Читать книгу Unmögliche Aufträge: Zwei Thriller - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 9
Prolog
ОглавлениеLangsam rumpelte der große Lastenaufzug mit den zerkratzten Blechwänden abwärts. Volker Schaake hatte die rechte Hand in der Jackentasche vergraben und spielte nervös mit der Zigarettenschachtel.
Trettin, Kluth und Urbach umringten ihn, als wollten sie ihn vor etwas beschützen. Oder als ob jeder ihn für sich beanspruchte, und doch schien jeder seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.
Trettin blickte gleichmütig auf seine Schuhspitzen. Trettin war Oberstaatsanwalt, zumindest hatte er sich als solcher vorgestellt. Die meisten Männer, denen Schaake in den letzten beiden Wochen begegnet war, benutzten falsche Namen und führten falsche Berufsbezeichnungen.
Schaake versuchte, Urbachs kalten Augen auszuweichen. Er wandte den Kopf und begegnete Kluths Blick. Kluth lächelte flüchtig über das breite Gesicht mit der kleinen Nase und den schmalen Lippen. Kluth war der einzige, dem Schaake vertraute.
Die Kabine setzte hart auf, und die Türen fuhren mit einem kratzenden Geräusch zu Seite. Schaake fröstelte unwillkürlich, als ihm kühle Luft über das Gesicht strich. Sein Blick streifte das Schild, das an der gegenüberliegenden Wand befestigt war.
GERICHTSMEDIZIN – PATHOLOGIE
Trettin trat zur Seite, um Schaake und Kluth den Vortritt zu lassen. Schaake versuchte unwillkürlich, leise aufzutreten. Nur Trettins Schritte klackten laut auf dem Steinboden. Kluths Gummisohlen knirschten. Urbach schien sich vollkommen geräuschlos zu bewegen. Schaake widerstand dem Impuls, sich umzudrehen und sich zu überzeugen, ob Urbach wirklich mitkam.
Solche Szenen kannte Schaake bisher nur aus Filmen. Hallende Schritte in endlos langen Fluren, kaltes Licht, Schatten auf meist grün gestrichenen Wänden, und Eisentüren, die laut knallten, wenn sie hinter einem der Darsteller ins Schloss fielen.
Das Licht hier unten im Gang war heller, kälter. Fliesen bedeckten die Wände. Schaake vermisste die Schatten. Die Filme waren nicht imstande gewesen, ihm den Geruch zu übermitteln. Wie hieß das Zeug? Lysol? Formalin? Und wo würde die Leiche liegen? In einem Schubfach? Auf dem Seziertisch?
Und wie würde das Gesicht aussehen?
Kluth blieb vor einer zweiflügeligen Pendeltür stehen. Die großen rechteckigen Ausschnitte darin waren mit Drahtglas gefüllt.
»Es wird nicht so schlimm werden«, sagte Kluth. Seine kräftige Stimme klang dünn in der kühlen Luft.
Schaake blickte durch einen der Ausschnitte in den Sezierraum. Zwei Männer in lindgrünen Kitteln machten sich an einem langen Tisch, in den eine flache emaillierte Wanne eingelassen war, zu schaffen. An den Längsseiten des Tisches standen zwei Wagen mit Instrumenten und Schalen, die für die Aufnahme entnommener Organe bestimmt waren.
Kluth zog den einen Flügel der Pendeltür ein wenig auf, und eine hochbeinige, fahrbare Bahre geriet in Schaakes Blickfeld. Unter einem langen, an allen Seiten tief herabhängenden Laken erkannte er die Umrisse eines menschlichen Körpers. Die Zehen standen aufrecht und schienen sich durch den Stoff bohren zu wollen. Dort, wo sich der Oberkörper befand, wölbte sich der Stoff über einer breiten Brust. Der Kopf dagegen schien seltsam klein zu sein.
Schaake spürte ein Ziehen im Bauch, das bis in seine Schenkel ausstrahlte, als einer der Männer in den grünen Kitteln aufmerksam wurde und zu ihnen kam. Er öffnete den anderen Flügel, machte eine ruckartige Armbewegung.
