Читать книгу Juwelen, Mörder, Tote - Sechs Extra Krimis Juni 2018 - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 10
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ОглавлениеRobert hielt sein Versprechen und tauchte im Frühstücksraum des Hotel Massilia auf, als sie vor ihrem Milchkaffee und dem Weißbrot saß. Sie war gerade damit beschäftigt, sich die Marmelade auf das Brot zu streichen.
Es war Kakteenmarmelade, und sie empfand sie als ziemlich bitter. Aber es gab hier nichts anderes.
Er setzte sich zu ihr an den Tisch.
„Guten Morgen, Elsa.“
„Guten Morgen...“
„Gut geschlafen?“
„Es ging.“
„Na ja, verständlich - nach dem, was gestern Abend geschehen ist. Du solltest die Sache so schnell wie möglich vergessen.“
„Ich versuche es. Ehrlich. Aber das ist leichter gesagt als getan. Ich habe einen ziemlichen Schrecken gekriegt...“
„Wenn wundert's?“
„Ich meine, man hat solche Dinge so oft im Kino oder im Fernsehen gesehen, aber wenn es einem dann selbst passiert. Das ist dann doch etwas ganz anderes.“
„Natürlich.“
„Möchtest du auch etwas frühstücken, Robert?“
„Nein, danke. Ich habe schon.“
Sie musterte sein Gesicht, während sie sich das Brot in den Mund schob und abbiß. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher, vielleicht war das ihre wichtigste Empfindung ihm gegenüber.
Sie fand ihn auch sonst als anziehend, aber dieses Gefühl war beherrschend.
Bei einem Mann war für sie schon immer das Wichtigste gewesen, dass er ihr ein Gefühl von Sicherheit gab. Und dass er wusste, was er wollte und was zu tun war. Ein Mann, der vorausblickte, der Gefahren kommen sah, lange vor allen anderen.
Sie sah in sein Gesicht und dachte: Ja, er weiß was er will. Dies war das Gesicht eines entschlossenen Charakters, der keinen Moment zweifelt. Jedenfalls nicht an sich. Am Rest der Welt vielleicht, aber nie an sich selbst und seiner Kraft, seiner Intelligenz und seiner Überlegenheit.
Elsa war ganz anders.
Sie zweifelte ständig an sich, an ihrem Aussehen, ihrer Figur, ihrem Charakter, ihren Fähigkeiten, ihrer Intelligenz..., an allem, was sie betraf. Alles schien perfekt und schön und gut und überlegen zu sein, nur sie nicht.
Sie wusste nicht, woher das kam, und sie mochte auch nicht darüber nachdenken. Schon gar nicht in diesem Augenblick. Nein, in diesem Augenblick, als sie Robert gegenübersaß schon gar nicht.
„Was machst du?“, fragte er plötzlich.
Seine tiefe, ruhige Stimme... Ja, es war nicht nur das Gesicht, das ihr Sicherheit vermittelte. Es war auch diese Stimme. Ein Mann, der eine solche Stimme hatte, die kein bisschen unsicher klang, der musste sich seiner Sache einfach sicher sein, der konnte keine Zweifel haben.
Diese zersetzenden Zweifel. Sie verscheuchte diesen Gedanken erst einmal erfolgreich. Sie wusste ohnehin, wohin das führte. Geradewegs in eine Depression hinein.
Sie wusste es, weil sie es schon so oft erlebt hatte. Und sie war dumm genug, es immer wieder mitzumachen.
Ihr Arzt hatte ihr geraten, in eine psychologische Beratung zu gehen, aber sie hatte das empört von sich gewiesen.
Roberts Stimme drang wie ein blitzendes Messer durch ihre trüben Gedanken und durchtrennte den Nebel, der in ihrem Inneren herrschte.
„Was ich mache? Wie meinst du das?“
„Beruflich meine ich.“
„Ach so.“
„Also?“
„Ich studiere.“
„Was?“
„Germanistik und Kunst.“
„Interessant.“
Der Klang seiner Stimme hätte jedem anderen verraten, dass er es nicht besonders interessant fand. Aber sie hörte das nicht. Sie hatte einfach keine Ohren dafür.
„Auf Lehramt?“, fragte er.
„Ja. Erst habe ich ein Magisterstudium begonnen, aber jetzt bin ich umgestiegen.“
„Warum?“
„Man muss ja schließlich irgendwann auch einmal damit anfangen, sein eigenes Geld zu verdienen.“
„Ja, das ist richtig.“
„Und was machst du, Robert?“
Sie hörte ihre Stimme seinen Namen sagen, und auf einmal klang das, was über ihre Lippen kam, ihr selbst fremd. Sie blickte auf, direkt in seine hellblauen Augen. Und sie dachte: stell ihn dir mit grauen Haaren vor, dann könnte er dein Vater sein.
