Читать книгу Unmögliche Aufträge: Zwei Thriller - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 10
I
ОглавлениеVolker Schaake stand am Fenster seines Zimmers im Holiday Inn am Köln/Bonner Flughafen. Eine Boeing 737 stieß aus dem makellos blauen Septemberhimmel herab. Fast lautlos schwebte sie über den klotzigen Hotelbau hinweg. Schaake fragte sich zum hundertsten Mal, was er hier sollte. Er gehörte zum Planungsbüro München. Zu seinem Gebiet gehörten Spanien und die spanisch sprechenden Länder Nordafrikas. Zur Zeit projektierte er eine automatische Bandstraße für ein Getriebemontagewerk, das in Nordspanien im Auftrag eines amerikanischen Automobilkonzerns errichtet wurde. Seine Firma unterhielt auch in Köln ein Montage- und Planungsbüro, aber wenn seine Reise irgendetwas mit der Kölner Niederlassung zu tun hätte, hätte man ihn erwartet oder abholen lassen. Zumindest hätte man es ihm gesagt.
Nein, er hatte keine Ahnung, weshalb Wessendorf ihn nach Köln geschickt hatte. Wessendorf hatte nichts damit zu tun, das war schon mal sicher. Die Tickets waren von der Firmenleitung in Nürnberg gekommen, zusammen mit der Anweisung, im Holiday Inn abzusteigen, ein Zimmer sei reserviert.
In München hatte er die Acht-Uhr-Maschine genommen. Kurz vor halb zehn war er im Hotel angekommen. An der Rezeption hatte keine Nachricht für ihn vorgelegen. Jetzt war es elf durch, und noch immer tat sich nichts. Er hatte seine Mutter angerufen, die in Düren lebte. Er hatte sie gefragt, wie es ihr ginge, und als sie hörte, dass er in Köln war, hatte sie ihn auf ihre bedrängende Art gebeten, doch wenigstens kurz herüberzukommen. Vielleicht, hatte er gesagt, aber wahrscheinlich klappe es nicht.
Langsam, aber sicher, begann der Ärger in ihm zu nagen. Er fühlte sich verschaukelt. In München bleiben wichtige Arbeiten liegen. Es gab Schwierigkeiten mit einem spanischen Unterlieferanten, Zeichnungen und Spezifikationen mussten geändert werden, der amerikanische Auftraggeber musste sein Einverständnis geben, die ersten Abnahmetermine rückten unerbittlich näher.
Schaake überlegte, ob er duschen sollte, als es hart an der Tür klopfte. Er öffnete. Da standen sie. Zwei Männer, an denen auf den ersten Blick nichts Auffälliges zu entdecken war. Der ältere, ein fülliger Mann mit verwischter Zigarrenasche auf den Revers seines dunklen Jacketts, ergriff das Wort.
»Guten Tag, Herr Schaake. Herr Dr. Wessendorf hat dieses Zusammentreffen arrangiert. Dürfen wir eintreten?«
Wessendorf hatte das Treffen wohl nicht arrangiert, aber Schaake sagte nichts. Die Besucher würden schon mit der Sprache herausrücken. Vielleicht ging es um interne Dinge, die nicht in einem Büro ausgehandelt werden sollten. Vielleicht, hatte er während des Fluges überlegt, wollte man ihm einen Sitz im Vorstand anbieten, vertraulich zunächst, weil erst ein anderer ausgebootet werden musste. Volkmanns Stuhl wackelte, hieß es. Die Geheimnistuerei sprach für irgendetwas in der Preislage.
Wortlos gab er die Tür frei. Er zog sein Jackett über, weil die beiden Besucher sehr korrekt gekleidet waren.
Der Ältere hielt Schaake die Hand hin. »Mein Name ist Mehrländer, das ist mein Mitarbeiter, Herr Urbach.«
Schaake drückte die Hand, die groß und überraschend kräftig war. Die Namen hatte er noch nie gehört. Aus der Vorstandsetage des Konzerns stammten die Männer nicht. Vielleicht schickte man bewusst konzernunabhängige Unterhändler, Banker vermutlich. Wie auch immer, Schaake hatte keine Lust, auf einem Vorstandsposten zu versauern.
»Dürfen wir uns setzen?«, fragte Mehrländer.
