Читать книгу Wolken über Taiwan - Alice Grünfelder - Страница 16
Beitou
ОглавлениеIn Beitou steige ich um nach Xinbeitou, ins »neue Beitou«, bekannt für seine heißen Quellen, ein Museum und einige architektonische Sehenswürdigkeiten. An einem meiner letzten Tage in Taiwan fahre ich hin.
Schon am Bahnhof steht ein historischer Brunnen, der mir wegen seiner bescheidenen Zurückhaltung unter einem Bambusdach auffällt. Im Wasser sehe ich kleine hochkant gestellte Holzlatten, vom Wasser umspült. Neben mir steht ein stämmiger Mann, der genauso ratlos wie ich zu sein scheint. Vielleicht empfindet er das Wasser, in das wir gleichzeitig unsere Finger strecken, als ebenso grenzwertig heiß? Beide verziehen wir aber keine Miene, schauen ins Wasser und unseren Fingern zu. Es tut fast weh, also muss es wohl gesund sein.
Am Bach entlang gehe ich durch einen Park, dahinter Hochhäuser und Wohnblocks, davor zahlreiche luxuriöse und auch ein wenig gräuliche Badehotels. Auf Schildern wird dafür geworben, sich hier stundenweise einzumieten. Etwas Anrüchiges liegt in der Luft, Männer in protzigen Autos lassen Motoren aufheulen, nur wenige Menschen sehe ich auf der Straße.
Vielleicht bin ich auch nur voreingenommen, weil ich zuvor die Geschichte des Badeortes überflogen habe. Die Japaner hatten es sich während ihrer kolonialen Besetzung der Insel von 1885 bis 1945 in Xinbeitou gemütlich gemacht, eine Bahnlinie angelegt, um die heißen Schwefelquellen Hotels errichtet, der Bädertourismus boomte. Und als die neuen Herrscher Ende der fünfziger Jahre vom Festland nach Taiwan flohen, florierte die Prostitution erst recht.
Die Bibliothek am schmalen Beitou-Flüsschen ist so gelegen, dass man sich keinen besseren Ort mehr für eine Bibliothek vorstellen möchte. Der Bau schwingt sich auf drei Etagen in die Höhe und schmiegt sich an den Fluss. Einladend sind die einzelnen Schreibtische oder auch Sitzgruppen aufgestellt, der Raum ist licht, die Atmosphäre entspannt. Das nächste Mal, so träume ich vor mich hin, werde ich hierherkommen, und es würde sich wie von selbst schreiben.
Die weiträumige Tatami-Lounge im Hot Spring Museum wirkt freundlicher als die Museumsangestellten, die mir gleich hinter dem Eingang ein Paar ausgetretene Filzschlappen vor die Füße werfen. Das alte gekachelte Becken im Erdgeschoss, die Kargheit der Badehalle, ausgetretene Fließen, Kuhlen in Brüstungen – die Räumlichkeiten sind so, wie man es von einem Thermalbad erwartet. Dann entdecke ich das Becken für Frauen, es ist winzig klein. Vergeblich suche ich eine Erklärung. Die historischen Erläuterungen auf den kleinen Schildern erschöpfen sich sowieso bald, kein Wunder angesichts der doch nur kurzen hundertjährigen Geschichte des Badeorts.
Die Wenquan-Straße (Straße der heißen Quellen) will ich entlanggehen, weil mir eine Freundin einen Link mit Fotos von verfallenen Häusern geschickt hatte. Ich gehe allerdings in die falsche Richtung, entdecke einen japanischen Tempel, bin ein wenig zu unfreundlich zu einem Mönch, weil der mich auf Englisch ausfragen will. Ich gehe immer weiter die asphaltierte Straße bergaufwärts. Von oben sehe ich Beitou im Sonnenuntergang. Neben mir liegt ein Liebespärchen im struppig-trockenen Rasen. Ist sich selbst nicht genug, denn sie plappern unentwegt in ihre Smartphones und schauen dabei wie ich ins von der Hitze und den Quellen dampfende Tal hinab. Wegen der Moskitos breche ich bald wieder auf, habe mich schon wieder ganz rot gekratzt.
Auf dem Rückweg hinunter in die Stadt sehe ich sie im Dämmerlicht: Fenster wie schwarze Münder, aus denen Büsche wachsen, Tore, kaum mehr zu erkennen unter wildwuchernden Schlingpflanzen, geduckte Häuser, weil Bäume sich darüber breit gemacht haben. Wenn ein Haus lange leer steht, nisten sich Geister ein, habe ich bei Li Ang in ihrer Geisteranthologie Sichtbare Geister gelesen, und wenn Geister in einem Haus wohnen, lassen sich keine neuen Bewohner finden. Leere Häuser sprechen erst recht von den Abwesenden, in der Syntax der Verlassenheit, sie sind wie ein Splitter im Auge des Nachsinnens. Die Ruinen ergeben kein Bild.
Es wird immer dunkler, das Straßenlicht ist spärlich auf dem schmalen Weg. Irgendwann hört er abrupt auf, und ich stehe an einer vielbefahrenen Straße. Auf den Minibus zurück zum Bahnhof verzichte ich, kehre um und nehme denselben Weg wieder zurück. Auf einmal weiße runde Steine zwischen Weg und Bach, sie sehen aus wie Ufos, manche mit Augen. Sie sind aus Marmor. Auf einer Tafel steht: »Wunderliche unsichtbare Wesen leben hier.« Vielleicht im Dampf, der über den heißen Quellen aufsteigt, vielleicht in den verfallenen Häusern? Gleichzeitig dienen die Steine als Hocker und schützen die natürlichen Quellen sowie sämtliche Wesen, die hier leben, wird der Künstler Huang Ching-hui zitiert.
Über dem ganzen Ort liegt ein Geruch nach Schwefel, steigt womöglich auch aus dem Gully auf. Fließt selbst in den unterirdischen Kanälen heißes Wasser, vom Vulkangebirge gespeichert, das hinter Beitou aufragt? Ich wundere mich, wie lange ein Vulkan Hitze speichert und Jahrtausende später noch ausspuckt. Da erfasst mich die unermessliche Gesteinsewigkeit angesichts der Kurzlebigkeit eines Badeortes, der seine Vergangenheit in Ruinen bannt und Unsichtbares in weißen Marmorsteinen.