Читать книгу Die besten 12 Strand Krimis im September 2021 - Alfred Bekker - Страница 56
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ОглавлениеAm nächsten Morgen war Roberto Tardelli schon früh auf den Beinen. Draußen herrschte noch graues Halbdunkel. Nur zögernd tastete sich die Sonne über die Gebirgsränder. Die tiefen Täler lagen noch völlig im Schatten. Es war eine eigenartige Stimmung und es versprach, ein schöner Tag zu werden.
Nach einem kurzen Frühstück mit viel heißem Kaffee verließ Roberto seine Unterkunft. Er schlenderte ein paar Häuser weiter, wo es einen Pferdehändler gab, der auch Pferde vermietete. Roberto hatte schon vor einigen Tagen ein Pferd gemietet, denn es gab hier Pfade, die nur zu Fuß oder mit einem Reittier erreichbar waren. Zwar war er kein glänzender Reiter, konnte sich aber einigermaßen im Sattel halten.
Die meisten Leute im Dorf gingen ebenfalls schon ihrer Arbeit nach. Der Pferdehändler stand vor seinem Stall und sah ihm freundlich entgegen. Er erkannte ihn wieder. Sie feilschten ein paar Minuten um den Preis, dann holte ein kleiner Junge den Sattel, und Roberto konnte das Pferd besteigen, das er sich ausgesucht hatte. Der Türke winkte ihm nach, als er zum Dorf hinausritt. Das alles passte zu seiner Rolle als Archäologe.
Roberto hatte seine Jacke bis oben hin geschlossen, denn so früh am Morgen war es noch ziemlich kalt. Die Jagdflinte hing am Sattel, das Fernglas baumelte vor seiner Brust. Nur den Revolver sah man nicht. Er steckte in einer Innentasche seiner Jacke.
Sein Weg führte ihn zum Schauplatz der Auseinandersetzungen der letzten Nacht. Er wollte sich den Ort bei Tageslicht ansehen. Hier begann und endete bis jetzt die einzige Spur, die er hatte.
Er konnte jetzt einige Abkürzungen nehmen, sodass er fast schneller an Ort und Stelle war als mit dem Jeep. Vorsichtig ritt er den Hang hinauf, auf dem er fast das Leben verloren hätte. Bei Tageslicht sah die Gegend viel freundlicher aus als in der Nacht.
Er zügelte sein Pferd, als er die steinerne Brustwehr sah, die ihm in der letzten Nacht als Deckung gedient hatte. Er stieg ab und schlang den Zügel um den niedrigen Stamm einer Krüppelkiefer. Er nahm die Flinte vom Sattel und marschierte auf die Stelle zu.
Roberto beschirmte die Augen mit der Hand und ließ seinen Blick über die ganze Umgebung streifen. Die Sonne war inzwischen höher gestiegen und wärmte bereits beträchtlich. Die weit entfernten Höhenzüge des Mittleren Taurus im Süden lagen noch im Dunst. Der Himmel war strahlend blau, nicht ein einziges Wölkchen war zu sehen.
Schräg unter ihm lag ein winziger verfallener Bau aus roh aufeinandergeschichteten Steinen. Ein Ziegenhüter mochte ihn einst errichtet haben. Dort hatten sich die beiden Türken aus dem Dorf aufgehalten, als sie auf die Reiter warteten.
Robertos Lippen bildeten einen schmalen Strich. Sein Gesicht war ernst und verschlossen. Er war dicht daran, das Geheimnis zu lösen. Irgendwo in der Nähe mussten die geheimen Mohnfelder liegen. Er wusste, dass die Ernte kurz bevorstand. In der letzten Nacht hatte ihn nur ein Zufall auf die Spur der beiden geführt.
Roberto schwang sich über den niedrigen Steinwall, wobei er ein paar rostrote Flecken entdeckte. Blut! Es musste von dem Mann stammen, den er angeschossen hatte. Er kletterte nach unten und erreichte das Gemäuer. Ein paar zertretene Zigarettenkippen bewiesen, dass die beiden Männer aus dem Dorf eine ganze Weile gewartet hatten.
