Читать книгу Juwelen, Mörder, Tote - Sechs Extra Krimis Juni 2018 - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 12
3
ОглавлениеDas Haus war weiß. Schneeweiß und genau so, wie man sich ein orientalisches Haus vorstellt. Eine Villa, umgeben von einer hohen Mauer, auf der ein gusseisernes Gitter aufgesetzt war. Es schien ziemlich einsam zu liegen und von einem großen Grundstück mit Garten umgeben zu sein.
Elsa hörte das Meeresrauschen bereits, als Robert das Tor passierte und den Wagen vor der Haustür abstellte.
„Macht ein solches Anwesen nicht unwahrscheinlich viel Arbeit?“, fragte sie unwillkürlich.
Er lächelte.
„Es geht...“
Ihr zweiter Gedanke betraf das Geld, dass ein solches Anwesen kosten musste. Mein Gott, dachte sie, mit was für einem Mann habe ich es hier zu tun? Solche Villen besaßen in den Fernsehkrimis immer die großen Drogenbosse und Mafia-Chefs.
Es war ein dummer, abwegiger Gedanke und sie schalt sich einen Narren. Elsa öffnete die Tür des Landrovers auf und stieg hinaus.
Robert beobachtete sie lächelnd. Ihr stand eine ganze Weile lang der Mund offen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, meinte sie schließlich.
„Dann sag eben nichts“, lachte er.
Sie liefen zusammen zur Haustür. Er öffnete, und dann gingen sie hinein.
„Fühl dich wie zu Hause“, meinte er.
„Gut.“
„Ich schätze, du bist durstig. Ich jedenfalls bin es.“
„Ja, ich auch.“
„Einen Drink?“
„Nein, nichts Alkoholisches.“
„Eine Frage der Überzeugung?“
„Nicht direkt, nein. Aber wenn ich ehrlich bin, dann trinke ich kaum Alkohol. Manchmal etwas Wein. Aber nicht zu süß.“
„Ich habe auch Wein...“
„Nein, nicht schon um diese Tageszeit. Lieber eine Cola.“
„Auch okay.“
Sie standen in einem großen Wohnzimmer, hell eingerichtet mit bequemen Möbeln. Robert ging nach nebenan und holte die Getränke aus dem Kühlschrank.
Elsa nahm die Cola-Büchse, riss sie auf und setzte sie an den Mund. Sie war eiskalt.
Elsa trat an die helle Fensterfront, die nach hinten hinaus, zum Garten ging. Hohe Fenster mit einer Glastür. Dahinter war eine überdachte Terrasse. Und dahinter Rasen. Er schien frisch gemäht zu sein.
Wie in einem Park, dachte Elsa. Und dann sah sie den Swimmingpool.
„Sollen wir hinausgehen?“, fragte Robert.
„Gerne.“
„Dann komm!“
Er öffnete die Tür und sie traten hinaus. Sie liefen zum zum Pool. Elsa beugte sich nieder und tauchte die Hand in das klare Wasser.
„Warm genug?“, erkundigte sich Robert schmunzelnd.
Sie blickte zu ihm auf und schien im ersten Moment etwas irritiert.
Dann lächelte sie. Ein wenig Verlegenheit lag in diesem Lächeln.
„Ja, sicher.“
„Wollen wir baden, Elsa?“
Sie sah seinen festen Blick, in dem eine Mischung aus Begehren und Entschlossenheit stand.
„Baden?“
„Ja.“
Sie wollte Zeit gewinnen, obwohl ihr nicht klar war wozu eigentlich. In Wahrheit hatte sie sich längst entschieden.
„Ich habe keinen Badeanzug dabei“, wandte sie ein.
Ein schwacher Einwand. Und sie trug ihn auch nicht besonders entschlossen vor.
Um seine Lippen spielte ein provokativer, etwas spitzbübischer Zug.
„Macht das etwas?“
„Ich weiß nicht...“
„Wir baden so!“, entschied er. „Wer sollte uns hier schon beobachten können?“
Das Herausfordernde in seinem Blick gefiel ihr. Sie begann sich auszuziehen.
„Also los!“ Wenig später schwammen sie zusammen in dem glasklaren Wasser. Elsa fühlte sich wunderbar, und eine schreckliche Sekunde lang fragte sie sich, wo all ihre Ängste geblieben waren.
