Читать книгу Mordreigen in Aurich: Ostfrieslandkrimi: Tjade Winkels ermittelt 2 - Alfred Bekker - Страница 9
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ОглавлениеDie ‚Auricher Tenne‘ befand sich in einer kleinen Seitenstraße. Winkels kannte das Lokal noch aus seiner aktiven Zeit bei der Polizei. Der frühere Besitzer veranstaltete in den Hinterräumen regelmäßig illegale Glücksspiele, und ebenso regelmäßig wurden dort Razzien durchgeführt. Winkels hatte als junger Polizist an einigen dieser Einsätze teilgenommen. Schließlich wurde das Lokal geschlossen. Mehrere Jahre interessierte sich niemand für den Laden. Dann kamen einige junge Leute auf die Idee, aus der ‚Auricher Tenne‘ ein Szene-Lokal für junge Künstler zu machen.
Anfangs lief der Laden gut, doch dann kamen Gerüchte auf, in dem Lokal würde mit Drogen gehandelt. Bei einer Hausdurchsuchung fanden die Polizisten im Keller eine Hanfplantage. Die Besitzer landeten im Gefängnis, und das Lokal stand einige Jahre leer. Erst vor acht Jahren wurde es wiedereröffnet. Nebeneinander schritten Winkels und Harm auf den Eingang zu. Über der Tür hing ein Schild aus roten Leuchtbuchstaben mit einem grünen Rand. Die Tür knarrte, als Winkels sie öffnete.
Im Innern herrschte diffuses Licht. Seine Augen brauchten einige Sekunden, bis sie sich daran gewöhnt hatten. Erst dann konnte er Einzelheiten erkennen. Gäste waren keine anwesend. Auf der rechten Seite standen etwa fünfzehn Tische. Im hinteren Bereich führten zwei Türen zu den Toiletten. Auf der linken Seite gab es einen langen Tresen, hinter dem eine Frau stand. Ihr schwarzes Haar war hochgesteckt. Sie trug einen roten Pullover mit V-Ausschnitt und war etwa vierzig Jahre alt.
„Moin“, sagte Winkels, während er und Harm sich dem Tresen näherten.
Die Frau verzog ihre grell geschminkten Lippen zu einem Lächeln und erwiderte den Gruß.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete Winkels. „Ich hätte gerne ein Glas Mineralwasser.“
„Gerne.“
Sie griff unter den Tresen, holte eine Flasche Wasser hervor und goss etwas davon in ein Glas.
„Mit Eis?“, erkundigte sie sich.
„Ohne.“
Sie stellte das Glas vor Winkels auf den Tresen.
„Bitte sehr. Macht einen Euro dreißig.“
Winkels zog seine Brieftasche hervor, entnahm ihr ein Zwei-Euro-Stück und legte es auf den Tresen. „Stimmt so.“
„Oh, vielen Dank.“
Er trank einen Schluck und blickte sich im Lokal um. „Nicht viel los hier“, meinte er beiläufig.
„Ist noch zu früh. Die ersten Gäste kommen so um die Mittagszeit.“
„Gehört Ihnen dieses Lokal?“
„Ach wo, mein Bruder ist der Besitzer. Ich helfe hier nur manchmal aus.“
Winkels stellte das halbvolle Glas auf den Tresen.
„Aber Sie kennen doch mit Sicherheit einige der Gäste, die hier verkehren?“, forschte er weiter.
Plötzlich glomm so etwas wie Misstrauen in ihren Augen auf. „Weshalb wollen Sie das wissen?“
„Ich stelle einige Ermittlungen an.“
„Sind Sie etwa von der Polizei?“
„Hm“, machte Winkels, was sowohl ‚Ja‘ als auch ‚Nein‘ bedeuten konnte. Er wollte sich später nicht dem Vorwurf aussetzen, er habe sich als Polizeibeamter ausgegeben.
„Sie kommen wegen dem alten Herrn Frerichs, nicht wahr?“, fragte die Frau.
„Sie wissen davon?“
„Jeder weiß davon. Er wurde doch ermordet. Erschossen. Und die Polizei verdächtigt seinen Sohn.“
„Sie sind gut informiert“, stellte Winkels fest.
