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Vorwort
ОглавлениеKlaus Wagenbach hat einmal von sich gesagt, er sei eine der „dienstältesten Dichterwitwen“. Damit meinte er seine Verdienste um Franz Kafka. Ohne unangemessen weitere Vergleiche hinsichtlich Autor und Biograph anstellen zu wollen: auf eine über fünfzigjährige Beschäftigung mit Paul Zech kann auch ich zurückblicken. Freilich ruhte diese zeitweilig, denn erst 2005 kam ich dem Thema meiner Dissertation von 1975 wieder näher. Seitdem bin ich oft gefragt worden, was einen Schriftsteller so auszeichnet, dass sich jemand derartig lange mit ihm beschäftigt.
Zum einen ist es das überlieferte Werk, dessen Verfasser rückblickend über seine Person und sein Schaffen schreibt: „Paul Zech gehört einer Gruppe von deutschen Dichtern an, die nach Stefan George, Richard Dehmel und Rainer Maria Rilke, aber noch vor dem [Ersten] Weltkrieg in Erscheinung trat. Diese jungen, künstlerisch schon weit vorgeschrittenen Menschen um 1910 herum, haben als die Urheber und eigentlichen Verfechter des konsequenten Expressionismus in Deutschland und auch in Europa zu gelten. […] Die jungen Dichter […] waren aktivistisch im Geistigen und revolutionär in den Ausdrucksformen ihrer künstlerischen Gebilde. Sie übertrugen diesen revolutionären Atem auch auf die Bewegung im Raum von Bürgertum und Staat. In ihrem Manifest lautete ein wesentlicher Programmpunkt: ‚Der Dichter greift in die Politik.‘ […] Den literarischen Teil des Programms entwickelte Kurt Hiller in einer von Kampfgeist strotzenden Vorrede zum ‚Kondor‘.“1 Zu dieser ersten Sammlung expressionistischer Lyrik, 1912 in Heidelberg erschienen, hat Zech sechs Gedichte beigesteuert. Auch danach erweist er sich mit Erzählungen und Dramen als führender Vertreter der neuen literarischen Bewegung. Eines ihrer wichtigsten Dokumente, die 1919 von Kurt Pinthus herausgegebene Lyrikanthologie „Menschheitsdämmerung“, enthält zwölf Beiträge von ihm.
Eine Besonderheit des Zechschen Werkes bilden wirklichkeitsgetreue Schilderungen der Arbeitswelt um 1900, sei es in lyrischer oder epischer Form. Bedeutung erlangt hat der Autor auch im politischen Bereich als Leiter des „Werbedienstes für die Deutsche Sozialistische Republik“ nach der Revolution vom November 1918. Ferner gilt es an einen Literaten zu erinnern, der im Exil die Rolle eines Mittlers zwischen lateinamerikanischer und europäischer Literatur einnimmt. Insgesamt liegt ein ungewöhnlich umfangreiches Lebenswerk vor, von dem ein kleiner Teil den Rang eines Bestsellers erlangt hat, allerdings unter fremdem Namen. Das François Villon zugeschriebene Gedicht „Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund“, populär geworden durch Klaus Kinski, besitzt im Französischen keine Vorlage. Es stammt, gleich anderen Übertragungen von Werken des Franzosen, vollständig vom angeblichen „Nachdichter“.
Außer Zechs literarischem Schaffen faszinierte mich seit meinen Studientagen an der Freien Universität Berlin die problematische Persönlichkeit dieses Autors. Er war ein Lügner, Dieb, Ehebrecher, Verleumder, Hochstapler, Egozentriker, Monomane und … die Aufzählung ließe sich weiter fortsetzen. Für sein Verhalten kann er im juristischen Sinne nur bedingt verantwortlich gemacht werden, denn er litt an einer von väterlicher Seite ererbten psychischen Krankheit. Spätestens seit 1905 war ihm das bewusst und im Lauf der Jahre kam er in zahlreichen Briefen auf sein „Nervenleiden“ zu sprechen. Zwei Brüder und eine Schwester teilten das gleiche Schicksal. Diese drei erreichten zwar, anders als sechzehn weitere Geschwister, das Erwachsenenalter, kamen aber früh durch die Folgen der Krankheit zu Tode. Paul Zech selbst verbrachte ab 1920 jedes Jahr mehrere Wochen oder sogar Monate in Kliniken. Nahe Freunde und Bekannte hatten Kenntnis von diesen Aufenthalten. Auch manche seiner zahlreichen Feinde mutmaßten über Jahre hinweg, der Kontrahent könne nicht bei Verstand sein. Bis heute wurde und wird ihm aber bei der Darstellung seiner Verfehlungen nirgends eine krankheitsbedingte Schuldunfähigkeit attestiert.