Robert schwamm hinter ihr her und holte sie rasch ein. Elsa strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht. Sie fühlte seine Arme, die sich um ihre Schultern legten und schmiegte sich an ihn.
Sie küssten sich, erst zärtlich und sehr vorsichtig, dann immer heftiger und leidenschaftlicher. Schließlich stiegen sie gemeinsam aus dem Pool. Das Wasser tropfte von ihren Körpern.
Sie gingen ins Haus.
In dem großzügigen Wohnzimmer bedeckte kalter Stein den Fußboden. Aber da lag auch ein großer Teppich, und auf ihm sanken sie gemeinsam nieder und liebten sich.
Es war ein Rausch, der stark genug war, sie beide vollkommen zu erfassen und mit sich zu reißen.
Später dann, als Elsa hinaus an den Pool trat, um ihre Sachen aufzusammeln, fiel ihr Blick auf Roberts Jackett. Er hatte es einfach hingeworfen, bevor sie zusammen ins Wasser gegangen waren. Sie hob es auf und blickte sich um. Robert war noch nicht hinausgetreten.
Blitzschnell schoss ihre Hand in die Innentasche und zog den Pass heraus. Sie blätterte in dem Dokument herum und fand schließlich, was sie suchte: Das Geburtsdatum.
Sie rechnete. 38 Jahre!, dachte sie. Er war 38 und sie selbst 22. 16 Jahre lagen zwischen ihnen. 22 Jahre lagen zwischen ihr und ihrem Vater...
Sie dachte an ihren ersten Freund, den ersten, mit dem sie intim geworden war. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, wie alt er gewesen war. Irgend etwas zwischen 40 und 45. Aber sie wusste noch genau, wie alt sie gewesen war: 17.
Er war einer ihrer Lehrer gewesen und sie hatte ihn abgöttisch geliebt. Aber für ihn war sie nicht mehr als ein Abenteuer gewesen.
Wie hätte es auch anders sein können. Ein verheirateter Mann mit Kindern, der sehr auf seinen Ruf bedacht war! Für jeden, der bei klarem Verstand war, lag die Sache auf der Hand.
Aber sie war nicht bei klarem Verstand gewesen. Damals nicht. Ein paar Wochen hatte es gedauert, dann war alles zu Ende gewesen. Als Robert hinaustrat und ebenfalls seine Sachen zusammen sammelte, steckte sie den Pass zurück ins Jackett und gab es ihm.
„Du bist 38“, stellte sie fest.
Er murmelte etwas.
„Ich weiß fast nichts über dich, Robert!“
Er nahm die Jacke und schien ein klein wenig ratlos zu sein. Dann meinte er: „Ist denn das so schlimm? Kommt es auf das an, was gewesen ist?“
„Nein, aber...“
„Das einzige, was zählt, ist die Gegenwart, Elsa. Der Augenblick, sonst nichts. Jeder von uns kommt aus dem Nichts und verschwindet dort eines Tages auch wieder.“
Sie sah ihn an und schüttelte ganz energisch den Kopf.
„Nein!“, sagte sie. „Das stimmt nicht!“
„Nein?“
Eine Spur von Spott war jetzt in seiner Stimme. Eine winzige Spur nur und nicht stark genug, um Elsa zu verletzen.
„Jeder von uns hat seine Geschichte. Und niemand kann aus seiner eigenen Geschichte heraus“, erklärte sie bestimmt.
Robert verzog das Gesicht.
„Klingt beängstigend.“
„Schon möglich. Aber ich finde, dass es stimmt!“
„Ich ziehe mein Weltbild vor.“
„Und ich möchte etwas mehr von deiner Geschichte erfahren, Robert!“
Er zuckte mit den Schultern.
„Wenn es weiter nichts ist...“ Das sollte leicht dahergesagt klingen, aber die Leichtigkeit blieb aufgesetzt. Er zuckte erneut mit den Schultern.
„Was hast du diese ganzen 38 Jahre lang gemacht, Robert! Ich liebe dich, und ich möchte jede Minute davon kennenlernen! Hörst du, jede Minute! So wie ich jeden Zentimeter deines Körpers kennengelernt habe!“
Er runzelte die Stirn, als wollte er sagen: Das kannst du doch nicht ernst meinen, Elsa! Aber er sagte es nicht. Er stand einfach da und schaute sie unschlüssig an.
