Читать книгу Spiel des Lebens - Alice Roberts - Страница 12
Tief in der frostigen Vergangenheit
ОглавлениеDie traditionelle Geschichte der Domestizierung des Hundes verortete diesen Prozess vor rund 15.000 Jahren am Ende der letzten Eiszeit. Das war die Zeit, als die Eisdecken sich nach Norden zurückzogen, als Bäume und Sträucher, Menschen und Tiere die höheren Breitengrade von Europa und Asien erneut zu besiedeln begannen. Die Tundra ergrünte, die Flüsse führten reichlich Wasser und die Meeresspiegel stiegen, als Wärme und Leben in den eisigen Norden zurückkehrten. Die Eisdecken, die Nordamerika von Küste zu Küste bedeckt hatten, begannen sich ebenfalls zurückzuziehen, und Gruppen von Menschen kamen aus dem weitläufigen, kontinentartigen Beringia in die Neue Welt.
Es gibt reichlich definitive Belege für Haushunde ab 14.000 Jahre vor heute: Knochen, die eindeutig von Hunden stammen und nicht von Wölfen, tauchen in Ausgrabungsstätten überall in Europa, Asien und Nordamerika auf. Und doch besteht die Möglichkeit, dass dies relativ späte Beispiele sind. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als Genetiker sich mit Archäologen zusammentaten, um Fragen zu den Ursprüngen domestizierter Arten nachzugehen, kam die Vermutung auf, dass die Domestizierung von Hunden möglicherweise viel früher begann, sogar Zehntausende von Jahren früher als bisher angenommen.
Die Genetiker näherten sich der Frage nach den Ursprüngen des Hundes, indem sie Unterschiede in der mitochondrialen DNA von Hunden untersuchten, um einen „Stammbaum“ für dieses kleine Genpaket aufzustellen. Die Ergebnisse ließen sich auf mehrere Arten deuten – der rekonstruierte Stammbaum passte zu zwei völlig unterschiedlichen Modellen des Ursprungs der Hunde. Nach dem einen Modell entwickelten sich die Hunde vor rund 15.000 Jahren an mehreren Orten gleichzeitig. Das andere geht von einem frühen, einzelnen Vorfahren der meisten Hunde aus und reicht 40.000 Jahre zurück. Die Diskrepanz im Zeitablauf zwischen den Modellen ist gewaltig – zwischen den möglichen Anfangsdaten liegen nicht nur Jahrtausende, sondern auch der Höhepunkt der letzten Eiszeit vor etwa 20.000 Jahren.
Die mitochondriale DNA ist nur ein Strang und damit eigentlich nur ein winziger Teil des genetischen Erbes, das ein Lebewesen in seinen Zellen trägt. Viel mehr Informationen finden sich in den Chromosomen, den DNA-Paketen im Zellkern. Es gibt 37 Gene im mitochondrialen Genom, während die Zellkerngenome (sowohl von Hunden als auch von Menschen) rund 20.000 enthalten. Als die Genetiker anfingen, sich mit der nuklearen (also Zellkern-)DNA von Hunden zu beschäftigen, schien das frühere Auftauchen des Hundes immer wahrscheinlicher. Die erste Entschlüsselung des Haushundegenoms, also der Gensequenzen in allen Chromosomen, wurde 2005 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. Der Haushund war eindeutig am engsten mit dem Eurasischen Wolf verwandt. Die Autoren (unglaublicherweise mehr als zweihundert) hatten nicht nur an einer genauen Sequenzierung des Hundegenoms gearbeitet, sondern auch damit begonnen, Variationen zwischen den verschiedenen Hunderassen zu kartieren, indem sie untersuchten, wo einzelne Buchstaben in der DNA-Sequenz variierten, nämlich an mehr als 2,5 Millionen Stellen im Genom. Die Analyse enthüllte genetische Engpässe in Verbindung mit einzelnen Rassen; mit anderen Worten, die Hunde-DNA zeigte, wie jede Rasse mit einer Handvoll Einzeltiere begonnen und nur einen Bruchteil der genetischen Variationen genutzt hatte, die in der gesamten Rasse vorhanden waren. Jede Rasse repräsentierte nur eine kleine Stichprobe dieser Variationen. Diese Engpässe, die in Verbindung mit den Ursprüngen verschiedener Hunderassen stehen, sind noch relativ jung und entstanden wahrscheinlich vor etwa dreißig bis neunzig Generationen. Legt man eine durchschnittliche Generationsdauer von drei Jahren zugrunde, kommt man auf einen Zeitraum von nur 90 bis 270 Jahren. Neben diesen neueren Engpässen zeigte die DNA heutiger Hunde auch Spuren einer viel älteren Engstelle, von der man annahm, dass sie aus der ursprünglichen Domestizierung einiger Eurasischer Wölfe zu Hunden entstand. Die Genetiker schätzten, dass es vor rund 9000 Generationen zu dieser Engstelle kam, also vor etwa 27.000 Jahren.
