Читать книгу Mordreigen in Aurich: Ostfrieslandkrimi: Tjade Winkels ermittelt 2 - Alfred Bekker - Страница 7

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Grelles Sonnenlicht drang durch den Spalt zwischen den dichten Gardinen. Die Vögel zwitscherten ununterbrochen durch das gekippte Fenster. Tjade Winkels öffnete die Augen und streckte sich. Aber er blieb noch liegen. Neben dem Bett ertönte ein leises Winseln. Winkels stützte sich auf den rechten Ellbogen und blickte nach unten. Dort stand ein Hund und wedelte freudig mit dem Schwanz.

„Ja, schon gut, du musst raus, nicht wahr?“

„Wuff.“

Das Tier legte den Kopf schief und blickte ihn mit großen Augen an. Es war eine Promenadenmischung mit weiß-braunem Fell. Winkels hatte ihn Harm getauft. Der Hund gehörte ursprünglich einem Mordopfer.

Der Mann hatte keine Angehörigen, und es gab auch sonst niemanden, der das Tier haben wollte. Winkels war zu dieser Zeit noch der leitende Ermittlungsbeamte der Polizeiinspektion Aurich gewesen. Er brachte es nicht über sich, den damals noch kleinen Hund ins Tierheim zu bringen. Deshalb entschied er sich, ihn zu behalten und für ihn zu sorgen.

Bisher hatte Winkels diesen Entschluss nicht bereut. Harm war für ihn zu einem treuen Gefährten geworden, den er nicht mehr missen wollte. Hinzu kam, dass Winkels selbst keine weiteren Verwandten besaß. Die Scheidung von seiner Frau lag schon etliche Jahre zurück. Und für Kinder hatte er nie Zeit gehabt. Die Arbeit stand für ihn immer an erster Stelle.

Vielleicht wollte er es auch gar nicht anders.

Und so blieb ihm jetzt nur noch der Hund, mit dem er seine Fälle besprechen konnte. Wenn er so recht darüber nachdachte, hatte das viele Vorteile.

Harm hörte ihm aufmerksam zu und er widersprach nie.

Winkels blickte auf den Wecker.

Viertel vor acht? He, wann war er denn gestern überhaupt ins Bett gekommen? Er stand auf, ging zum Fenster und zog die Vorhänge ganz zur Seite. Nach mehreren unfreundlichen Tagen voller Regen und Nebel hatte die Witterung umgeschlagen. Der Himmel leuchtete wie hellblaue Seide.

„Unser gestrige Ausflug ans Große Meer war ganz schön anstrengend. Hast du wenigstens gut geschlafen, Harm?“

„Wuff.“

„Das ist schön. Und das mit dem Ferienhaus muss ich mir nochmal genau durch den Kopf gehen lassen.“

„Wuff.“

„Klar, überleg du es dir auch nochmal.“

Auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses tummelte sich eine Schar Tauben in der frühen Morgensonne. Winkels ging ins Badezimmer und erledigte seine Morgentoilette. Nachdem er sich angezogen hatte, öffnete er das Fenster, um frische Luft hereinzulassen.

Winkels versuchte, seinen Lebensabend so angenehm wie möglich zu gestalten. Er ging hin und wieder ins Theater oder ins Kino oder besuchte Konzertveranstaltungen.

Aber das alles änderte nichts daran, dass er sich langweilte. Er verließ das Schlafzimmer, ging in den Flur und nahm seinen Mantel vom Garderobenhaken. Im selben Moment klingelte es an der Haustür. Harm begann zu bellen.

Winkels erwartete keinen Besuch.

Vielleicht ein Vertreter, überlegte er.

Abermals klingelte es. Diesmal jedoch länger.

„Da hat es offenbar jemand eilig“, murmelte Winkels.

Er öffnete die Tür. Eine Frau stand draußen. In ihrem blassen Gesicht wirkte der Mund wie ein heller Strich.

„Moin, Tjade“, sagte sie mit brüchiger Stimme.

„Hermina“, erwiderte er überrascht.

„Ich hoffe ich störe nicht.“

„Äh, nein, natürlich nicht.“

Hermina Frerichs war genau wie er Mitglied im örtlichen Boßelverein. Allerdings hatte er noch nicht allzu oft mit ihr mehr als ein paar Worte gewechselt. Ihrem Mann gehörte eine Immobilienfirma.

„Ist etwas passiert? Kommst du mit irgendetwas nicht klar?“, fragte Winkels vorsichtig.

„Ich brauche deine Hilfe.“

Er machte eine einladende Handbewegung. „Komm doch erst mal rein.“

Winkels führte Frau Frerichs ins Wohnzimmer, einen großen hellen Raum mit bequemen Möbeln. Er deutete auf einen der Sessel.