„Gehen wir erst einmal 'rein“, murmelte er dann und legte den Arm um ihre Schulter.
Sie zogen sich an.
Zusammen sanken sie auf eine weiche Couch. Elsa legte den Kopf an Roberts Schulter.
„Erzähl mir etwas über deinen Vater!“, forderte sie.
„Meinst du das ernst?“
„Ja.“
„Also gut.Er war Pfarrer.“
„Ehrlich?“
„Ja, sicher, weshalb sollte ich nicht ehrlich sein?“
„Und deine Mutter? Was kannst du über sie sagen?“
„Sie war die Frau eines Pfarrers. Was soll ich sonst noch über sie sagen? Ich glaube, dass sie das hinreichend charakterisiert.“
„Glaubst du an Gott?“
In seinem Gesicht stand Verwirrung.
„Ein seltsamer Fragenkatalog ist das, findest du nicht auch, Elsa?“
„Nein, finde ich nicht. Ich finde es sogar sehr naheliegend, danach zu fragen. Dein Vater ist Pfarrer...“
„...war Pfarrer. Er lebt nicht mehr.“
„Das tut mir leid.“
„Braucht es nicht. Er ist alt genug geworden.“
„Trotzdem: Es interessiert mich, wie du über die Sache denkst!“
„Gott? Religion? Christentum?“
„Ja, alles das, was für deinen Vater doch schrecklich wichtig gewesen sein muss.“
Robert atmete tief durch. Einen Augenblick lang schien er zu überlegen. Dann erklärte er: „Ich glaube an mich selbst.“
„An sonst nichts?“
„Nein.“
„Das kann doch nicht alles sein!“
„Warum nicht?“
„Ich meine, man muss ja nicht gleich an ein höheres Wesen glauben. Aber irgendwelche Werte vielleicht...“
„Nein.“
„Das überrascht mich!“
„Mein Vater war ein Mann mit strengen Grundsätzen...“
„Und du, Robert?“
„Ich habe die Nase voll von solchen Dingen. Gestrichen voll.“ Es klang etwas bitter. Elsa runzelte die Stirn.
„Wie ist das gekommen?“
Er strich ihr das Haar glatt.
„Vielleicht bin ich damit überfüttert worden.“ Und dann, nach kurzer Pause: „Hast du Hunger?“
„Ein bisschen, ja.“
„Sollen wir in die Stadt fahren?“
„Nach Tanger?“
Er lachte kurz.
„Natürlich, wohin sonst!“
Sie überlegte einen Augenblick. Dann sagte sie: „Nein, ich möchte lieber hier bleiben.“
Er nickte.
„Auch gut. Dann werde ich mal sehen, was noch im Kühlschrank ist!“
Am nächsten Morgen erwachte Elsa in einem Bett, das nicht das ihre war. Sie war nicht in ihr Hotel zurückgekehrt, sondern hatte die Nacht mit Robert verbracht.
Sie wunderte sich ein wenig über sich selbst und ihren Mut, und jetzt, im Rückblick, erschien ihr immer noch alles als sehr ungewöhnlich.
Es war wie beim Anschauen eines Films, der einen zwar berührt, aber bei dem man doch Zuschauer bleibt - ohne Einfluss auf den Gang der Ereignisse.
Elsa dachte an die vergangene Nacht und lächelte still, ohne dabei die Augen zu öffnen. Ihre Hand ging zur Seite, aber da war nichts.
Robert war wohl schon aufgestanden. Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. Dann gähnte sie.
Draußen war es sonnig.
Sie schlug die Decke zur Seite, stand auf und trat ans Fenster, von wo aus sie einige Augenblicke lang die Aussicht auf das Meer genoss. Es war ein wunderbares Panorama.
Dann zog sie sich dann ein Hemd über und verließ das Schlafzimmer. Barfuß ging sie die Treppe hinab. Sie hörte Roberts Stimme, diese Stimme, nach deren Klang sie geradezu süchtig geworden war. Da gab es keine Entzugstherapie, die etwas dagegen tun konnte. Sie hätte es auch gar nicht gewollt.
Er telefonierte gerade.
Sie liebte den Klang dieser Stimme, so wie sie Robert liebte. Darin war sie sich absolut sicher.
Sie hörte ihn sprechen.