»Natürlich. Entschuldigen Sie. Kann ich Ihnen etwas bestellen?«
»Nein, danke, nichts. Aber wenn Sie möchten...«
Mehrländer hatte eine tiefe, raue Stimme. Er war schon älter, Ende Fünfzig vielleicht. Sein dichtes Haar war stark ergraut, buschige Brauen wucherten über braunen Augen, die scharf und klar durch eine Brille mit dicken Gläsern blickten. Die fleischige Nase war von roten Äderchen durchzogen, die Lippen schimmerten bläulich.
Urbach, ein drahtiger Mann mit knappen Bewegungen, war wesentlich jünger. Das Haar trug er kurzgeschnitten, den Mund hielt er fest zusammengepresst, als ob ihm irgendetwas nicht passte. Seine hellen Augen zuckten durch das Hotelzimmer, richteten sich auf Schaake, tasteten ihn schnell ab, und wanderten dann weiter.
Mehrländer legte eine Aktentasche auf den Tisch. Er öffnete sie und zog ein Zigarrenetui heraus, das er Schaake hinhielt.
»Nehmen Sie eine Zigarre?«
Schaake schüttelte den Kopf. Vor zwei Jahren hatte er das Rauchen endlich aufgegeben. Mehrländer zündete seine Zigarre an. Seine Lippen erzeugten schmatzende Geräusche Die braunen Augen ließen Schaake nicht los. Schaake wusste, dass Mehrländer sich absichtlich Zeit ließ. Er wollte sich ein Bild von ihm machen.
»Diese Unterredung, Herr Schaake«, begann er schließlich, »findet mit Wissen und Billigung der obersten Geschäftsleitung Ihrer Firma statt. Allerdings weiß man dort nicht, um was es geht. Sie sind freigestellt, Herr Schaake. Ich nehme das vorweg, weil Ihnen unser Anliegen sehr ungewöhnlich vorkommen wird.« Mehrländer legte die Zigarre in einen Aschenbecher. Er leckte sich über die Lippen, dann sagte er, während er schnaubend durch die Nase ausatmete: »Wir gehören einem bundesdeutschen Geheimdienst an, und wir brauchen Ihre Hilfe.«
Ich träume, dachte Schaake. So ein Unsinn. Er war erst vorige Woche aus Bilbao zurückgekommen. Natürlich hatte er etwas von der Schießerei mitbekommen, aber was hatte ein deutscher Geheimdienst mit den Aktivitäten baskischer Terroristen zu tun? Und was hatte er damit zu tun? Er schüttelte den Kopf. Geheimdienst. Was gab es da? BND, BiV, und was noch? MAD, Politische Polizei, Spionageabwehr...
»Ich stelle es Ihnen anheim, in Nürnberg anzurufen. Das Vorstandsmitglied Ihrer Firma, Herr Professor Hennings, steht Ihnen für ein Telefongespräch zur Verfügung. Sie können jetzt telefonieren oder später, wie Sie wollen. Nur - ganz gleich, wie unsere Unterredung ausgeht, Herr Schaake - Sie dürfen niemals ein Wort darüber verlieren. Weder Ihrer Frau gegenüber, noch Freunden oder Kollegen. Was wir von Ihnen erwarten, ist für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland von außerordentlicher Bedeutung.«
Es hatte nichts mit Terroranschlägen im Baskenland zu tun. »Ich kann mir nicht vorstellen...«
»Sie werden es bald verstehen, Herr Schaake. Herr Urbach wird Ihnen einige Fragen stellen. Herr Urbach wird als Referatsleiter Ihr Gesprächspartner sein.«
»Moment! Können Sie von vorne anfangen?«
»Haben Sie noch etwas Geduld. - Herr Urbach, bitte«
Urbach schlug einen dünnen Plastikhefter auf. Mit monotoner Stimme referierte er einige Daten. »Sie sind zweiundvierzig Jahre alt, Diplomingenieur, seit neunzehnhundertvierundsechzig verheiratet, Sie haben zwei Söhne im Alter von zwölf und fünfzehn Jahren. Ihr Abitur haben Sie neunzehn-siebenundfünfzig in Minden abgelegt, danach haben Sie in Aachen Maschinenbau und Verfahrenstechnik studiert. Ihre Mutter lebt seit dem Tod Ihres Vaters in Düren. Ihre Frau stammt aus Krefeld. Weder Sie noch Ihre Frau haben Verwandte in der DDR...«
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte Schaake verärgert.