„Man hört halt so einiges.“
„Soweit ich weiß, nahm der alte Herr Frerichs hier regelmäßig an einem Stammtischtreffen teil.“
„Ja, stimmt. Dort drüben sitzen sie immer.“
Sie deutete mit dem ausgestreckten Arm nach vorn. „An dem Tisch dort in der Ecke.“
„Wer gehört denn noch dazu?“
„Hm, da muss ich mal kurz überlegen.“ Sie richtete ihre Augen zur Decke, als könnte sie von dort eine Stammtischliste ablesen.
„Also, da ist der Herr Dübell, dann der Herr Peters, der Herr Menninga, und natürlich Egge Jansen. Wie die beiden anderen heißen, weiß ich leider nicht. Sie kommen nur hin und wieder.“
„Jansen?“, wiederholte Winkels.
„Er ist früher mal zur See gefahren. Auf der Brust hat er ein Tattoo. Eine Meerjungfrau. Hat er mir mal gezeigt.“
Sie lächelte zaghaft, aber Winkels überging das und stellte die nächste Frage.
„Und wissen Sie auch, was die anderen Herren beruflich machen?“
„Der Dübell ist Taxifahrer. Hat sein eigenes Unternehmen. Er steht mit seinem Wagen immer am Busbahnhof. Frauko Peters besitzt einen Kiosk hier um die Ecke, und Jan Menninga arbeitet in der Baubranche, soweit ich weiß.“
„Arbeitet dieser Jansen auch noch?“, fragte Winkels.
„Nein, der ist Frührentner. Hatte einen schweren Unfall und kann seitdem den linken Arm nicht mehr richtig bewegen.“
„Was für einen Unfall?“
„Keine Ahnung.“
Winkels trank noch einen Schluck.
„Wissen Sie, wo dieser Jansen wohnt?“
„Gehen Sie einfach die Straße runter. Das letzte Haus auf der rechten Seite. Nummer vierzehn. Er wohnt unten im Keller.“
Winkels stellte das Glas vorsichtig ab. „Wie oft treffen sich diese Herren denn hier?“
„Einmal die Woche. Jeden Dienstagabend.“
„Und worüber unterhalten sie sich?“
„Woher soll ich das wissen?“, fragte sie pikiert. „Glauben Sie, ich belausche die Gespräche unserer Gäste?“
„Aber nein, natürlich nicht“, wiegelte Winkels ab. „Dieser Verdacht liegt mir völlig fern. Vielleicht haben Sie mal irgendetwas aufgeschnappt. So ganz zufällig.“
„Nein, habe ich nicht. Ich weiß nur, dass die Herren manchmal ziemlich laut sind. Vor allem dieser Herr Frerichs. Der grölt immer so ‘rum, dass es das ganze Lokal mitkriegt.“
Winkels trank das Glas leer und stellte es zurück auf den Tresen. „Vielen Dank“, sagte er. „Sie haben mir sehr weitergeholfen.“
„Komm Harm. Wir gehen“, sagte Winkels dann an Harm gewandt, der sich sofort erhob.
*
Schmale graue Häuser begrenzten die Straße zu beiden Seiten. Winkels suchte und fand die Nummer 14. Es war ein fünfstöckiges Gebäude mit einer grauen Fassade und kleinen Fenstern. Winkels bezeichnete diese Häuser als ‚Menschenfallen‘. Von oben bis unten eine Wohnung wie die andere, ein Badezimmer über dem anderen, eine Küche über der anderen, und die Wände so dünn, dass jedes Geräusch hindurchdrang. Sechs flache Stufen führten zum Eingang hinauf. Die Tür stand offen. Im düsteren Hausflur roch es nach Desinfektionsmittel. An der rechten Wand hingen einige Metallbriefkästen. Die Namensschilder waren kaum zu entziffern. Auf der linken Seite führte eine Treppe in die oberen Stockwerke.
Winkels blieb kurz stehen und blickte sich um. Schließlich entdeckte er im hinteren Teil des Flurs einen grünen Vorhang. Er ging darauf zu und zog ihn zur Seite. Dahinter führte eine steile Treppe in den Keller. Winkels tastete nach einem Lichtschalter. Dann nahm er seinen Hund auf den Arm und stieg vorsichtig die ausgetretenen Stufen hinab. Unten angekommen, setzte er Harm wieder auf den Boden. Winkels entdeckte mehrere Türen. Eine führte in den Heizungskeller, drei andere zu den Abstellräumen.