„Nein, das geht in Ordnung.“
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, worum es ging.
„Bitte rufen Sie mich nicht mehr unter dieser Nummer an. Haben wir uns verstanden?“
Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen. Sie konnte der Versuchung, zu lauschen, einfach nicht widerstehen.
Ein wenig nur, dachte sie und hörte weiter zu.
„Bilden Sie sich nur nichts ein!“, sagte Robert eisig, und sie erschrak, als seine Stimme diesen Klang bekam.
Alles, was sie dann noch mitbekam, waren ein paar Fetzen, Wörter, die für Elsa nichts bedeuteten. Dann legte Robert auf.
Er hatte mit seinem Gesprächspartner Deutsch gesprochen, das fiel ihr noch auf.
Als sie weiter die Treppe hinunterkam, wirbelte er etwas überrascht - und wohl auch ärgerlich - herum.
„Was machst du da?“
„Nichts, ich...“
Sein Gesicht entspannte sich wieder.
„Schon gut“, meinte er.
Einen Augenblick lang zweifelte sie daran, dass wirklich alles in Ordnung war.
Robert war bereits vollständig angezogen und wohl auch schon geduscht. Er musste schon vor einer ganzen Weile aufgestanden sein, um... Ja, um was eigentlich?
Vielleicht seine Geschäfte...
Er nahm sie in den Arm.
„Ich habe gar nicht bemerkt, dass du aufgestanden bist“, meinte sie.
Er versuchte ein dünnes Lächeln.
„Du hast noch so fest geschlafen“, meinte er. „Wie ein Murmeltier! Ich wollte dich nicht wecken!“
„Das ist nett, aber du hättest es ruhig tun können!“
„Weißt du, wie spät es ist, Elsa?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein.“
„Fast zwölf.“
„Oh...“
„Was soll's! Du machst Urlaub hier, du hast das Recht, lange zu schlafen! Aber ich muss für meinen Lebensunterhalt sorgen!“
„Verstehe.“
Sie verstand es nicht, aber das schien ihr im Moment nicht weiter wichtig zu sein.
Plötzlich schlug er vor: „Wie wär's, wenn du deine Sachen aus dem Hotel holst! Oder willst du lieber weiter in diesem kalten, feuchten Zimmer ohne heißes Wasser wohnen?“
„Nein“, murmelte sie nachdenklich.
„Wenn du willst, kannst du eine Weile hier bleiben!“
„Gut!“
„Nachher fahren wir in die Stadt, um deine Sachen zu holen. Einverstanden?“
Sie war einverstanden.
„Ich weiß, es ist schon etwas spät dafür, aber... Soll ich uns etwas zum Frühstück machen?“
„Danke, mir nicht! Geh in die Küche, da steht alles schon fertig auf dem Tisch. Kaffee ist auch noch da.“
Bevor sie ging, war ein Mann eingetreten. Er war von draußen über die Terrasse gekommen, durch die Glastür, Es war ein Araber, so um die 50 und grauhaarig. Über den Lippen trug er einen buschigen, ebenfalls ergrauten Schnurrbart.
Elsa erschrak im ersten Moment. Sie hatte den Mann nicht kommen hören, und nun war er auf einmal da, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht.
„Das ist Aziz“, sagte Robert, als würde das irgend etwas erklären.
Für Elsa erklärte es nicht allzuviel. Aber immerhin wusste sie jetzt, dass der Mann auf irgendeine Art und Weise hierher, in dieses Haus gehörte.
Robert wechselte mit ihm ein paar Worte auf Arabisch. Dann verschwand Aziz auf demselben Weg, auf dem er so plötzlich ins Haus gekommen war.
„Was macht er hier?“, fragte Elsa.
„Aziz?“
„Ja.“
„Er kümmert sich um alles im Haus. Garten, Swimmingpool, Haushalt und so weiter. Seine Frau und seine beiden älteren Töchter kommen einmal die Woche zum Putzen.“
Elsa schien wirklich erstaunt.
„Du lebst hier wie ein Prinz“, meinte sie, und er lachte. Dann lachten sie beide.
„Manche Dinge, die anderswo sehr teuer sind, sind hier ausgesprochen günstig“, sagte er. „Zum Beispiel die menschliche Arbeitskraft.“
Nachdem Elsa etwas gefrühstückt hatte, nahmen sie den Landrover und fuhren nach Tanger, um Elsas Sachen aus dem Hotel Massilia zu holen.