Aber er hatte keine grauen Haare.
Und er war auch nicht ihr Vater. Es war einfach ein Gedanke gewesen, der sie angeflogen und nicht wieder losgelassen hatte. Dieser Gedanke sollte sie noch eine ganze Weile lang verfolgen.
„Na?“, fragte sie. Er hatte nicht sofort geantwortet. Und an seinem unbewegten Gesicht war nicht zu erkennen, worin der Grund dafür lag.
Vielleicht war es auch nur Einbildung.
Vielleicht war sie einfach zu ungeduldig.
„Geschäfte“, sagte er unverbindlich.
„Müssen ganz gut laufen, deine Geschäfte“, meinte sie und er runzelte unwillkürlich die Stirn.
„Wie kommst du darauf?“
„Nun, die Sachen, die du trägst, sind nicht gerade billig. Die Uhr da an deinem Handgelenk... Ich vermute es einfach. Du siehst aus wie jemand, der Erfolg hat und der nicht jeden Pfennig umdrehen muss, bevor er ihn ausgibt.“
Er lächelte.
„Ja, das trifft es wohl...“, murmelte er nachdenklich. Sie hoffte, dass er noch etwas Näheres dazu sagen würde.
Aber es kam nichts mehr.
Stattdessen fragte er, als er sah, dass Elsa aufgegessen hatte: „Was machen wir heute?“
„Ich weiß nicht...“
„Mein Auto steht vor der Tür. Wir können etwas in der Umgebung herumfahren!“
Sie zuckte erst mit den Schultern. Dann nickte sie.
„Okay.“
Er lächelte und zeigte dabei seine Zähne.
„Gut, dann los!“
Robert fuhr einen Landrover.
„Wow!“, staunte Elsa. „Ich habe schon immer davon geträumt, mal in so einem Ding zu sitzen!“
„Na, nun sitzt du ja drin!“
„Gehört er dir? Oder ist der Wagen geliehen?“
Schon als es über ihre Lippen gekommen war, wusste sie die Antwort. Es war eine dumme Frage. Eine, die sich im Grunde erübrigte. Sein Gesichtsausdruck in diesem Moment sagte ihr genau das.
Jemand wie Robert brauchte sich keinen Wagen zu leihen. Es war zumindest mehr als unwahrscheinlich.
„Er gehört mir“, sagte er.
Sie fuhren los.
„Wohin geht's?“
Sie hatten nicht darüber gesprochen.
Und Elsa wunderte sich über sich selbst.
Da stieg sie zu einem Mann ins Auto, den sie kaum kannte und ließ sich von ihm irgendwohin fahren.
Es zeigte, wie sehr sie ihm vertraute. Von Anfang an, ohne einen wirklich fassbaren Grund dafür zu haben. Und dann kam es ihr erneut in den Sinn: Wenn er graue Haare hätte, könnte er mein Vater sein...
Vielleicht war das der Grund.
Sie dachte nur ganz kurz darüber nach. Einen Sekundenbruchteil lang vielleicht. Dann scheuchte sie den Gedanken beiseite. Sie wollte hier nicht weitergrübeln.
Sie wusste, wohin das führte. Ihr Vater... Nein, das war ein eigenes Kapitel, und sie hatte jetzt einfach keine Lust, darin zu lesen.
„Also wohin, Robert?“, hörte sie sich selbst sagen.
„Einfach ein bisschen in der Gegend herum, dachte ich. Einverstanden?“
„Meinetwegen.“
„Seit wann bist du in Tanger?“
„Seit vorgestern.“
„Bist du schon aus der Stadt heraus gewesen?“
„Nein.“
„Hab ich mir gedacht...“
„Ich war in der Kasbah und auf dem Markt.“
„Natürlich, da führen sie einen immer zuerst hin.“
„Ich hatte einen offiziellen Führer. Einen mit Ausweis. Die sind gleich am Hafen gewesen.“
„Ja, wie die Hyänen stürzen die sich auf neu angekommene Touristen. Trotzdem: Wenn du an einen offiziellen Führer gerätst, ist das Risiko nicht so groß, an einen Halsabschneider zu geraten.“
„Meiner war ganz nett. Und es war ein offizieller Führer. Er hat mich auch zum Hotel gebracht. Ich habe ihm gesagt, was ich mir leisten kann, und er hat mich hingebracht.“
„Hat er dir auch ein Taxi besorgt?“
„Ja, hat er.“
„Und dir den Geldumtausch besorgt?“
„Ja, hat er auch. Aber woher...?“
„Vielleicht waren das alles seine Cousins: Der Hotelbesitzer, der Taxifahrer...“
„Und wenn schon!“
Sie lachten beide.