Die Wohnung von Egge Jansen lag im hinteren Teil des Kellergangs. Eine Klingel gab es nicht.
Winkels klopfte. Er lauschte. Bevor er noch einmal ansetzen konnte, ertönten von drinnen Schritte.
Die Tür wurde geöffnet. Ein untersetzter Mann erschien. Winkels schätzte ihn auf sechzig Jahre. Er konnte genauso gut älter, aber auch jünger sein. Er hatte einen runden Kopf, auf dem weißer Flaum wucherte. Seinem hageren stoppelbärtigen Gesicht sah man an, dass er es gewohnt war, alleine zu sein. Er trug ein weißes Unterhemd, eine braune Hose und blaue Schlappen. Seine blauen Augen wirkten müde.
„Ja?“, fragte er.
„Moin“, grüßte Winkels. „Sind Sie Herr Jansen?“
„Wer will das wissen?“
„Mein Name ist Winkels, Tjade Winkels. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.“
„Worüber?“
„Es geht um den Tod von Thilo Frerichs.“
„Sind Sie etwa Reporter oder so was?“
„Nein.“
„Schade.“
„Weshalb?“
„Na, wenn Sie von ‘ner Zeitung wären, bestünde die Möglichkeit, dass Sie etwas springen lassen.“
„Diese Möglichkeit bestünde auch so“, gab Winkels lächelnd zurück.
„Warum interessieren Sie sich dafür?“
„Seine Frau hat mich beauftragt, einige Nachforschungen anzustellen.“
„Dann sind Sie also Privatdetektiv?“
„Nicht direkt. Ich versuche nur, die Wahrheit herauszufinden.“
„Welche Wahrheit?“
„Wer Thilo Frerichs umgebracht hat.“
„Na, sein Sohn war‘s. Die Bullen haben ihn schließlich verhaftet.“
„Das muss nichts heißen“, erwiderte Winkels. „Die Bullen ... die Polizei könnte sich auch irren.“
Jansen überlegte einen Moment. „Na, schön“, meinte er schließlich. „Kommen Sie rein.“
Winkels und Harm folgten der Aufforderung. Jansen schloss die Tür hinter ihnen. Mit ein paar schnellen Blicken nahm Winkels das Zimmer in Augenschein. Was er sah, verriet ihm recht wenig über den Mann. Der spärlich möblierte Raum war durch eine Anzahl von Fotografien und Farbdrucken verschönert worden. Es handelte sich ausnahmslos um Bilder von Schiffen und Leuchttürmen. Einige waren gerahmt, andere mit Reißzwecken an die Wand geheftet.
In dem Rahmen des stockfleckigen Spiegels über dem Waschbecken steckten ein paar bunte Ansichtskarten. Quer vor einer Ecke des Zimmers war ein Vorhang angebracht, der jetzt offenstand. Dahinter hingen drei billige Hosen und eine Jacke. Auf dem Boden standen mehrere Paar Schuhe. Auf dem Tisch am Fenster waren einige Bierflaschen aufgereiht. Auf der rechten Seite stand eine alte Couch, die Jansen als Bett diente. Die Decke und das Kissen waren zerwühlt. An der Wand hing ein kleiner Flachbildfernseher. Mit einer müden Handbewegung deutete Jansen auf einen der beiden Stühle, die in der Mitte des Zimmers standen.
„Setzen Sie sich.“
„Danke.“
„Möchten Sie was zu trinken? Ein Bier vielleicht?“
Winkels schüttelte den Kopf, während er Platz nahm. „Nein, danke.“
„Also ich genehmige mir erst mal eins.“
Er nahm eine der Flaschen vom Tisch, öffnete sie und trank einen Schluck. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab.
„Ah, das tat gut“, sagte er grinsend.
Winkels deutete auf die Bilder, die an den Wänden hingen. „Sie sind zur See gefahren?“
„Ja, auf einem Fischkutter.“
„Ist bestimmt ein harter Job.“
„Und ob.“ Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. „Aber damals hat sich das Geschäft wenigstens noch gelohnt. Heute haben die meisten Fischer Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen. Zu viele Vorschriften, wissen Sie.“
„Wo war denn Ihr Heimathafen? In Hamburg?“
„Ne, Emden natürlich. Ich bin ein waschechter Ostfriese.“ Er lehnte sich zurück und stellte die Bierflasche auf den Tisch. „Also, Sie wollten mit mir über den alten Frerichs reden, oder?“
„Ja, stimmt“, bestätigte Winkels.
