindest müssen wir der Familie schon erzählen“, sagte Pezarro.
„Sicher“, knurrte Ragozzini. „Dann fangt endlich an, ihm die Fragen zu stellen. Ich habe keine Lust, den ganzen Tag in diesem Drecksnest herumzusitzen.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Stirn in grüblerische Falten.
Roberto war sicher, dass Ragozzini sich im Grunde herzlich wenig für ihn interessierte. Natürlich musste er gegenüber seinen Mafiabossen nachweisen, dass der Mann, der so viel Schaden angerichtet hatte, aus dem Verkehr gezogen war, aber man würde ihm trotzdem noch einige unangenehme Fragen stellen, auf die sich Ragozzini rechtzeitig ein paar befriedigende Antworten einfallen lassen musste. Die Mafia nahm es nicht so ohne Weiteres hin, dass man ihr ein hervorragendes Geschäft vermasselte. Die Bosse würden sich an den Verantwortlichen halten und genau wissen wollen, wer versagt hatte.
In diesem Augenblick hatte Roberto eine Idee, wie er seinen bevorstehenden sicheren Tod vielleicht doch noch abwenden konnte oder ihn zumindest hinausschieben. Es war ein gewagtes Spiel. Aber so, wie er Ragozzini einschätzte, würde der dafür sorgen müssen, dass ihn die Kurden nicht in die Hände bekamen, um ihre Blutrache zu erfüllen.
Ein heftiger Schlag gegen sein linkes Jochbein warf ihn zur Seite. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er den drohenden Faustschlag nicht bemerkt hatte.
Pezarro stand mit zornbebendem Gesicht vor ihm, die Faust zu einem neuen Hieb erhoben. „Willst du endlich antworten, du verdammter Hund! Hast du nicht gehört, was ich dich gefragt habe? Zum letzten Mal, wie ist dein richtiger Name?“
„Roberto Tardelli.“
Die Wirkung dieser beiden Worte war genauso, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Pezarro fuhr zurück, als stünde er vor einer Klapperschlange. Carveso starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, und Ragozzini war so heftig aufgesprungen, dass der Stuhl umfiel.
„Wer bist du?“, flüsterte Ragozzini.
Roberto lächelte leicht. „Ich sagte es doch eben. Roberto Tardelli.“
Die drei Mafiosi sahen sich ungläubig an und starrten dann wieder Roberto an wie ein Fabelwesen.
Pezarro räusperte sich. „Haltet ihr das für möglich?“
Ragozzini schwieg. Seine Brauen waren zusammengezogen und die Stirn gerunzelt. Carveso zuckte mit den Achseln.
„Was ist denn plötzlich los?“, erkundigte sich Ismet Erim. Er sah verwundert von einem zum anderen.
Auch Nadir hatte dem Geschehen aufmerksam zugesehen. Er hatte begriffen, dass eine Änderung eingetreten war, die seine Pläne in Bezug auf die Blutrache gefährden konnten.
„Seid jetzt ruhig, ich muss nachdenken“, schrie Ragozzini und hieb mit der Faust auf den Tisch.
Nadir trat an ihn heran. „Der Fremde gehört mir. Vergiss das nicht.“ Der Kurde hatte die Hand schon wieder am Dolch.
Ragozzini winkte unwillig ab. „Das verstehen Sie nicht. Es könnte sein, dass ich diesen Mann brauche.“
Nadir schüttelte den Kopf. „Die Blutrache ist heilig. Das Leben dieses Fremden gehört mir. Sie können mit ihm reden, aber dann nehmen wir ihn mit. Er muss sterben.“
Roberto hörte interessiert zu. Es kam so, wie er es sich gedacht hatte. Die Gegner spalteten sich in zwei Parteien. Die Kurden wollten seinen Tod, aber Ragozzini musste ihn der Mafia präsentieren. Der Kopf von Roberto Tardelli würde die Bosse für den Verlust der Mohnfelder voll entschädigen. Roberto bekam damit zumindest eine Galgenfrist – falls Ragozzini ihm glaubte und falls er stärker war als die Kurden.
Nur Ismet Erim hatte überhaupt nichts begriffen. „Was soll denn das? Was ist denn mit diesem Kerl? Wollt ihr ihn nicht weiter verhören? Oder soll er erschossen werden?“
„Halten Sie endlich die Klappe“, sagte Ragozzini ruhig. Er warf seinen beiden Leuten einen raschen Blick zu. Die Hände der Mafiosi glitten unauffällig unter die Jacken.