Mehrländers buschige Brauen hoben sich ein wenig. »Leitende Wissenschaftler und Ingenieure, die an wichtigen Objekten im Ausland arbeiten, werden von uns überprüft. Dieses Recht nehmen wir uns, wenn die Projekte vom Bund in irgendeiner Form gefördert werden.«
»Deshalb schnüffeln Sie in meinem Privatleben herum?«
»Routine, Herr Schaake. Von Schnüffeln kann keine Rede sein. Eine Sicherheitsüberprüfung besteht nur aus der Zusammenstellung und Betrachtung von Daten, die ohnehin verfügbar sind. Das geschieht im Interesse der Firmen, die im Ausland arbeiten, im Interesse der betreffenden Länder, und letztlich auch in Ihrem Interesse, Herr Schaake. Sie haben Kraftwerksanlagen in Afrika betreut. Dort unten wimmelt es von Agenten und Saboteuren. Ein Mann mit einer Mutter oder einem Bruder in der DDR wäre für die ein fetter Braten. Mann, Herr Schaake, Sie wissen doch, was in der Welt los ist! Der Wettkampf der Systeme hat sich verlagert. Er findet jetzt auf wirtschaftlicher Ebene statt. Was nicht heißen soll, dass es die klassische Spionage nicht mehr gäbe, im Gegenteil. Wir können doch davon ausgehen, dass Sie fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen?«
Das darf doch nicht wahr sein, dachte Schaake, der nicht die Absicht hatte, sich auf seine Gesinnung hin prüfen zu lassen. Er empfand plötzlich eine heftige Abneigung gegen den Mann, der sich Mehrländer nannte. Mehrländer machte nicht den Eindruck, als ob ihm die freiheitlich-demokratische Grundordnung mehr bedeutete als die Marke seiner Zigarre. Schaake kannte Geheimdienstler bisher nur aus Romanen oder Filmen. Figuren wie Mehrländer, der ihm jetzt wie eine fette Kröte erschien, kamen darin nicht vor.
Urbach schien Schaakes Abneigung gegenüber Mehrländer genau zu registrieren, und er versuchte, Schaakes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Im Jahre neunzehn-neunundfünfzig waren Sie Universitätsmeister im modernen Fünfkampf...«
»Warum haben Sie eigentlich nicht an den Olympischen Spielen in Rom teilgenommen?«, schaltete sich Mehrländer erneut ein.
»Ich wollte mit dem Studium fertig werden. Wahrscheinlich wäre ich nicht über die Vorrunden hinausgekommen.« Schaake ärgerte sich, weil er glaubte, sich verteidigen zu müssen. Er hätte eine Medaillenchance gehabt, aber er hatte sich zu wenig zugetraut.
Mehrländer fixierte ihn unentwegt. »Sind Sie noch in Form?«
»Fürs Sportabzeichen müsste es reichen.«
Er hatte lange ausgesetzt. Er hatte geraucht und getrunken, weil er das Gefühl gehabt hatte, einiges nachholen zu müssen, als er endlich Geld verdiente. Aber seit einigen Jahren lebte er bewusster. Er teilte seine Kräfte ein, und er hatte auch wieder zu trainieren begonnen. Er lief regelmäßig, und er schwamm viel. Ja, er war fit.
»Also«, sagte Mehrländer forsch, »wie ich schon sagte, wir brauchen Ihre Hilfe.«
»Weil ich Ingenieur bin? Oder weil ich Fünfkämpfer war?«
Mehrländers Krötengesicht verzog sich zu einer Grimasse, die keinerlei Ähnlichkeit mit einem Lachen oder nur Lächeln aufwies. Immerhin schwang so etwas wie Anerkennung in seiner Stimme, als er sagte: »Schlagfertig sind Sie, das ist gar nicht so schlecht. Schlagfertigkeit könnte Ihre Aufgabe erleichtern.«
Schaake lachte zum ersten Mal. »Wer sagt Ihnen denn, dass ich bei Ihrem schleimigen Vorhaben mitmache?«
Die Falten in Mehrländers Gesicht vertieften sich, und die Augen strahlten plötzlich Kälte aus. »Warten Sie ab, Herr Schaake, Sie werden mitmachen«, sagte er kühl. »Ich glaube, wir sollten erst mal weitermachen. – Herr Urbach.«
Urbach verbarg den höhnischen Ausdruck in seinen Augen, indem er die Lider senkte. »Waren Sie jemals in der DDR oder im Ostblock?«
»Fragen Sie doch Ihre Computer! Vom Datenschutzgesetz scheinen Sie ja ohnehin nichts zu halten.«
»Bitte!«, mahnte Mehrländer.