„Na, gut. Was wollen Sie denn wissen?“
„Sie haben sich jeden Dienstag in der ‚Auricher Tenne‘ getroffen, nicht wahr?“
„Ja. Dort haben wir unseren Stammtisch.“
„Und was machen Sie den ganzen Abend?“
„Wir spielen Karten“, antwortete er. „Natürlich nur zum Spaß“, fügte er schnell hinzu. „Also nicht um Geld oder so. Das wäre ja auch illegal. Und dann würde uns der Wirt sofort rausschmeißen.“
„Wie lange kennen Sie sich denn schon?“
Jansen überlegte einen Moment. „Das müssten jetzt gut fünfzehn oder sechzehn Jahre sein. Frerichs und Dübell kannten sich schon etwas länger. Wir anderen kamen später hinzu. Ursprünglich waren wir mal zu neunt. Aber einige sind inzwischen schon gestorben.“
„Glauben Sie, einer von ihnen wäre zu einem Mord fähig?“, fragte Winkels vorsichtig.
„Nie und nimmer“, erwiderte Jansen scharf. „Das sind alles ehrliche Geschäftsleute. Für die würde ich meine Hand ins Feuer legen.“
„Können Sie sich denn ein Motiv vorstellen, weshalb man Thilo Frerichs ermordet hat?“
Der Alte schüttelte heftig den Kopf.
„Überhaupt nicht. Ich kann mir das gar nicht erklären. Der war immer zu allen freundlich. Hat auch geholfen, wenn mal jemand in Schwierigkeiten war. Aber seit einiger Zeit verhielt er sich irgendwie merkwürdig. Konnte sich nicht mal an die Spielregeln erinnern. Und im nächsten Moment war er wieder vollkommen klar. Das kam und ging bei ihm. Lag vermutlich am Alter. Da wird man leider vergesslich.“
„Ja, das geht uns wohl allen so“, meinte Winkels.
„Also mir nicht. Ich bin immer noch vollkommen klar im Kopf.“ Er nahm wieder einen Schluck aus der Flasche. „Und dann war da natürlich der Ärger mit seinem Sohn. Das hat dem Thilo auch ganz schön zugesetzt.“
„Ärger?“, fragte Winkels. „Was meinen Sie damit?“
„Na, so richtig verstanden habe ich‘s auch nicht. Aber es ging wohl um Geld. Dreihunderttausend Euro.“
„Dreihunderttausend?“
„Ja, ganz schön viel, nicht wahr?“
„Hat er auch erwähnt, wofür sein Sohn das Geld braucht?“
„Nein. Ich bin sowieso nicht ganz schlau geworden aus der Sache. Irgendwie ging es wohl um eine Investition. In irgendein Geschäft.“
„Mehr hat er nicht erzählt?“
„Doch, aber das meiste davon war nur wirres Zeug. Und um ehrlich zu sein, es hat mich auch nicht sonderlich interessiert.“
Dreihunderttausend Euro, überlegte Winkels. Das wäre natürlich ein Motiv.
„Die Frau in der ‚Auricher Tenne‘ sagte mir, dass außer Ihnen, Frerichs, Peters und Dübell noch zwei weitere Männer zum Stammtisch gehören.
„Ja, Kurt Schepke und Conrad Rhaude. Schepke hat früher bei der Bahn gearbeitet. Als Lokführer. Ist jetzt pensioniert. Und Rhaude war früher im Rathaus angestellt.“
„Wissen Sie, wo die beiden wohnen?“
„Na klar. Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Adressen auf.“
Er schlug zusätzlich in einem zerfledderten Adressbuch nach und nahm dann einen Stift zur Hand.
Er kritzelte ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier und reichte es ihm. Winkels verabschiedete sich von Jansen.
Vorher hatte er einen Zwanziger dezent in seine Hand wechseln lassen.
Als Nächstes wollte er Frauko Peters einen Besuch abstatten.
Der Kiosk lag nur wenige Meter von der Kneipe entfernt. Doch zu Winkels Überraschung war er geschlossen. An der Glasscheibe entdeckte er ein Schild mit der Anschrift des Inhabers.