Ragozzini wandte sich zu Nadir. „Dieser Mann ist sehr wichtig für mich. Er wird von meiner Organisation in den USA gesucht, und sie zahlen einen hohen Preis für seinen Kopf. Er hat schon viel Unheil angerichtet und viele gute Männer getötet. Ich muss ihn mitnehmen, sonst glauben meine Leute nicht, dass wir hinter den Namen dieses Mistkerls endlich ein Kreuz machen können. Er wird sterben aber nicht hier.“ Nadir rief seinen Leuten einige Worte in türkischer Sprache zu, und sie packten ihre Waffen fester. Ihre Gesichter sahen noch grimmiger aus, als sie es ohnehin schon waren. Roberto sah gespannt auf seine Gegner. Wie würde diese Auseinandersetzung enden, bei der es in jedem Falle um sein Leben ging?
„Sie haben ihn mir versprochen“, sagte der Kurde zu Ragozzini. „Dieser Mann hat meinen Bruder getötet. Er muss nach den Gesetzen unseres Volkes sterben, und ich werde dafür sorgen, dass es so geschieht.“ Ragozzini sah den Kurden nachdenklich an. „Ich verstehe Sie, aber Sie werden von uns bezahlt, also geben wir auch die Befehle. Ich muss Roberto Tardelli haben. Verlangen Sie stattdessen einen Preis, Sie werden ihn bekommen.“
Noch war nichts entschieden. Roberto hatte jedoch keinen Zweifel über den Ausgang eines eventuellen Kampfes. Wenn es hier im Raum zu einer Entscheidung kommen sollte, würden die Gangster gewinnen. Mit ihren Revolvern und ihrer Übung waren sie den Kurden auf dem engen Raum überlegen. In der freien Landschaft sah es schon anders aus. Roberto war sicher, dass Ragozzini die gleichen Überlegungen anstellte. Es musste also hier drinnen zu einer Entscheidung kommen so oder so.
Einige Sekunden lang war die Spannung im Raum fast körperlich spürbar. Jeden Augenblick war damit zu rechnen, dass die Mafiosi die Revolver zogen und den Streit auf ihre Art beendeten.
Aber Ragozzini hatte wohl entschieden, es noch nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Er wandte sich an Roberto. „Du bist also Roberto Tardelli, der Sohn von Ernesto Tardelli, dem Verräter. Dein Name hat keinen guten Klang in unserer Organisation. Zu viele haben deswegen sterben müssen.“
Roberto antwortete nicht. Er hatte schon vor längerer Zeit eingesehen, dass eine Diskussion über Recht oder Unrecht mit einem Mafioso völlig sinnlos war. Diese Leute verstanden nur ihre eigene Sprache, die Sprache der Gewalt. Der Begriff Recht oder Gesetze bedeutete nichts für sie.
„Ich frage mich, weshalb du hier bist“, sagte Ragozzini. „Auf diese Idee bist du doch nicht von alleine gekommen. Irgendjemand hat dir einen Tipp gegeben, und irgendjemand muss dich auch bezahlen. Du hast kein Geld, um dies alles auf eigene Faust zu machen.“
Roberto straffte sich innerlich. Hier hatte Ragozzini ein Thema angeschnitten, das auf keinen Fall zur Sprache kommen durfte. Colonel Myer und COUNTER CRIME waren Dinge, von denen die Mafia nicht viel wusste – so hoffte er jedenfalls. Und wenn er es verhindern konnte, sollte sie auch davon nichts erfahren. Immerhin, auf der richtigen Spur war der Gangster schon.
Ragozzini zog seine Pistole und richtete sie auf Roberto. „Wir alle kennen nur deinen Namen, aber nicht dein Gesicht. Beweise uns, dass du wirklich Roberto Tardelli bist. Es geht um dein Leben.“
Roberto zuckte mit den Achseln. „Sie müssen mir schon glauben.“ Ragozzini blickte ihn unbewegt an, dann schwenkte er den Pistolenlauf blitzschnell herum und machte zwei rasche Schritte. Nadir wurde völlig überrascht. Er stand stocksteif und starrte auf die Pistole, die Ragozzini gegen seinen Hals presste.
