Читать книгу Die besten 12 Strand Krimis im September 2021 - Alfred Bekker - Страница 62
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ОглавлениеRoberto Tardelli zitterte leicht vor Kälte: Seit Stunden hielt er sich schon an diesem Platz auf, und die Kälte war immer tiefer vorgedrungen. Zwar schien die Sonne noch, aber in diesen Höhen kühlte es schnell ab.
Er wartete auf Alanya. In der letzten Nacht hatte er sie eine halbe Stunde nach seiner Landung gefunden. In ihren Augen lag unübersehbar ein freudiger Glanz, als sie sich trafen. Sie hatte in der Zeit nichts Auffälliges bemerkt. Der Eingang zur Schlucht war weit genug entfernt.
Roberto wusste, dass er nicht ins Dorf zurückkehren konnte. Die Gangster hatten ihn erkannt. Seine Aufgabe war erfüllt, er konnte den Rückweg antreten. Er war sich allerdings darüber im Klaren, dass das nicht so einfach werden würde. Er konnte sich vorstellen, dass die Gangster ihn jetzt jagten, und er war allein gegen eine Übermacht, die alle Vorteile auf ihrer Seite hatte.
Er korrigierte sich in Gedanken. Nicht alle. Er kannte Alanya, das Kurdenmädchen. Sie würde ihm helfen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, wenn er daran dachte, wie eifrig sie sich um ihn kümmerte. Sie hatten in der Nacht noch eine möglichst große Entfernung vom Tal zurückgelegt, da sie eine Verfolgung befürchteten. Immerhin konnten die Kurden den Hubschrauber bei seiner Landung beobachtet haben.
Roberto unterschätzte die Kurden keineswegs. Er wusste, dass er ihnen in diesem Gebiet hoffnungslos unterlegen war. Nur Tricks konnten ihm helfen und die Überraschung.
Als der Morgen graute, waren sie ganz in der Nähe von Alanyas Behausung angelangt. Das Mädchen wollte etwas zum Essen holen, während Roberto auf sie wartete. Er wusste, dass Alanya mit ihrer Mutter zusammenlebte, und es war besser, wenn die alte Frau überhaupt nichts von der Geschichte erfuhr. Außerdem war zu befürchten, dass die Verfolger inzwischen schon auf den Beinen waren, sodass er in einem Versteck sicherer war.
Alanya war schon einige Stunden weg, und langsam begann er sich Sorgen zu machen. Alles mögliche konnte passiert sein, aber er sagte sich, dass es auch viele harmlose Ursachen geben konnte.
Roberto blickte zu seinem Pferd. Es rupfte an den spärlichen Gräsern zwischen den Felsen. Er hatte ihm den Sattel abgenommen. Langsam spürte er jetzt auch den Hunger.
Plötzlich hörte er das Knirschen von Steinen. Schnell zog er sich hinter einen Felsen zurück und nahm das Jagdgewehr in die Hand.
Er atmete auf. Es war Alanya. Sie sah sich suchend um, als sie ihn nicht gleich entdeckte. In der Hand trug sie einen großen Beutel. Er legte das Gewehr wieder hin und kam aus seiner Deckung hervor.
Das Mädchen lächelte erleichtert. Sie kauerte sich neben ihn und packte ihren Beutel aus. Roberto machte sich mit Heißhunger über die mitgebrachten Sachen her. Selbst gebackenes Fladenbrot, Joghurt, kaltes Hammelfleisch und Obst. Selten hatte ihm eine Mahlzeit so gut geschmeckt.
„Es hat lange gedauert“, sagte er dann.
Sie nickte. „Die Männer sind unterwegs. Sie suchen den Mann, der die Felder vernichtet hat. Sie waren auch bei uns und haben meine Mutter gefragt, ob sie einen Fremden gesehen habe. Ich hatte mich so lange versteckt, bis sie wieder weg waren.“
„Was waren das für Männer?“
„Kurden. Sie gehören zu Nadirs Männern.“
„Nadir? Wer ist das?“
„Er gehört zu einem Stamm, der aus Syrien vertrieben wurde. Mit seinen Kriegern hat er sich in die Berge geflüchtet. Jetzt kämpft er gegen die Türken. Sie wissen, dass die Kurden immer noch ihren Traum von einem eigenen Land haben. Aber wer soll ihnen das Land geben? Es ist ein hoffnungsloser und verzweifelter Kampf. Nadir bekommt viel Unterstützung von den Kurden, die hier in der Gegend leben. Er braucht Geld, um neue Waffen und Munition zu kaufen. Aus diesem Grunde macht er auch Dinge, die er sonst vielleicht nicht tun würde.“ Sie stockte.