Es war nicht viel. Soviel, wie in eine Reisetasche eben passt.
Sie verstauten die Sachen in den Landrover und schlenderten noch durch die Straßen.
Jetzt fühlte Elsa sich fiel sicherer. Sie hakte sich bei Robert unter und wusste, dass ihr nichts geschehen konnte. Sie erinnerte sich an das, was eine Freundin ihr einmal gesagt hatte, die drei Semester Psychologie hinter sich gebracht hatte, bevor sie auf Theologie umgestiegen war. „Du hast eine klassische Angstneurose, Elsa“, hatte sie ihr gesagt. Wenn ihr jemand mit solchen Dingen kam, war sie sehr schnell taub, und sie konnte sich auch kaum noch an Einzelheiten aus dem Redeschwall erinnern, der dann gefolgt war.
Eine graue Masse aus Fachwörtern. Hörte sich alles sehr gut an, war aber letztlich nur angelesen. Angstneurose...
Elsa musste unwillkürlich lächeln, als sie daran dachte. Jetzt, in diesem Augenblick und an Roberts Arm konnte sie darüber lächeln - über Dinge, die ihr sonst den kalten Angstschweiß über den Rücken trieben.
Die schwarzen Schatten der Depression, die ihrer Seele immer so empfindlich nahe gewesen waren, hatten sich verflüchtigt. Und ihre Ängste, von denen ein kleiner Teil ihres Inneren wusste, dass sie völlig unbegründet waren und die sie dennoch nie wirklich verlassen hatten - im Augenblick war von diesen unangenehmen, aber treuen Begleitern nirgends etwas zu sehen.
Sie bummelten zusammen durch die engen Gassen der Altstadt und später saßen sie am Strand. Ein paar Jugendliche spielten dort Fußball. Zum Baden war der Atlantik noch zu kalt.
Aber wenn auch das Wasser noch kalt war, die Sonne hatte bereits viel Kraft. 20 bis 25 fünfundzwanzig Grad erreichte sie leicht..
Als sie schließlich Hunger bekamen, gingen sie ins Hotel MARCO POLO, um etwas zu essen. Ein großes, unübersehbares Schild verriet, dass das MARCO POLO „unter deutscher Leitung“ stand - was immer das auch zu bedeuten haben mochte. Man hatte es wohl hingeschrieben, um die wachsende Zahl deutscher Touristen anzulocken.
„Ich bin hier schon vorbeigekommen“, erinnerte sich Elsa, als sie den üppigen Garten betraten, der das Gebäude umgab und den Gästen selbstverständlich zur Verfügung stand. Einige Bäume spendeten angenehmen Schatten.
„Es sieht teuer aus“, meinte sie nachdenklich.
Robert lachte nur.
„Alles ist relativ.“
„Was heißt das: 'Unter deutscher Leitung'?“
„Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls sprechen die Kellner allesamt Deutsch. Und zwar ziemlich gut!“ Sie bekamen Fensterplätze im Obergeschoss, von denen sie eine hervorragende Aussicht hatten. Elsas Blick fiel auf die Gleise, die zum nahen Bahnhof gingen. Dahinter lag das Meer.
„Die Züge sehen ziemlich klapprig aus“, bemerkte sie. „Einige Wagen haben überhaupt keine Fenster.“ Ihr Gesicht wirkte nach innen gekehrt. „Ursprünglich hatte ich vor, mit dem Zug weiter ins Landesinnere zu fahren. Nach Casablanca.“
„Da wollen viele hin“, meinte Robert wie beiläufig. „Hauptsächlich wohl wegen des Films.“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Ja, kann schon sein.“
„Bogart und Bergmann.“
„Kennst du den Film?“
„Wer kennt ihn nicht?“
„Die Schlussszene... Die spielt auf einem Flughafen. Im Nebel... Humphrey trägt seinen berühmten Trenchcoat...“
„Na und?“
„Ich habe immer gedacht: Das ist doch Unfug! Völliger Unfug! Ich meine, der Film ist zwar im Atelier gedreht, aber ein bisschen muss er sich doch auch nach der Realität richten, oder etwa nicht?“
„Und, tut er es denn nicht?“
„Doch, aber ich kannte die Realität nicht! Ich dachte an Nordafrika als ein Gebiet, in dem die Sonne scheint und es sehr warm ist. Nicht an Nebel und eine kalte Nacht, in der man einen Mantel braucht, so wie Bogie in dem Film. Aber der Irrtum lag bei mir. Jetzt weiß ich, dass es auch hier Nebel gibt - und nicht nur in London!“
„Casablanca ist nicht besonders zu empfehlen“, warf Robert ein.