Suchend sah er sich um. Er war überzeugt davon, dass Ismet Erim mit dem Rauschgiftgeschäft zu tun hatte. Der andere war tot und konnte nichts mehr sagen. Aber auch Erim durfte keinen Verdacht schöpfen, dass der Wissenschaftler aus Amerika sich in Wirklichkeit herzlich wenig für Altertümer interessierte, sonst war Roberto Tardellis Leben keinen Cent mehr wert.
Wo waren die Männer von hier aus hingeritten? Roberto beugte sich nieder und untersuchte die Hufspuren. Auf dem steinigen Boden war kaum etwas zu erkennen. Es war aussichtslos, hier den Fährtensucher spielen zu wollen. Schließlich war er kein Indianer.
In diesem Augenblick spürte er ein Kribbeln im Nacken. Er bewegte sich nicht. Eine Art sechster Sinn sagte ihm, dass er nicht mehr alleine war. Seine in vielen Gefahren geschulten Empfindungen verrieten ihm, dass er beobachtet wurde.
Langsam richtete er sich auf. Die Linke tastete unauffällig zum Reißverschluss seiner Jacke und zog ihn auf. Jetzt konnte er seinen Revolver rasch ziehen, wenn es erforderlich war. Die Flinte trug er in der rechten Hand. Sie war geladen, er brauchte nur den Sicherungshebel vorsichtig umzulegen, und das geschah völlig geräuschlos.
Dann handelte er blitzschnell. Er warf sich zur Seite, riss das Gewehr hoch und rollte hinter einem Stein in Deckung.
Roberto sah das Mädchen sofort. Sie war kaum zehn Meter entfernt und betrachtete ihn fassungslos. Sie hatte keine Waffe, und auch kein anderer Mensch war weit und breit zu sehen.
Verlegen grinsend kam Roberto wieder hoch und klopfte sich den Staub ab. Das Mädchen kletterte am Hang ein paar Meter höher und wandte sich wieder um. Sie war zweifellos eine Einheimische. Sie trug einen schwarzen Rock und eine bunte Bluse. Unter dem weißen Kopftuch sahen lange schwarze Haare heraus. Das Gesicht war fein geschnitten und wirkte sehr zart. Das Mädchen war höchstens Anfang zwanzig.
Roberto legte sein Gewehr auf den Boden und winkte ihr zu. Sie zögerte einen Moment dann kam sie näher. Jetzt erst erkannte Roberto, dass sie eine wirkliche Schönheit war, was in dieser Gegend nicht allzu häufig vorkam.
Sie wirkte schüchtern, aber doch selbstbewusst. Sie sah ihn offen an und senkte den Blick nicht, wie es normalerweise die Frauen taten, wenn sie einem Mann begegneten. Dann sagte sie ein paar Worte auf Türkisch, die Roberto natürlich nicht verstand. Er zuckte nur die Achseln und sah sie ein wenig hilflos an.
Sie lächelte sanft und fragte dann stockend: „Sie sind fremd hier?“
Ihr Englisch kam stockend und war schwer verständlich. Sie hatte Mühe, die Worte zu finden und in der richtigen Reihenfolge aneinanderzusetzen. Aber Roberto verstand sie, und das war die Hauptsache.
„Sie sprechen meine Sprache?“, fragte er erstaunt zurück.
Sie nickte. „Ich habe es in der Schule gelernt. In der Hauptstadt. Es ist sehr schwierig für mich.“
„Woher wussten Sie, dass ich diese Sprache spreche?“
Sie lächelte wieder. „Sie sehen aus wie ein Amerikaner.“ Die Worte kamen jetzt schon viel flüssiger.
„Wie heißen Sie?“, fragte Roberto plötzlich.