»Nein«, sagte Schaake. »Ich war nie in der DDR, nicht einmal in Berlin.«
»Haben Sie Bekannte in der DDR? Oder Verwandte, von denen wir nichts wissen?«
»Nein.«
Nein. Das hatte er so schnell dahingesagt. Zu schnell? Er runzelte die Stirn, aber kam nicht dazu, einer Erinnerung nachzujagen, die noch zu vage war, um fassbar zu sein. Urbach kam offenbar zur Sache. Schaake merkte es an einem kurzen Zögern, dann gab sich Urbach einen Ruck.
»Wir suchen einen Mann«, sagte er. »Seit sieben Jahren wissen wir von ihm. Bisher kannten wir nur seinen Decknamen – Gabriel. Im Lauf der Zeit haben wir eine Menge Informationen über ihn zusammengetragen. Wir wissen, wie alt er ist, welchen Werdegang er genommen hat, wo er ausgebildet wurde, von welchem Referat im Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit, MfS genannt, er geführt wird. Wir wissen außerdem, dass er hier im Bonner Raum einen höchst effektiven Agentenring leitet, der außerordentlichen Schaden anrichtet, vor allem im Bereich der politischen Spionage. Anfang des Jahres ist ein Mann aus dem MfS zu den Amerikanern übergelaufen, Dahlberg heißt er, ein Hauptmann. Dahlberg hatte mit unserem Freund Gabriel nichts zu tun, er gehörte einem ganz anderen Referat an, aber die Vernehmungen dieses Dahlberg haben uns überraschenderweise, wie wir zugeben müssen, auf Gabriels Klarnamen gebracht. Dahlberg war vor zwanzig Jahren mit Gabriel zusammen auf einem Lehrgang in Uhlenkrug, der Kaderschule für den Agentennachwuchs der DDR. Natürlich trugen sie damals weder ihre Klarnamen noch ihre heutigen Decknamen. Aber einer der Dozenten dort war der Onkel dieses Gabriel, der uns jetzt so viel Kopfzerbrechen macht. Der Onkel leitete später ein eigenes Referat im Ministerium für Staatssicherheit, das wusste Dahlberg, und das wissen wir. Gabriels Onkel war ein ehemaliger Nazi, er hatte deshalb viele Feinde. Es gab Klatsch im Ministerium. Unter anderem hieß es, er protegiere seinen Neffen, eben jenen Gabriel.«
Urbach schwieg. Schaakes Herz klopfte. Sein Verstand weigerte sich, eine Erinnerung an die Oberfläche gelangen zu lassen. Er spürte Urbachs und Mehrländers forschende Blicke.
Urbach fuhr fort: »Es war also nur Klatsch, Gabriel brauchte nicht damit zu rechnen, dass Dahlberg, der Überläufer, ihm gefährlich werden könnte, weil es keine Verbindung zwischen ihnen gab, außer jener gemeinsamen Zeit in Uhlenkrug vor nahezu zwanzig Jahren. Die Verbindung hat unser Computer hergestellt, indem er das Rasterbild, das wir von Gabriel angelegt hatten, füllte. Gabriels Onkel war ein gewisser Dr. Reinhold Güttner, Jahrgang neunzehnhundertvierzehn, von neunzehn-neununddreißig bis vierundvierzig Referent im Reichssicherheitshauptamt. Er geriet in russische Gefangenschaft. Ihm drohte ein Todesurteil, aber dann tauchte er wie ein Phoenix aus der Asche in der DDR auf, die damals noch SBZ hieß. Er wurde zu einem der Männer der ersten Stunde im SD der DDR. Er war ein Spezialist, ein Technokrat, kein Spion im klassischen Sinn. Wir wussten einfach alles über ihn. Wir wussten zum Beispiel, dass er eine Schwester hatte, Erika Güttner, die im Jahre neunzehn-siebenunddreißig einen gewissen Joachim Werner Heller heiratete. Am vierzehnten April neununddreißig wurde ihnen ein Sohn geboren. Sie nannten ihn Jochen. Joachim Werner Heller, Jochens Vater, fiel Anfang dreiundvierzig bei Stalingrad. Erika Heller starb im Frühjahr siebenundfünfzig in Minden...« Urbach blickte Schaake starr an. »Sie werden sich doch noch an Ihren Freund Jochen Heller erinnern!«
Jochen, mein Gott, Jochen! Warum hatte er nicht gleich an ihn gedacht? Es war so lange her. Dreiundzwanzig Jahre...