„Nimm Platz.“

Sie setzte sich. Winkels ließ sich auf dem breiten Sofa nieder. Schweigend blickten sie sich an. Langsam wurde er neugierig.

„Wie kann ich dir denn nun helfen?“, fragte er nach einer Weile.

„Mein ... mein Mann ... Thilo, du kanntest ihn doch, oder?“

„Ja. Wir haben uns auf der Weihnachtsfeier vor zwei Jahren kennengelernt.“

„Er ... wurde ermordet.“

„Ich hörte davon im Verein. Doch ich wollte dir nicht zu nahetreten. Mein Beileid ...“

„Man hat ihn ...“

Sie verstummte, senkte den Kopf und suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.

„Nun hole erst einmal tief Luft und sammle dich“, redete Winkels beruhigend auf sie ein. „Wenn ich etwas für dich tun kann, dann tue ich es. Aber sag mir erst mal in aller Ruhe, was eigentlich los ist.“

Sie beherrschte sich mühsam, betupfte mit dem Tuch ihre Augenwinkel und blickte ihn dann an.

„Thilo wurde ja ermordet, und die Polizei glaubt, dass mein ...“ Wieder stockte ihre Stimme, „ ...dass unser Sohn der Täter ist.“

Jetzt war es raus.

„Euer Sohn?“

„Kai.“

„Wie kommt denn die Polizei darauf?“

„Thilo wurde mit einem Jagdgewehr erschossen. Und Kai ist Jäger.“

„Das ist alles?“, fragte Winkels erstaunt.

„Für die Polizei reichte es, um Kai in Untersuchungshaft zu stecken.“

„Verstehe“, murmelte er.

„Weißt du, wer die Ermittlungen leitet?“ Tjade Winkels konnte es sich bereits denken.

„Ein gewisser Kommissar Dröver.“

„Kriminalhauptkommissar Uwe Dröver?“

„Ja.“

Typisch, dachte Winkels. Das sieht ihm wieder einmal ähnlich. Macht sich so wenig Arbeit wie möglich. Geht immer den leichtesten Weg, um einen Fall abzuschließen.

„Aber es muss doch noch andere Gründe geben“, forschte er weiter. „Nur weil dein Sohn Jäger ist, muss er nicht zwangsläufig der Täter sein. Kein Richter würde bei einer so dünnen Beweislage Untersuchungshaft anordnen. In Aurich und Umgebung gibt es schätzungsweise fünf bis sechs Dutzend Jäger und vermutlich noch mehr Leute, die eine Schusswaffe besitzen.“

Hermina Frerichs sah noch eine Spur blasser aus.

„Da ist noch mehr. Kai und mein Mann hatten kein allzu gutes Verhältnis. Im Grunde genommen hatten sie überhaupt keins. Sie haben sich ständig gestritten. Und meistens so laut, dass sogar die Nachbarn jedes Wort verstehen konnten. Dieser Kommissar Dröver ist davon überzeugt, dass Kai seinen Vater während eines Streits in einer Affekthandlung getötet hat.“

„Und was glaubst du?“

„Das ist Unsinn. Natürlich haben sie sich oft gestritten, aber Kai wäre doch niemals auf den Gedanken gekommen, seinen Vater zu erschießen.“

„Weshalb haben sie sich gestritten?“, fragte Winkels.

„Na, wegen der Firma. Thilo hat die Führung nur widerstrebend an seinen Sohn übergeben, aber trotzdem glaubte er immer noch, sich einmischen zu müssen. Dabei wurde er zunehmend vergesslich und hatte überhaupt keine Ahnung, um was es überhaupt ging.“

„Was meinst du damit, er wurde vergesslich?“

„Die Ärzte hatten bei ihm erste Anzeichen einer Demenz festgestellt. Er bekam zwar Medikamente, aber die können ja den Prozess nicht aufhalten, sondern nur verlangsamen.“

Winkels nickte.

Er hatte das eine oder andere Gerücht schon selbst gehört.

„Wo wurde dein Mann erschossen?“

„Auf der Terrasse. Er saß in einem der Liegestühle.“

„Dann brauchte sich also niemand Zutritt zum Haus zu verschaffen?“

„Nein.“

„War er allein zu Hause?“

„Ja, leider. Kai musste an dem Abend noch in der Firma einige Rechnungen überprüfen, und ich war zu Besuch bei meiner Cousine in Hamburg. Ich bin erst am nächsten Tag zurückgekommen.“

„War Kai allein der Firma?“

„Ja.“

„Dann hat er also kein Alibi?“

Hermina Frerichs schüttelte den Kopf.