Sie sah ihn erstaunt an. Nach einer Pause sagte sie leise. „Alanya Takal. Ich wohne mit meiner Mutter oben in den Bergen.“
„Mein Name ist Reynolds“, sagte Roberto. „Ich bin Wissenschaftler. Ich suche hier nach den Überresten einer untergegangenen Kultur. Ich dachte, die Gegend sei hier so einsam, dass man nie einen Menschen trifft.“ Sie machte ein zweifelndes Gesicht. „Ich wusste nicht, dass es hier Altertümer geben soll. Es wohnen viele Menschen in den Bergen. Man sieht sie nur nicht. Sie wollen ungestört bleiben und so leben, wie sie schon immer gelebt haben.“
„Und Sie? Sie waren doch schon in der Stadt. Wollen Sie nicht zurück? Was hält Sie hier in dieser Einsamkeit?“
Ihr Gesicht wurde verschlossen. „Meine Mutter ist alt. Ich muss mich um sie kümmern.“
Roberto wunderte sich über sich selbst. Da sprach er hier mit einem Mädchen mitten in der Wildnis, das er noch nie vorher gesehen hatte. Und er unterhielt sich über persönliche Dinge, als würde er das Mädchen schon wer weiß wie lange kennen. Natürlich war ihm klar, dass er unbewusst versuchte, auf diesem Wege Informationen über die Dinge zu erhalten, die ihm wichtig waren. Er musste nach jedem Strohhalm greifen.
„Und Ihr Vater?“
Ein Schatten flog über ihr Gesicht. „Er ist tot. Man hat ihn erschossen.“
„Erschossen? Warum? Wer hat es getan?“
Sie musterte ihn schweigend, ehe sie antwortete. „Es gibt hier schlimme Menschen. Wer ihre Pläne stört, wird umgebracht. Mein Vater hatte das Pech, ihnen im Wege zu sein. Er wollte nicht mitmachen, als man ihn zwang ...“ Sie stockte und senkte den Blick.
Roberto war aufmerksam geworden. „Als man ihn zwang, sich am Mohn- oder Opiumschmuggel zu beteiligen”, vollendete er den Satz.
Sie sah erschrocken hoch und schlug sich auf den Mund. „Woher wissen Sie das? Sie gehören dazu!“
Roberto schüttelte den Kopf. „Nein. Sie können Vertrauen zu mir haben. Ich mag diese Verbrecher auch nicht. Ich werde Sie nicht verraten, sondern Ihnen helfen.“ Er hatte sich entschlossen, so dicht wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. Dieses Mädchen hatte offenbar ein starkes Gefühl für Ehrlichkeit. Und vielleicht konnte sie ihm wirklich helfen.
„Wollen Sie, dass Ihr Vater gerächt wird? Dass man seine Mörder bestraft?“
In ihre Augen stieg ein plötzlicher Ausdruck von Hass, der aber schnell wieder von der alten Sanftheit verwischt wurde. „Ja“, sagte sie leise, „ich will, dass die Mörder bestraft werden.“ Sie richtete den Blick zum Himmel. „Wenn Gott nicht will, müssen es die Menschen tun.“
„Kennen Sie den Mörder?“
Sie nickte. „Er heißt Ismet Erim und stammt aus dem Dorf in der Nähe. Er gehört zu einer Verbrecherbande, die mit Rauschgift handeln. Sie kaufen für wenig Geld die Mohnernte der Bauern und verkaufen sie für viel Geld weiter ins Ausland.“
„Woher wissen Sie das alles?“
„Mein Vater hat es mir erzählt.“ Roberto hockte sich auf einen Stein und blinzelte in die Sonne. Hier war das Schicksal auf seiner Seite. Endlich hatte er den Faden, an dem er alles aufrollen konnte. „Wollen Sie mir helfen?“
Sie nickte langsam. „Ja. Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch. Ich habe Sie vorhin eine ganze Weile beobachtet. Sie suchen nach Spuren. Sie wollen wissen, wohin die Reiter verschwunden sind, die letzte Nacht hier vorbeikamen.“
Roberto starrte sie erstaunt an. Das Mädchen überraschte ihn immer mehr. Sie schien genau zu wissen, worauf es ihm ankam. „Woher wissen Sie das alles?“
„Seit dem Tod meines Vaters beobachte ich sehr genau, was hier vorgeht. Die Männer kümmern sich nicht um mich. Ich bin nur ein Mädchen. Es ist ihnen egal, was ich weiß. Sie denken, ich könnte nichts tun, weil ich mit meiner Mutter allein bin. Aber sie haben sich getäuscht.“ Alanyas Augen funkelten, und ihre Wangen hatten sich leicht gerötet. Sie schien lange auf diesen Augenblick gewartet zu haben.