„Was suchst du hier in Marokko?“
„Ich habe keine Ahnung.“
Robert gegenüber war sie völlig offen. Es schien, als könnte sie nichts vor ihm verbergen, als würde sich alles in ihr ihm gegenüber von selbst öffnen. Es beängstigte sie ein wenig. Aber sie fühlte sich gut dabei. Und das war doch alles, worauf es im Moment ankam.
Nein, sie beschloss, keine Zweifel zuzulassen, nicht an sich selbst und schon gar nicht an dem Mann, der neben ihr saß.
„Ich wollte mal was anderes sehen“, sagte sie. „Einfach mal was anderes. Sonne, verstehst du?“
„Ich weiß nicht...“
„Bei uns zu Hause gibt es zu dieser Jahreszeit oft noch Schneeschauer... Das ist so trostlos. Irgendwie...“ Sie suchte nach Wörtern, nach Wörtern, die passten und das ausdrückten, was sie empfand. Und dabei stellte sie fest, dass sie selbst sich darüber kaum im Klaren war. Im Grunde genommen hatte sie nur sehr oberflächlich darüber nachgedacht. Und dann war es auf einmal heraus: „Abstand...“, murmelte sie.
Sie sah zu ihm hinüber.
Er saß ruhig am Steuer. Seine Stirn hatte sich ein klein wenig in Falten gelegt. Er hob die Augenbrauen.
„Abstand?“, fragte er.
„Ja.“
„Abstand wovon?“
„Ich weiß nicht, ob dich das interessiert...“
„Doch, es interessiert mich, Elsa. Weil du mich interessierst.“
Das hatte er nett gesagt, fand sie. Und es ging ihr ganz warm den Rücken hinunter.
„Es ist eine sehr persönliche Sache“, sagte sie. „Und sehr unangenehm...“
Sie wurde sich schnell darüber klar, dass er daraus nicht schlau werden konnte. Sie redete einfach so, wie ihre Gedanken kamen, aber wie sollte er das verstehen.
Er sah kurz zu ihr hinüber.
„Eine Liebesgeschichte?“
„Nein.“
„Was dann?“
„Meine Eltern...“
Sie schluckte.
„Was ist mit ihnen?“
„Sie haben sich gerade scheiden lassen. Jetzt, nach so vielen Jahren...“
Sie sah es ihm an, was er dachte. So etwas passiert doch jeden Tag. Jeden Tag dutzendmal, hundertmal, tausendmal... Kein Mensch regte sich über so etwas auf.
„Es hat mich sehr mitgenommen“, fügte sie hinzu, als müsste sie etwas erklären.
„Ich verstehe...“
Er verstand es nicht, davon war sie überzeugt. Aber er tat immerhin so, und das war nett.
„Ich habe immer gedacht, dass zwischen meinen Eltern alles in Ordnung wäre“, sprudelte es aus ihr heraus. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie sich früher viel gestritten haben. Ich meine, in anderen Ehen gibt es Gewalt und Alkohol und so etwas - und die werden nicht geschieden...“
„Wie alt bist du?“, fragte er.
„22. Warum?“
„Du bist eine erwachsene Frau.“
Sie glaubte zu verstehen, was er meinte.
„Ja schon, aber...“
„Und deine Eltern sind ebenfalls erwachsene Menschen, nicht wahr?“
„Ich weiß. Mein Verstand weiß das. Mein Gefühl glaubt es nicht. Verstehst du das, Robert? Dass die eine Hälfte von dir etwas weiß, die andere es aber nicht wahrhaben will?“
„Ja.“
Mein Gott, dachte sie. Ich kenne ihn seit gestern Abend, und schon erzähle ich ihm meine ganze Familiengeschichte. Sie hätte noch weiter gesprochen, wenn sie sich nicht plötzlich gebremst hätte.
Sie musste an ihren Arzt denken.
Elsa hatte immer wieder unter psychosomatischen Beschwerden gelitten. Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Hautausschläge und anderes.