„Nein. Das ist ein weiterer Grund, weshalb dieser Kommissar Dröver ihn für den Mörder hält.“

„Verstehe“, meinte Winkels. „Wer könnte denn sonst noch ein Interesse am Tod deines Mannes haben?“

„Niemand. Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Er war ein alter Mann und hat sich nie im Leben etwas zuschulden kommen lassen. Warum sollte ihn jemand umbringen?“

„Ja, warum?“, überlegte Winkels. „Hattest du den Eindruck, dass sich dein Mann vor etwas fürchtete?“

„Nein.“

„Hatte er viel Geld bei sich?“

„Sehr wenig.“

„Hattest du nie, wenn du nach Hause kamst, dort jemanden bei deinem Mann vorgefunden, den du nicht kanntest?“

„Nein.“

„Und du bist deinem Mann nie mit einer fremden Person begegnet?“

„Nein, Tjade.“

„Wurde etwas gestohlen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Alles war noch an seinem Platz.“

Winkels holte tief Luft.

Wortlos starrte er Hermina Frerichs eine Zeitlang an. Gleichzeitig spürte er, wie ein seltsames Gefühl seine Wirbelsäule emporkroch. Es war jenes prickelnde, fast stechende Gefühl, das er immer dann verspürt hatte, wenn er wusste, dass an einer Geschichte mehr dran war, als es zuerst den Anschein hatte.

„Und du bist wirklich sicher, dass er keine Feinde hatte?“

„Selbst wenn, glaube ich kaum, dass jemand auf die Idee gekommen wäre, ihn zu erschießen. Thilo war bei allen beliebt. Auch bei seinen Stammtischfreunden. Die treffen sich mindestens einmal die Woche in der ‚Auricher Tenne‘. Du kannst sie gerne fragen.“

„Selbst wenn jemand etwas gegen Thilo hatte, dürfte es schwer werden, einen Anhaltspunkt zu finden, um wen es sich dabei handelt“, gab Winkels zu bedenken. „Wenn wir also Rache und einen missglückten Einbruch als Motiv ausschließen, dann bliebe noch eine dritte Möglichkeit.“

„Welche?“, wollte sie wissen.

„Ein politisches Motiv. Schließlich war dein Mann Unternehmer.“

„Das glaube ich nicht“, sagte sie und schüttelte immer energischer den Kopf. „Nein, die Möglichkeit können wir ausschließen.“

„Und wieso?“, fragte Winkels.

„Mein Mann hatte mit Politik nicht viel am Hut. Im Grunde genommen überhaupt nichts. Er kannte ein paar Leute im Rathaus, aber das war es auch schon.“

„Ja, vielleicht hast du recht. Wenn er aus politischen Motiven erschossen worden wäre, hätte es schon längst einen Bekennerbrief gegeben. Solche Leute sind in erster Linie auf das große Publikum aus.“

Winkels wiegte leicht den Kopf hin und her. Es wirkte, als würde er angestrengt nachdenken. „Na gut“, meinte er schließlich. „Ich kümmere mich um den Fall.“

„Wirklich?“, fragte Hermina Frerichs erleichtert. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft huschte ein kurzes Lächeln um ihr Gesicht.

„Aber ich kann dir nichts versprechen“, betonte er.

„Das habe ich auch gar nicht erwartet. Wichtig ist nur, dass sich noch jemand darum kümmert – nicht nur der Kommissar.“ Sie erhob sich und reichte ihm die Hand. „Vielen Dank, Tjade.“

Er brachte sie zur Haustür. Dort warf sie ihm noch einmal einen dankbaren Blick zu und ging Richtung Gartentor. Winkels schloss die Tür. Sein Blick fiel auf Harm, der neben ihn stand und winselte.

„Oh, verdammt, dich hätte ich ja beinahe vergessen.“

„Wuff.“

Winkels streifte einen leichten Mantel über, nahm die Hundeleine vom Haken und befestigte sie an Harms Halsband. Sofort wedelte der Hund heftig mit dem Schwanz. Frerichs‘ hatten keinen Hund. Und das erstaunte Winkels. Er hätte sich Thilo Frerichs so gut vorstellen können, wie er den Hund an der Leine spazieren führte. Soweit er wusste, hatten sie auch keine Katze. Sie besaßen überhaupt keine Tiere.

Winkels öffnete die Haustür und trat hinaus in den sonnigen Tag. Harm zerrte an der Leine. Winkels folgte ihm zum Gartentor. Während die beiden die Straße entlanggingen, überlegte der ehemalige Kriminalhauptkommissar, wie er an den Fall herangehen wollte.

Wichtig war vor allem, dass Dröver nichts davon entfuhr. Zumindest vorläufig nicht. Sein ehemaliger Stellvertreter und jetzige Leiter der Polizeiinspektion Aurich schätzte es nämlich gar nicht, wenn sich jemand in seine Fälle einmischte.

Mordreigen in Aurich: Ostfrieslandkrimi: Tjade Winkels ermittelt 2

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