„Meinst du den Film oder die Stadt?“
„Ich meinte jetzt die Stadt. Aber ich mag den Film auch nicht.“
„Warum nicht?“
Sie wechselten einen Blick miteinander, und zum ersten Mal schien ihm das unangenehm zu sein. Elsa hatte keine Ahnung, woran das lag.
Er blickte zur Seite und wich ihr so aus.
„Was willst du erst hören, meine Meinung zum Film oder zur Stadt?“
„Erst die Stadt!“, verlangte Elsa.
„Das große Erdbeben von 1750 hat das meiste vom wirklich alten Casablanca vernichtet. Heute ist es eine Großstadt wie viele. Kaum etwas, was man nicht auch anderswo findet.“
„Und der Film?“
In diesem Moment kam der Kellner an den Tisch. Er sprach tatsächlich hervorragend Deutsch.
Robert bestellte für sie beide ein Mineralwasser, das den Namen „Sidi Harasem“ trug. Es stammte aus der Gegend und war weltberühmt.
Und sie nahmen beide einen „salade nicoise“.
„Deine Meinung zum Film, Robert!“, hakte Elsa nach, als der Kellner sich wieder entfernt hatte. „Warum magst du den Film nicht?“
Er zuckte mit den Schultern. Sein Blick war nach innen gerichtet.
„Es geht um einen Mann, der vorgibt, ein Zyniker zu sein, und der sich dann aber am Schluss als Idealist entpuppt. Solche Stories mag ich nicht.“
„Warum nicht?“
„Sie überzeugen mich einfach nicht. Diese wundersamen Wandlungen... Vom Saulus zum Paulus. Nein, ich kann das nicht nachvollziehen. Es stimmt einfach nicht! Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun, nicht das geringste!“
„Muss es das denn?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Diese Sachen sind auch nicht mein Metier.“
„Was ist dein Metier?“
Sein Blick ging hinaus durch das Fensterglas. Dorthin, wo die Schienen lagen und die klapprigen Waggons ohne Fenster standen.
Er sah ins Nichts. Elsa spürte, dass er mit den Gedanken sehr weit weg war. Sehr weit...
Der Kellner brachte unterdessen das „Sidi Harasem“ und die Salate.
Vor dem MARCO POLO hielt ein Taxi und drei Amerikaner stiegen aus, ein Mann und zwei Frauen.
Elsa lachte unwillkürlich, als sie die drei aus dem Taxi steigen sah und als sie dann erschrocken die Hand vor den Mund nahm und sich umschaute, bemerkte sie, dass sie nicht die einzige war, bei der dieses Trio Heiterkeit auslöste.
Selbst das sonst so betont zurückhaltende Hotelpersonal konnte ein gewisses Schmunzeln einfach nicht unterdrücken.
Die drei sahen genauso aus, wie man sich typische Amerikaner in einer Karikatur vorstellt.
Der Mann war farbig.
In der Rechten trug er einen überdimensionalen Radiorecorder und auf dem Kopf einen riesigen, hellbeigen Cowboyhut. Das knallbunte Hawaihemd und die grellen Bermudas bissen sich farblich wie Hund und Katze.
Aber das schien den Schwarzen nicht im geringsten zu stören. Er schien sich ohnehin nicht besonders um die Meinung irgendeines anderen Menschen zu scheren.
Obwohl sein Radio abgeschaltet war, machte er bereits auf der Straße einen ziemlichen Krach. Er sprach so laut, als hätte er eine Rolle in einem Freilichtspiel und wäre gezwungen, gegen kräftigen Wind bis zu seinem Publikum hinüber zu schreien.
Eine der beiden Frauen, die ihn begleiteten, war schlank. Gertenschlank, fast schon magersüchtig. Ihre Wangen waren hohl, das Kinn spitz - Ellbogen und Rippen vermutlich auch.
Die andere war das genaue Gegenteil. Sie war klein und fett.