„Was meinen Sie damit?“, fragte
Roberto.
Sie senkte den Blick. „Seine Leute waren es, die die Felder bewachten. Er bekommt viel Geld dafür. Außerdem hat man ihm moderne Waffen versprochen. Er muss es tun, wenn er überleben will.“
Roberto zuckte die Schultern. „Ich kann und will mich nicht in diesen Kampf einmischen. Aber ich kann nichts dafür, wenn dieser Nadir sich mit Gangstern zusammentut. Dann muss er eben die Konsequenzen tragen. Auch ich habe einen Auftrag zu erfüllen.“
In Alanyas Augen standen plötzlich Tränen.
„Was ist?“, fragte er.
Sie sah ihn unsicher an. „Die Männer haben erzählt, dass Nadirs Bruder heute Nacht getötet wurde. Er klammerte sich am Hubschrauber fest und wurde beim Start zu Boden geschleudert, wobei er sich das Genick gebrochen hat.“
Roberto starrte düster zu Boden. „Ja, es stimmt. Es ging um ihn oder mich. Wir konnten nicht starten, und die anderen haben uns beschossen. Ich habe ihn weggestoßen, und er muss sehr unglücklich gestürzt sein. Es tut mir leid, aber ich wollte ihn nicht töten.“
„Das ist schlimm für Sie“, sagte Alanya leise.
Er hob den Kopf. „Warum?“
„Nadir hat Blutrache geschworen. Er wird Sie umbringen.“
Über Robertos Rücken lief ein eisiger Schauer. Er kannte die Bedeutung der Blutrache und wusste, dass seine Chance, aus diesem Gebiet zu entkommen, sehr gering war.
„Was werden Sie tun, Alanya?“
Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen an. Es standen immer noch Tränen darin. „Es ist schade, dass es so gekommen ist. Sie müssen sehen, dass Sie es allein schaffen. Ich kann Ihnen nicht mehr helfen.“
„Kannten Sie Nadirs Bruder?“
„Nein, das ist es nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber Nadir und seine Leute gehören zu meinem Volk. Ich kann sie nicht verraten. Sie sind ein Fremder aus einem Land, das ich nie sehen werde. Ich aber lebe hier. Es ist mein Land und mein Volk. Es tut mir leid. Sie werden ab heute ganz allein sein. Ich kann nur an Sie denken.“
„Ich begreife Sie“, sagte Roberto ernst. „Sie können nicht anders handeln. Nur eines noch: Werden Sie mich verraten?“
In ihr Gesicht stieg flammende Röte. Dann schüttelte sie heftig den Kopf und sprang auf. „Wie können Sie das von mir denken? Ich werde zu meinem Gott beten, dass er Sie beschützen möge. Und nun gehen Sie!“
Roberto stand auf und legte den Sattel auf den Pferderücken. Frauen waren doch schwer zu begreifen. Er zurrte die Riemen fest und schob das Gewehr in die provisorische Halterung. Dann wandte er sich noch einmal um zu ihr. „Ich danke Ihnen für alles.“
Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte. Er ging zu ihr hin und strich ihr leicht übers Haar.
Sie sah ihn aus tränenüberströmten Augen an. „Gehen Sie endlich. Die Kurden streifen durch die ganze Gegend. Sie müssen fliehen, solange noch Zeit ist. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
Sie wandte sich um und lief davon. Die letzten Worte waren kaum zu verstehen gewesen. Roberto schwang sich in den Sattel und blickte ihr nach, bis sie hinter den Felsen verschwand.
„Dann wollen wir mal“, sagte er leise und drückte dem Pferd leicht die Fersen in die Seiten. Er würde noch lange an das Mädchen aus den anatolischen Bergen denken, das ihm so viel geholfen hatte und das sich dann doch nicht für ihn entschied.