Sie waren Freunde gewesen. Mehr als zehn Jahre lang. Jochen hatte nach dem Tod seiner Mutter, sie waren damals in der Oberprima gewesen, sogar einige Wochen bei ihm gewohnt. Nicht lange, nein. Jochen war stolz und ehrgeizig gewesen. Mitleid und Almosen hatte er zurückgewiesen. Sie hatten sich entfremdet, wo sie sich eigentlich hätten näherkommen müssen. Jochen hatte seine Mutter um so mehr geliebt, weil er seinen Vater kaum gekannt hatte. Ihr Tod hatte ihn wie ein Schock getroffen. Er hatte verbissen gelernt, das Abitur mit Auszeichnung gemacht, und war zu seinem Onkel in die DDR gezogen. Ostzone sagte man damals noch.
»Und er soll hier leben? Unter falschem Namen?«
»Irgendwo im Bonner Raum, vielleicht in Köln, ja.«
»Das kann ich nicht glauben. Warum benutzt er nicht seinen eigenen Namen?«
»Er war zu lange in der DDR, um hier strengen Sicherheitsüberprüfungen standhalten zu können. Selbst wenn man seinen Lebenslauf drüben bereinigt hätte, hätte er nie verbergen können, dass seine Mutter eine Schwester jenes Dr. Reinhold Güttner war. Da war es sicherer, ihn auf andere Weise in die Bundesrepublik zurückzuschleusen. Ich will Ihnen kurz beschreiben, wie so etwas vor sich geht, und wie eine einwandfreie Legende zustande kommt. Es ist ein langwieriges Verfahren.
Da beschließt irgend jemand, der Bundesrepublik den Rücken zu kehren, aus welchen Gründen auch immer, und sein Glück im Arbeiter-und-Bauern-Staat zu suchen. Er streckt vorsichtig seine Fühler aus, und dann läuft drüben etwas ab. Man bittet den Mann, zu warten und nicht über seine Pläne zu reden. Man checkt seinen Lebenslauf ab, überprüft ihn auf heikle Stellen, wie Vorstrafen oder politische Auffälligkeiten, und wenn sich nichts ergibt, was nicht mit Geld auszubügeln wäre, lässt man ihn seinen Arbeitsplatz und die Wohnung kündigen und in eine andere Stadt ziehen. Dann holt man ihn in die DDR, und in seine bundesrepublikanische Vita schlüpft ein anderer. Der neue Mann, ein Agent, meistens ein Resident, der für langfristige Führungsaufgaben vorbereitet wurde, übernimmt die frei gewordene Existenz. Er sucht einen Job, eine Wohnung, eröffnet ein Konto. Dann wartet er, ob der Übergang glatt verlaufen ist. In Gabriels Fall war er zweifellos glatt verlaufen. Wir haben alles versucht, um ihn zu identifizieren. Wir sehen jetzt nur noch eine Möglichkeit.«
Schaake sah Mehrländer angewidert an. »Sie glauben doch nicht, dass ich...«
Mehrländer hob eine Hand. Es war eine gebieterische Geste. »Sagen Sie jetzt nichts, was Sie später zurücknehmen müssen, Herr Schaake. Heller-Gabriel gefährdet die Sicherheit der Bundesrepublik, und wir müssen ihn haben, verstehen Sie?«
Mehrländer und Urbach wechselten schnelle Blicke. Bestimmt hatten sie sich für den Fall eines Protestes eine schöne Rede zurechtgelegt, doch jetzt zögerten sie beide. Urbach, weil er nicht kompetent war, und Mehrländer, weil er ihn, Schaake, noch nicht gut genug kannte, um beurteilen zu können, wie hart er vorgehen konnte, ohne die Schraube zu überdrehen.