Die Dünne war schwarz, die Dicke weiß.
Es dauerte nicht lange, und das Trio tauchte an einem der Nachbartische auf. Robert und Elsa waren nicht die einzigen, die sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollten. Alle Gespräche, auch unter den Angestellten, waren von einem Augenblick zum anderen verstummt.
Der Mann fläzte sich auf den Stuhl, setzte den Radiorecorder auf dem Boden auf und legte den großen Cowboyhut auf den Tisch. Er war so riesig, dass er ein gutes Drittel der Tischplatte einnahm.
„Hey, come here!“, rief er den Kellner heran. „I want spaghetti bolognese! Right now!“
Die dicke Frau wollte ebenfalls Spaghetti.
Die Dünne ein Stück Kuchen.
Und dann doch lieber Spaghetti. Und nach vier Sekunden, als der Kellner bereits den halben Weg bis zur Bar zurückgelegt hatte, wurde er noch einmal zurückgepfiffen. Keine Spaghetti, sondern Kuchen.
Als der arme Kellner bald darauf den Kuchen an den Tisch der drei brachte, durfte er ihn gleich wieder mitnehmen.
Die Dünne wollte jetzt nur noch ein Mineralwasser.
Die beiden anderen nahmen ihre Spaghetti in Empfang. Die Dicke schaufelte sich so viel hinein, dass ihr gleich wieder die Hälfte aus dem Mund fiel.
Der Mann stocherte lustlos auf seinem Teller herum und schob ihn dann zur Seite. Und während der ganzen Zeit machten sie Witze über den Kellner. Die Augen der dicken Weißen wurden dabei so klein, dass man kaum erkennen konnte, ob sie offen oder geschlossen waren. Die der schwarzen Dünnen quollen dafür noch mehr aus ihren Höhlen heraus, als sie es ohnehin schon taten.
Der Kellner wurde erneut herbeigerufen. Der Mann wollte jetzt ein Stück Kuchen und ein kühles Bier. Seine Spaghetti wurden abgeräumt.
Das Bier und der Kuchen kamen bald darauf, aber er schlürfte nur das Bier. In zwei Zügen.
Dann unterzog er den Kuchen einem äußerst kritischen Blick, verzog das Gesicht und reichte dann das Stück an die dünne Schwarze weiter.
Aber die verzog auch nur das Gesicht, nahm ein paar Krümel und reichte es schließlich an die dicke Weiße weiter, die inzwischen ihre Spaghetti restlos vertilgt hatte.
Das Stück Kuchen wäre für sie sicher auch kein unlösbares Problem gewesen, aber die Dünne war ziemlich ungeschickt. Das Kuchenstück fiel ihr vom Teller herunter auf den Boden, und dann hatte keiner mehr Appetit darauf.
Der Mann rief abermals den Kellner herbei und holte mit großer Geste ein riesiges Bündel Geldscheine heraus.
„Na, so viel hast du noch nie auf einem Haufen gesehen, was?“
Was sollte der arme Kerl darauf erwidern? Er machte gute Miene zum bösen Spiel. Und etwas anderes blieb ihm auch gar nicht.
Der Schwarze zählte laut und für alle im Raum vernehmlich das Geld ab. Ein gutes Trinkgeld war dabei.
Vielleicht ließ sich die offensichtliche Geringschätzung so besser ertragen...
Und dann waren die drei so schnell weg, wie sie gekommen waren. Wenig später hörte man von der Straße her das Gedudel des überdimensionalen Radiorecorders.
Die Erheiterung über das merkwürdige Trio brach sich jetzt endgültig Bahn. Sowohl unter den Gästen, als auch beim Personal konnte kaum noch jemand an sich halten vor Lachen.
„Wenn ich das zu Hause erzähle, glaubt mir das niemand“, meinte Elsa. Und dann war ihre Heiterkeit auf einmal wie weggeblasen, während alle anderen im Raum noch lachten.
Zu Hause... Der Gedanke machte sie traurig.
„Lass uns gehen, Robert“, meinte sie.
Er runzelte die Stirn.
„Warum?“
„Ich weiß nicht. Lass uns einfach von hier weggehen.“
„Gefällt es dir hier nicht?“
„Ich kann es dir nicht erklären, Robert.“
Er zuckte mit den Schultern.
„Gut, wie du willst.