„Sag deinen Leuten, sie sollen die Waffen fallen lassen, sonst haben sie gleich noch einen Grund für eine Blutrache.“
Auch Carveso und Pezarro hatten sofort reagiert und ihre Waffen gezogen. Sie bedrohten Nadirs Leute, die ihre Gewehre inzwischen nicht mehr im Anschlag hatten.
„Das wirst du bereuen!“, stieß Nadir hervor. Es folgten einige türkische Worte, und seine Leute ließen die Gewehre fallen.
„Sammelt die Waffen ein“, sagte Ragozzini.
Carveso hob die Gewehre auf und legte sie auf den Tisch, während Pezarro die Kurden zu einer Gruppe zusammentrieb.
„Und was ist mit Ihnen, Erim?“, fragte Ragozzini.
Der Türke hatte die Geschehnisse fassungslos verfolgt. Seine Augen glitten zwischen den beiden Parteien hin und her. Er streckte die Hände weit vom Körper, um anzudeuten, dass er nicht beabsichtigte, seine Waffe zu ziehen.
„Ich verstehe das alles zwar nicht, aber ich glaube, ich komme mit Ihnen. Hier ist doch nichts mehr zu holen, und aus unserem schönen Opiumgeschäft wird ja nun sowieso nichts. Ich nehme an, Sie wollen nach Istanbul. Das ist genau die richtige Stadt für mich. Dort kann man untertauchen.“
Ragozzini nickte. „Gut. Das wäre klar.“ Er warf einen raschen Blick in die Runde. „Zeit zu gehen. Stefano, du bringst Tardelli mit Erim in den Wagen. Ihr setzt euch auf den Rücksitz und nehmt ihn in die Mitte.“
„Okay.“ Pezarro winkte den Türken heran, und sie packten Roberto an den Armen und schleiften ihn hinaus.
„Was wird mit ihm?“, fragte Carveso und deutete auf den Kurden.
„Nichts“, antwortete Ragozzini. „Mit dem Wagen sind wir viel schneller als er. Außerdem können die Kurden in ihrem Aufzug nicht so ohne Weiteres in der Gegend herumreiten. Das würde auffallen. Außerdem haben die hiesigen Behörden eine ganze Menge gegen einen Haufen bewaffneter Kurden.“
„Vielleicht sollten wir Nadir aber doch ein Stück mitnehmen und ihn erst dann laufen lassen“, meinte Carveso. „Ohne ihn wissen seine Leute vermutlich nicht, was sie machen sollen.“
Ragozzini nickte. „Du hast recht. Wir nehmen ihn auf dem Vordersitz in die Mitte.“
Nadir sagte ein paar rasche Worte zu seinen Leuten, die nur nickten.
„Halt die Schnauze!“, brüllte Ragozzini und hieb ihm den Lauf der Pistole seitlich gegen das Gesicht. Die Wange platzte auf, und Blut rann über Nadirs Gesicht. Der Kurde verzog keine Miene. Nur seine Augen flammten und schworen blutige Rache.
Carveso nahm die Gewehre der Kurden mit hinaus, die sich nicht vom Fleck rührten. Ragozzini trieb Nadir vor sich her. Die beiden anderen saßen schon mit dem gefesselten Roberto im Wagen.
Auch Nadir bekam einen Strick um die Handgelenke, dann wurde er auf den Vordersitz gestoßen.
Anschließend nahm Carveso sich die Gewehre vor. Er donnerte die Kolben solange auf den steinigen Boden, bis sie abbrachen oder die Läufe verbogen. Dann warf er die unbrauchbaren Waffen in ein Gebüsch und schwang sich hinter das Steuer.
Nadir saß in der Mitte, Ragozzini bedrohte ihn nach wie vor mit der Pistole. „Also los! Worauf wartest du noch?“, stieß Ragozzini nervös hervor und spähte immer wieder rundum in die Gegend.
Carveso fummelte am Zündschloss herum, bis der Motor endlich ansprang.
„Dort entlang“, sagte Erim und deutete in die entgegengesetzte Richtung.
Carveso wendete den Wagen in einer riesigen Staubfahne und jagte durch die wenigen Häuser des namenlosen Ortes. Kein Mensch war zu sehen, nur ein Hund kläffte, als sie vorbeifuhren.