»Ich will nicht mit Drohungen kommen, Herr Schaake, aber ich denke, wir können offen miteinander reden.« Mehrländer lächelte angestrengt. »Sehen Sie, den Schaden, den Heller bereits angerichtet hat, können Sie gar nicht ermessen. Wir müssen ihn haben. Bedingungslos. - Es gibt bei uns Leute, die nicht davor zurückschrecken würden, Druck auf Sie auszuüben. Diesem Druck würden Sie nicht standhalten können, glauben Sie mir das. In Ihrer Branche könnten Sie dann in einer Ihnen angemessenen Position nicht mehr arbeiten. – Ich gehöre nicht zu diesen radikalen Leuten. Ich appelliere lediglich an Ihren Staatsbürgersinn. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«
Schaake spürte sein Herz klopfen. Der Mann, der vor ihm saß, die Beine mit den dicken Schenkeln ein wenig gespreizt, Zigarrenasche auf dem Jackett und der Hose, log. Die Entscheidung lag nicht bei ihm. Nicht umsonst hatte Mehrländer sich auf Professor Hennings berufen. Schaake wunderte sich über sich selbst. Normalerweise wurde er störrisch, wenn man versuchte, ihn unter Druck zu setzen. Diese Reaktion blieb aus.
Er hätte jetzt gern Zeit gehabt, um einen Whisky zu trinken und zu versuchen, sich Klarheit über seine Gefühle und Gedanken zu verschaffen. Warum, zum Teufel, schmiss er die beiden Schleimer nicht einfach raus? Niemand konnte ihn zwingen, für einen Geheimdienst zu arbeiten. Einen Menschen bespitzeln, jagen, denunzieren. Flüchtig dachte er an Heike, seine Frau. Aber wirklich nur flüchtig. Ihre Beziehung steckte in einer Krise, wie er sich nüchtern eingestand. Er reiste in der Welt umher. Vor zehn Jahren hatte er es getan, weil es ihm Spaß machte, weil er etwas leistete, viel Geld verdiente, und so am schnellsten vorankam.
Er hatte seine Karriere genau vorgeplant. Spätestens mit 38 hatte er einen Managementjob in der Zentrale in Nürnberg haben wollen Man musste unter Vierzig sein, wenn man ins Management einstieg und an die Spitze wollte. Er hatte alle Voraussetzungen mitgebracht. Sein fachlicher Background war unangreifbar, er war flexibel und belastbar, intelligent und verfügte über Integrationskraft. Und er hatte Erfolge vorzuweisen.
Aber als er Vierzig wurde, saß er immer noch in München, war dort zweiter Mann, wo er längst der erste hätte sein können. Die Karriere hatte da längst ihren Reiz verloren Eine Beförderung hatte er abgelehnt, einer anderen war er ausgewichen. Er hatte so manches durchschaut. Er wollte nicht nur noch für die Firma leben, alles dem Job unterordnen. Wessendorf war ein abschreckendes Beispiel. Ob er frühmorgens seine Runde Tennis spielte, mit Geschäftsfreunden essen ging, oder mit einem Professor von der Technischen Hochschule in Urlaub fuhr, alles war für den Job.
Aber wofür er lebte, war ihm auch nicht bewusst. Vielleicht hatte er zu fragen verlernt. Er hatte sich einen Sinn für das Abenteuer, für das Unvorhersehbare bewahrt. Er wollte sich nicht noch weiter einengen lassen. Lieber reiste er weiter in der Weltgeschichte herum, auch wenn die Abenteuer dort ausblieben oder sich auf Kleinigkeiten, die eher Ärgernisse waren, beschränkten. Wenn sein Koffer zum Beispiel in Abidschan landete, statt in Rabat. Oder wenn sich der versprochene Bungalow in Baustellennähe als stickige Baracke mit Ungeziefer entpuppte. Abenteuer sahen anders aus. Er wusste es, und er ahnte, dass es nicht die Abenteuerlust allein war, die ihn so unstet hatte werden lassen. Er hatte schon lange nicht mehr über den Sinn seiner Existenz nachgedacht. Ihm schien, als hätte er nicht nur das Fragen verlernt, sondern auch das Suchen aufgegeben.
Er sollte einen Menschen verraten, der einmal sein Freund gewesen war. Ein ungeheuerliches Ansinnen.