„Warum gehen Sie nicht zur Polizei?“
„Zur Polizei?“ Sie warf den Kopf in den Nacken. „Das ist völlig sinnlos. Man wird mich nicht einmal anhören. Ich gehöre zum Volk der Kurden, und Ismet Erim ist Türke. Sie hassen uns, und wir haben nie recht.“ Roberto wusste, dass in der östlichen Türkei eine Minderheit von Kurden lebte. Dieses Volk war auf das Staatsgebiet von vier Ländern verteilt, und überall wurde es verfolgt. Im Irak zum Beispiel hatten sich die Kurden jahrelang erfolgreich gegen die Übermacht einer modernen Armee mit Panzern und Flugzeugen gewehrt, bis sich die meisten Guerillas schließlich ergeben mussten, da sich Persien und der Irak auf ihre Kosten geeinigt hatten. Auch in der Türkei waren die Kurden lange Zeit blutig bekämpft worden. Jetzt ließ man sie zwar in Ruhe, aber der alte Hass schwelte noch.
Roberto streckte ihr die Hand hin. „Ab heute sind wir Partner.“
Sie kam ihm noch einen Schritt entgegen und drückte scheu seine Hand. Die sanfte Berührung weckte in Roberto eine Art Beschützerinstinkt, und er schwor sich, diesem Mädchen zu ihrem Recht zu verhelfen.
„Was soll ich tun?“, fragte sie.
„Ich muss wissen, wo die geheimen Mohnfelder sind“, sagte Roberto. „Das Opium, das von diesen Feldern kommt, wird Tausende von Menschen unglücklich machen, und einige gewissenlose Verbrecher werden sich dabei die Taschen füllen. Ich habe die Absicht, das zu verhindern.“
Sie überlegte einen Moment. „Ich weiß, wo diese Felder sind“, meinte sie schließlich. „Es gibt viele Felder in dieser Gegend. Die meisten stehen unter staatlicher Aufsicht und werden ständig kontrolliert. Die Behörden überwachen auch die Ernten und kaufen sie auf. Viele Bauern könnten sonst gar nicht leben.“
„Ich weiß“, sagte Roberto. „Diese Felder meine ich nicht. Wo sind die anderen? Die Felder, die nicht überwacht werden?“
Sie sah ihn an, und ihre Augen strahlten Entschlossenheit aus. „Ich werde Ihnen diese Felder zeigen. Kommen Sie heute Abend bei Einbruch der Dämmerung wieder hierher.“
Er nickte. „Gut. Haben Sie keine Angst? Man könnte Sie ebenfalls ermorden.“
„Sie werden es nicht begreifen“, meinte sie leise, „aber es herrscht Blutrache zwischen meiner Familie und diesem Ismet Erim. Leider habe ich keine männlichen Verwandten. Ich muss diese Angelegenheit selbst in die Hand nehmen, auch wenn es ungewöhnlich ist. Und Sie werden mir dabei helfen.“
Roberto spürte ein leichtes Frösteln, als das junge Mädchen diese bitteren Worte sprach.
Sie wandte sich um und kletterte den Hang wieder hinauf. Vom Steinwall aus blickte sie noch einmal herunter. „Seien Sie pünktlich heute Abend. Ich warte auf Sie.“
Dann verschwand sie, und Roberto starrte noch einen Augenblick nach oben. Langsam schüttelte er den Kopf. Es war verrückt und kam ihm vor wie ein Traum. Er wollte es also mit einer Bande entschlossener Verbrecher aufnehmen und hatte als Hilfe ein kurdisches Mädchen, das weitab von jeder Zivilisation in der Wildnis hauste. Doch was war nicht verrückt bei diesem Auftrag? Er nahm sich vor, Colonel Myer bei seiner Rückkehr zu sagen, dass er zunächst von Bergen genug hatte.
Roberto zuckte die Achseln. Man würde sehen, ob er jetzt weiterkam. Allein hätte er es vermutlich nicht geschafft. Er war ja noch nicht einmal in der Lage, die Pferdespuren zu verfolgen. Roberto war gespannt, ob Alanya ihm wirklich helfen würde. Eines immerhin war sicher: Das Mädchen hatte ihn sehr beeindruckt.
Roberto ging zu seinem Pferd und schwang sich in den Sattel.