Und dann hatte sie dem Arzt plötzlich Dinge erzählt, die ihn eigentlich nichts angingen. Und die auch gar nicht in den Bereich eines Arztes fielen. Von ihren Problemen mit Männern und ihren Eltern und tausend anderen Dingen. Ihrer Angst, das Studium eines Tages ohne Prüfung aufgeben zu müssen.
Sie hatte diese Angst, die Prüfung nicht zu schaffen, schon gehabt, als sie gerade das Abitur hinter sich gebracht hatte. Und vor dem Abitur hatte sie auch Riesenangst gehabt - seit sie das Gymnasium besuchte.
Im Grunde genommen hatte sie ihr ganzes Leben lang Angst davor gehabt, dieses und jenes nicht zu schaffen.
Der Arzt hatte ihr gesagt, dass sie jemanden brauchte, bei dem sie sich aussprechen konnte. Einen Psychotherapeuten. Einer, der dafür ausgebildet war.
„Ich bin doch nicht verrückt!“, hatte sie dem Arzt empört geantwortet. Aber vielleicht hatte der Arzt recht gehabt.
Vielleicht brauchte sie so jemanden. Eine Art Pfarrer, der ihr die Beichte abnahm.
Plötzlich hörte sie Roberts ruhige Stimme. Sie klang warm in ihren Ohren. Warm und sicher.
„Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, erst einmal eine Reise zu unternehmen“, meinte er. „Das lenkt einen etwas ab, nicht wahr?“
„Ja, das stimmt.“
Robert jagte den Landrover die schmale Küstenstraße entlang. Eine Weile schwiegen sie beide.
Dann fragte Elsa plötzlich: „Wie alt bist du eigentlich?“
In diesem Moment kam ein Wagen von vorne. Er schoss um eine unübersichtliche Kurve herum und kam dabei ziemlich weit auf die andere Fahrbahn. Robert musste im letzten Moment ausweichen.
„Idiot!“, schimpfte er vor sich hin.
Auf ihre Frage kam er nicht mehr zurück. Sie fuhren weiter in der Umgebung herum, und auf diese Weise sah Elsa etwas vom Land. Einmal stiegen sie an einer schönen Stelle aus. Ein Steilhang ging zum Meer hinab. Weiter oberhalb lagen grüne Hügel.
„Man denkt immer an Wüste, wenn von Nordafrika die Rede ist“, meinte sie. „Unwillkürlich denkt man an Wüste. Aber wenn man mit dem Schiff von Algeciras hier ankommt, dann sieht man schon diese grünen Flächen auf den Hügeln...“
Er lachte.
„Ja.“
„Seit wann bist du hier, Robert?“
„Schon ein paar Jahre.“
„Du lebst hier?“
„Ja.“
Ihr fiel ein, dass er Arabisch sprach. Ja, er schien wirklich hier zu Hause zu sein.
„Ich habe ein Haus unweit von Tanger“, meinte er. „Es liegt direkt am Meer.“
„Und du kannst deine Geschäfte von hier aus abwickeln?“, fragte sie. Sie wollte nicht zu neugierig erscheinen, aber jetzt interessierte es sie doch ziemlich stark, womit er sein Geld verdiente. Was mochten das für Geschäfte sein, die man von einem Ort wie Tanger aus erledigen konnte?
Wie ein Teppichhändler sah er jedenfalls nicht aus.
Er blickte sie an und strich ihr über das Haar, das sie zu einem Knoten zusammengesteckt hatte.
„Manchmal muss ich für einige Zeit verreisen“, sagte er. „Aber das meiste geht von zu Hause aus... Möchtest du mein Haus mal sehen?“
Sie schob sein Jackett beiseite und legte ihren Arm um seine Hüften. Sie nickte.
„Ja, warum nicht?“
Sie fühlte seinen Arm um ihre Schultern und war wie elektrisiert. Es ist wie in einem Traum, dachte sie. Ein Traum...
Sie gingen zum Auto zurück, und Robert ließ den Motor an. Dann brauste der Landrover los.
Es geht alles so schnell, dachte sie. Aber sie hatte ein gutes Gefühl.
Sie fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr, schon sehr lange. All die trüben Nebel schienen aus ihrem Bewusstsein hinausgefegt worden zu sein.
Robert drehte die Stereo-Anlage an. Kühle, abgedämpfte Trompetentöne, die aus dem Nichts zu kommen schienen...
„Was ist das für Musik?“, fragte sie.
„Miles Davis. Ein Jazztrompeter.“
Der Name sagte ihr nichts. - Aber sie mochte diese Musik nicht.