Mehrländer hatte die ganze Zeit weitergesprochen. Kein Wort davon war in Schaakes Bewusstsein gedrungen. Jetzt war Mehrländer fertig, und so sah er auch aus – abgekämpft. Schaake erkannte, dass Mehrländer unter Erfolgszwang stand. Schaake hatte es gelernt, Schwächen anderer augenblicklich zu erkennen, das war eine unabdingbare Voraussetzung für eine leitende Position in einem Großbetrieb. Nur aus Urbach wurde er nicht schlau. Urbach hielt sich zurück. Schaake wusste, dass es Fragen gab, tausend Fragen und Bedingungen, aber er wusste auch, dass er sie nicht alle in Worte fassen konnte. Er würde keine der Antworten nachprüfen können. Er müsste fragen, ob er gegen Gesetze würde verstoßen müssen, ob er Menschen belügen oder betrügen musste.
Schaake erwachte wie aus einem schweren Traum. Er atmete laut. Wohin liefen seine Gedanken? Akzeptierte er einfach, was diese fremden Männer sagten? Jochen sollte ein Spion sein? Ein Mann, der unter einem falschen Namen in Bonn lebte? Lächerlich, einfach lächerlich. Schaake sah die Männer an.
»Quatsch!«, sagte er laut.
Das war Kintopp. Die Kerle wollten etwas ganz anderes von ihm. Wahrscheinlich lief da irgendeine Schweinerei im Konzern, sonst nichts. Abrupt stand er auf.
»Gehen Sie«, sagte er unfreundlich. »Gehen Sie!«
Urbach warf Mehrländer einen triumphierenden Blick zu, der etwa besagte, sehen Sie, ich hab's ja gewusst!
»Was haben Sie denn, Herr Schaake?«, fragte er nachsichtig.
»Ich bin kein Denunziant.«
»Es geht um die Sicherheit der Bundesrepublik«, sagte Mehrländer. »Ein Staat muss sich schützen, das müssen Sie doch einsehen.«
»Herr Schaake sieht das sicher anders«, höhnte Urbach. »Er ist ein Liberaler...«
»Seien Sie still«, befahl Mehrländer scharf. Er ließ Schaake nicht aus den Augen. »Was sind Ihre Bedenken, Herr Schaake?«
»Ich will mit Professor Hennings telefonieren. Dann sehe ich weiter.«
»Gern. Aber was sind Ihre Bedenken? Heller ist ein Spion. Wir müssen ihn identifizieren und dingfest machen. Ihm wird physisch nichts geschehen. Wenn wir können, werden wir ihn vor Gericht bringen. Er wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden und sie zu einem Teil verbüßen. Nach einer Schamfrist wird er ausgetauscht oder abgeschoben. Sie lesen doch Zeitungen! Es geht doch nicht um die Person dieses Jochen Heller! Es geht darum, weiteren Schaden zu verhüten. In der DDR wird er einen Orden bekommen und befördert werden. Sein Gehalt – oder Sold – ist seit Jahren aufgelaufen. Er ist Major, wussten Sie das?«
Schaake fühlte sich leer. Er wusste nicht, was er denken sollte. Er sollte seinen Freund verraten, Jochen Heller. War er noch sein Freund? Hielt eine Freundschaft immer, selbst wenn sie nicht dauernd erneuert wurde? Galt die Verpflichtung einer Freundschaft über alle Zeiten hinweg? Oder ist eine Freundschaft eine Beziehung, die irgendwann endet, wenn sie nicht mehr gebraucht oder erprobt wird?
»Er war doch mein Freund«, sagte er. Es klang lahm.
»Was heißt denn hier Freundschaft?« Urbach grinste zynisch. »Ihr Freund ist ein Spion, und unser Job ist es, ihn zu kriegen. Er kennt die Regeln. Machen Sie auch mit. Denken Sie, es ist ein Spiel.«
»Menschenjagd ist doch kein Sport«, sagte Schaake, immer noch lahm. »Und außerdem... wer garantiert Ihnen denn, dass ich richtig spiele? Dass ich Ihnen nichts vormache?«
Mehrländer lächelte, plötzlich sorglos und offen. Er spürte, dass er gewonnen hatte.
»Oh, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Herr Urbach verfügt über Erfahrung. – Rufen Sie Professor Hennings an. Wir warten so lange in der Halle.«