Читать книгу Wolken über Taiwan - Alice Grünfelder - Страница 9
Alishan
ОглавлениеJahrtausendealte rote Zedern stehen im lichten Wald, der Waldboden von Farn bedeckt. Staunend gleitet mein Blick am Stamm entlang nach oben, wo er sich teilt. Selbst auf den Ästen spreizt sich der Farn.
Seit ich Alishan besucht habe, bin ich im Baumfieber, empfänglicher auch für den heimischen Wald, für Baumrinden, ihre Schatten und Furchen, die Flechten wie Schuppen, das Totholz auf feuchtem Waldgrund und das Efeu, das Äste zu Tode umarmt. Bei Marion Poschmann lese ich: »Insofern handelt es sich um mehr als einen Ausflug. Unvermeidlich findet auf einer solchen Tour eine Sensibilisierung statt.«2 Doch wie geht das Schreiben darüber? Anders als die Malerei verfüge die Sprache über keine Technik, um die Welt der Bäume nuanciert zu beschreiben, bedauert Marion Poschmann. Die Sprache kenne nur Wiederholungen, eine Wurzel, ein Stamm, Blätter; es sind nur geringfügige Modifikationen möglich. Meine Versuche, die alten Zedern zu beschreiben, werden ihnen nicht gerecht; mir gehen die Wörter aus.
Höre ich Emily, meine Verlegerfreundin, über die Zedern sprechen, merke ich, dass ihr die Bäume etwas anderes bedeuten. Für mich bilden sie vorerst eine stimmungsvolle Kulisse. Doch die Menschen hier gehen fast andächtig über Holzstege, einen halben Meter über dem Waldboden. Warum gibt es diese Stege? Traut man dem Waldboden nicht? Ist der Spaziergang durch den lichten Wald so vielleicht einfacher, kein Stolpern über Wurzeln? Ist die Natur so ungestörter? Ehrfürchtig schauen die Menschen hinauf in die ausgedünnten Wipfel. Reicht es womöglich, die Zeder aufzurufen, um eine bestimmte Gefühlswelt heraufzubeschwören?
Dieser Wald, seine Bäume erzählen Geschichten. Alishan war einst ein Ort der Zuflucht. Als die Japaner 1895 kamen, flohen viele Taiwaner vor ihnen in die Berge. Nach dem Aufstand vom 28. Februar 1947 war anderswo kein Untertauchen mehr möglich. So liest es sich in der Erzählung »Flucht in die Berge« des Hakka-Schriftstellers Lee Chiao.3 Nachdem alle Kameraden verhaftet und einige auch getötet wurden, bleibt nur noch die Hauptperson übrig. Doch Spitzel lauern überall, verfolgen ihn in die Wälder und Berge. Der Flüchtende stirbt jedoch nicht durch die Kugel seines Verfolgers, sondern beide kommen durch den Biss einer Giftschlange zu Tode.
Auch heute noch sterben in diesem Wald Menschen. Es sind sogenannte Baumräuber; shān lăoshū, Bergratten, werden sie genannt. Man sieht sie nicht. Diese Menschen wurden, wie viele andere vor ihnen, in die Berge geschickt, um Bäume zu fällen, des Geldes wegen. Schon die Japaner hatten Wohlgefallen am Wuchs und Aroma der Zedern gefunden, nannten sie hinoki und fällten sie. Die Nationalpartei Kuomintang (KMT) übernahm das Geschäft, denn es versprach Profit, bis nur noch wenige Baumriesen standen. 1991 wurde endlich das Fällen in sämtlichen Urwäldern Taiwans verboten.4
Für Hoang, einen illegalen Einwanderer aus Vietnam, reichte 2018 das Geld in den Fabriken nicht, um zu Hause die Familie zu ernähren und die Schulden bei den Schleusern zu bezahlen. Er ging in den Süden, arbeitete auf Teefeldern, später für Gangs, die heimlich die alten Zedern fällen. Gefängnisstrafen bis zu zwanzig Jahren drohen den Holzdieben, deshalb wohl rannte Hoang bei seiner Verhaftung in den Wald, dem er sein Einkommen verdankte, was er mit dem Leben bezahlte. Er verblutete an einem Schuss in die Stirn, den Polizisten auf ihn abgefeuert hatten. Sein Bruder fand ihn fünf Tage später tot im Wald.5
Das Holz, das stückweise aus dem Wald geholt wird, damit die Dieberei nicht auffällt, wird von den Souvenirhändlern in Sanyi gern gekauft. Aus ihm wird geschnitzt, was Touristen gefällt, was Glück bringt, Buddhastatuen und Äpfel zum Beispiel. Das ist auch für die Ladenbesitzer gefährlich; für den Kauf von illegal gefälltem Holz drohen ihnen Strafen zwischen achtzehn Monaten und fünf Jahren.6
Doch einem jungen Holzkünstler will es gleich sein, woher sein Holz kommt. Er fragt nicht, sie sagen es nicht, doch dass es von den Baumratten ist, wissen alle. Er weiß um die Strafe, aber der Profit mit den Holzschnitzereien ist zu verlockend.
Fast hätte ich so einen samtig-glatten gelben Holzapfel gekauft, als ich noch nicht von den Baumratten und den Toten im Wald wusste, wegen des Streichelns über das hellschimmernde Holz, wegen der vollendeten Rundung des Apfels; bloß die Nutzlosigkeit des Gegenstands hielt mich davon ab.
Am Abend ist Alishan leer und verlassen, der Poetenpfad wie ausgestorben. Der Geruch nach frisch gemähtem Gras. Auf den Treppenstufen liegen Flügel toter Libellen.
Nebel zieht über die Flanken des Berges. Die Sonne hat den Tag abgewartet, bricht kurz noch durch den bleichen Himmel. Zikaden zermalmen ihn zwischen den Kiefern. Dann Stille.
Dann düstern Krähen. Ein Berg erhebt sich scharfkantig vor der untergehenden Sonne im Meer.