»Kommen Sie bitte, der Herr Professor wartet schon«, sagte der Pathologie-Helfer mit tonloser Stimme. Seine schlaffe Gesichtshaut wirkte im harten Licht der Leuchtstofflampen geisterhaft grau.
Kluth ging vor. Schaake folgte ihm langsam, zögernd. Trettin und Urbach schoben sich an ihm vorbei. Kluth und Trettin begrüßten den Pathologen mit Handschlag, Schaake und Urbach wurden nicht vorgestellt. Der Pathologe machte eine ungeduldige Handbewegung.
Der Gehilfe trat ans Kopfende der Bahre. Er schien die Szene, die er sicher schon unzählige Male erlebt hatte, zu genießen. Vielleicht wettete er mit sich selbst, ob jemand umkippte oder nicht. Schaake wich dem lauernden Blick des Mannes aus.
Urbach stellte sich neben den Helfer. Er ließ Schaake nicht aus den Augen.
»Na los«, sagte Kluth.
Der Helfer fasste einen Zipfel des Lakens, dann zögerte er den Moment der Enthüllung noch ein wenig hinaus. Seine Lippen schimmerten feucht. Schaake hielt den Atem an und presste die Lippen aufeinander. Sein Magen zog sich zu einem Klumpen zusammen.
Mit einem Ruck zog der Helfer das Laken zurück.
Ein dumpfes Dröhnen füllte seinen Schädel, der Klumpen in seinem Magen wurde schwerer und drohte ihn nach unten zu ziehen, und er glaubte zu schwanken. Er spürte Urbachs Blicke, und er zwang sich, in das stille weiße Gesicht zu blicken. Gnädigerweise hatte man den zerstörten Schädel bandagiert, und eine Kinnbinde hielt den Unterkiefer geschlossen. Die Lippen waren ein wenig zurückgezogen, straff gespannt wie Plastikfolie. Oder Wolfslefzen. Der Klumpen in seinem Magen löste sich langsam auf. Er schluckte. War er erleichtert, weil das Gesicht erkennbare Züge aufwies? Was hatte er erwartet? Einen Haufen zerfetzter Haut und zerschmetterter Knochen? An den Schultern, soweit sie unter dem zurückgezogenen Laken sichtbar waren, zeigten sich tiefe Schrammen. Dafür, dass dieser Mann aus einem fahrenden D-Zug gestürzt war, sahen die Verletzungen nicht schlimm aus. Wahrscheinlich war der Schädel zerschmettert. Oder das Genick gebrochen. Schaake wandte sich abrupt um, öffnete den Mund und stieß den angehaltenen Atem aus. Der Pathologe streifte durchsichtige Gummihandschuhe über seine breiten Hände mit den behaarten Fingern. Das Gummi klatschte, als er den Bund losließ, und dann gab es quietschende Geräusche, als er den Sitz der Finger korrigierte.
»Nun?«, fragte Trettin.
Kluth runzelte unwillig die Stirn, aber er sagte nichts.
Schaake nickte, weil er seiner Stimme nicht traute. Er räusperte sich und sagt dann: »Ja.«
In Urbachs helle Augen trat ein nachdenklicher Ausdruck. Schaake sah den Staatsanwalt an. Kluths Gesicht drückte Zufriedenheit aus.
Trettin sagte: »Sind Sie sicher? Wollen Sie ihn sich noch einmal ansehen? Sie wissen ja, dass Sie der einzige sind...« Er verstummte. Schaake sah noch einmal in das wächserne Gesicht mit der spitzen Nase, den eingefallenen Wangen und dem schütteren Haar. »Ja, ja!«, sagte er laut und ungeduldig.
»Schön«, entschied Trettin. »Gehen wir.«
Kluth lächelte Schaake zu. »Sie haben es hinter sich«, meinte er. »Der Rest ist unsere Sache.«
Schaake wusste es besser. Er spürte Urbachs Blicke in seinem Nacken. Urbach würde ihn nicht einfach ziehen lassen. Für Urbach war das Spiel noch nicht zu Ende. Schaake wusste, dass er zu viele Fehler gemacht hatte. Den ersten und zugleich größten Fehler hatte er begangen, als er sich fast bedenkenlos auf ein gewagtes, aberwitziges Spiel eingelassen hatte...