Im Verlauf meiner Arbeit an der Biographie war ich zuweilen versucht, selbst Zechs Handeln und Verhalten zu deuten und darzulegen, welcher Art seine Krankheit sein könnte, insbesondere da in der einschlägigen Literatur eine Beschreibung zu finden ist, die exakt auf sie zu passen scheint. In dem von Karl C. Mayer publizierten „Glossar Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie […]“ heißt es: „Eine Form der pathologischen Lüge bezeichnet man als Pseudologia phantastica“. Beim Betroffenen kommt es „zu einem Verschmelzen von Phantasie und Wirklichkeit in einer solch intensiven Art und Weise, dass der Tagträumer selbst oft nicht mehr unterscheiden kann, was Realität und was Fiktion ist“. Der Heidelberger Facharzt für Neurologie und Psychiatrie führt weiter aus: „Bei der Pseudologia phantastica wird immer Aufmerksamkeit gesucht, es geht um dramatische Selbstdarstellungen, gesteigertes Geltungsbedürfnis, eine Vorliebe zur Einnahme der Rolle anderer […], übertriebene Darstellungen oft auch der eigenen Rolle in einem Ablauf.“ Weitere Merkmale treffen auf Zech ebenfalls zu: „Die Betroffenen geben sich oft falsche Biographien. Es geht darum, sich dramatisch vor fasziniertem Publikum in Szene zu setzen und große Aufmerksamkeit zu erreichen. Diese Symptome kommen auch bei dem hervorstehenden Merkmal der Befriedigung eines gesteigerten Geltungsbedürfnisses […] besonders bei histrionischen und narzisstischen Persönlichkeiten vor.“2
Der erwähnten Versuchung bin ich nicht erlegen, denn von fachkundiger Seite liegt seit Jahren eine Abhandlung zu diesem Thema vor. Sie stammt von der Schweizer Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin Brigitte Boothe. Diese schreibt: „Das psychodiagnostische Bild, das sich hier [bei Zech] vermuten läßt, kommt in vielen Punkten demjenigen der histrionischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10, F60.4) nahe: ‚Eine Persönlichkeitsstörung, die durch oberflächliche und labile Affektivität, Dramatisierung, einen theatralischen, übertriebenen Ausdruck von Gefühlen, durch Suggestibilität, Egozentrik, Genusssucht, Mangel an Rücksichtnahme, erhöhte Kränkbarkeit und ein dauerndes Verlangen nach Anerkennung, äußeren Reizen und Aufmerksamkeit gekennzeichnet ist.‘ (WHO 2007)“.3
Die Zahl derer, die mich bei der Erstellung dieser Biographie unterstützt haben, geht in die Hunderte. Sie an dieser Stelle alle namentlich aufzuführen, würde zu ähnlicher Leseunlust führen, wie sie der Abspann eines Filmes bei den meisten Zuschauern hervorruft, bevor sich im Kino der Vorhang schließt. Deshalb möchte ich allen Personen und Institutionen gleichermaßen herzlich für Rat, Beistand und Kritik danken.
Vom Entschluss, das Buch zu schreiben, bis zur Drucklegung dauerte es fünfzehn Jahre. Für mich als Autor war das eine abwechslungsreiche, erfüllte Zeit. Zum einen durch zahlreiche Reisen, die ich ab 2006 unternahm, um wichtige Lebensstationen Zechs und seiner Ahnen unmittelbar kennenzulernen. Im Spreewald fand ich diverse Orte und Gebäude, die im Zusammenhang mit den Vorfahren der Mutter von Bedeutung sind, im polnischen Wąbrzeźno das Geburtshaus und Schauplätze seiner Kindheit, von denen in mehreren Werken die Rede ist. Ähnliches gelang mir auch im ostbrandenburgischen Müncheberg. Ferner besuchte ich Mont-sur-Marchienne im ehemaligen belgischen Montanrevier, das um 1900 noch ein Vorort von Brüssel war, wo der minderjährige Bergwerksgehilfe zu jener Zeit einen Arbeitsplatz und eine preiswerte Unterkunft fand. Erfolg hatte ich zudem bei der Suche nach Wohnungen sowie Lebensspuren Zechs in Elberfeld, Barmen, im Bergischen Land und im Siegerland. Meine Besuche im Wuppertal, in Berlin und anderen deutschen Städten waren verbunden mit der intensiven Nutzung der jeweiligen Bibliotheken und Archive vor Ort. Im Verlauf von sechs Aufenthalten in Buenos Aires durfte ich, dank meiner dortigen Freunde, Zechs „Neue Welt“ zumindest ansatzweise kennenlernen.
Ähnlich fruchtbringend wie die Reisen innerhalb Europas und in die argentinische Hauptstadt erwiesen sich im Verlauf meiner Recherchen die stets aufs Neue notwendigen Expeditionen in mir bisher unbekannte Bereiche der deutschen Literatur. Namen wie Rudolf Börsch, Hans Ehrenbaum-Degele, Heinrich Kämpchen, Martin Raschke oder Arthur Silbergleit hatte ich weder in Vorlesungen an der Universität, geschweige denn im Deutschunterricht am Gymnasium gehört. Noch mehr Bedeutung messe ich der im gleichen Zusammenhang geschlossenen Bekanntschaft mit lateinamerikanischen Autoren bei, die uns bundesrepublikanischen Schülern während der Fünfzigerjahre weitgehend hinter Hemingway, Orwell, Miller, Steinbeck, Wilder oder Williams verborgen blieben. Dementsprechend gab es für mich in einer Art Zweitstudium Jorge Luis Borges, Eduardo Mallea, Enrique Amorim, Jorge Icaza, Gabriela Mistral und andere zu entdecken.
Als Autor fühlte ich mich den Kriterien meines Studienfaches Germanistik verpflichtet. Ebenso wichtig schien es mir aber, Zechs Biographie einzubetten in das Panorama der Geschichte des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit allen Brüchen, Krisen und Kriegen, zugleich aber der kulturellen Vielfalt in Literatur, Bildender und Darstellender Kunst, Philosophie und Musik. Mein Ziel war es, ein Buch vorzulegen, das wissenschaftlich fundiert und unterhaltsam zugleich ist.
Alfred Hübner, im August 2021