Dieses potenziell frühe Datum für die Domestizierung führte Archäologen und Paläontologen zu der Überlegung, ob sie etwas übersehen hatten, und eine Gruppe von Forschern ging dieser Möglichkeit nach. Sie untersuchten neun Schädel großer Caniden – also von Tieren, die entweder Hunde oder Wölfe gewesen sein könnten – aus Stätten in Belgien, der Ukraine und Russland, die zwischen 10.000 und 36.000 Jahre alt waren. Sie stellten keine Vermutungen an, ob diese Schädel nun Wölfen oder Haushunden gehört hatten. Stattdessen vermaßen sie sie sorgfältig und verglichen die Daten der alten Schädel mit einer großen Stichprobe jüngerer Canidenschädel, einschließlich eindeutiger Beispiele für Hunde und Wölfe. Fünf dieser alten Schädel schienen Wölfen zu gehören. Einer war nicht zuzuordnen. Drei waren näher am Hund als am Wolf. Im Vergleich mit Wölfen hatten diese Caniden kürzere, breitere Schnauzen und etwas breitere Gehirnschädel. Einer dieser Hundeschädel war in der Tat schon sehr alt. Er stammte aus den Höhlen von Goyet in Belgien, die als Schatztruhe eiszeitlicher Artefakte gelten, einschließlich Muschelketten und einer Knochenharpune sowie Knochen von Mammuts, Luchsen, Rothirschen, Höhlenlöwen und Höhlenbären. Das Höhlensystem war eindeutig über Tausende, vielleicht sogar Zehntausende von Jahren von Menschen und Tieren genutzt worden. Mithilfe der Radiokarbonmethode ließ sich das Alter des Hundeschädels auf rund 36.000 Jahre datieren. Damit gehörte er dem ältesten bekannten Hund der Welt.
Besonders interessant war an dem Fund, dass die Schädelform sich recht deutlich von der eines Wolfes unterschied. Den Paläontologen zufolge deutet diese klare „Hundehaftigkeit“ darauf hin, dass der Prozess der Domestizierung oder wenigstens einiger der körperlichen Veränderungen, die mit ihm einhergingen, möglicherweise sehr schnell vonstatten ging. Und als sich die Schädelform einmal von wolfartig zu hundeartig verändert hatte, blieb sie über Tausende von Jahren so.
Und doch ist das ein einzelnes Beispiel für einen mutmaßlichen frühen Hund aus einer Zeit vor dem Höhepunkt der letzten Eiszeit. Er ist so überraschend alt, dass man vernünftigerweise die Möglichkeit in Betracht ziehen sollte, dass der Hundeschädel aus Goyet eine Art Anomalie darstellt. Selbst wenn man der Datierung vertraut, könnte es nicht einfach ein seltsam aussehender Wolf sein? Der Fund aus Goyet bekam jedoch bald Gesellschaft von einem weiteren, offenbar sehr frühen Hund. 2011, nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Analyse, zu der auch der Fund aus Goyet gehörte, veröffentlichte eine Gruppe russischer Forscher Belege für einen weiteren alten Hund, diesmal aus dem Altaigebirge in Sibirien.
Der sibirische Schädel wurde in der Razboinichya-(„Banditen“-)Höhle entdeckt, einer Kalksteinhöhle im nordwestlichen Teil des Altaigebirges. Die Ausgrabungen, die in den späten 1970er-Jahren begannen und 1991 endeten, förderten Tausende von Knochen in einer Schicht rotbraunen Sediments tief im Höhleninneren zutage. Unter den Knochen fanden sich welche von Steinböcken, Hyänen und Hasen – und ein einzelner hundeähnlicher Schädel. Es wurden keine Steinwerkzeuge in der Höhle gefunden, aber einige Kohleflecken deuten darauf hin, dass während der Eiszeit hier auch Menschen gelebt hatten.
Im Rahmen der ersten Analyse wurde ein Bärenknochen aus der Fossilschicht in der Razboinichya-Höhle mithilfe der Radiokarbonmethode auf rund 15.000 Jahre datiert, also auf die späte Eiszeit. Man ging davon aus, dass alle anderen Knochen ähnlich alt waren. Der Hundeschädel hätte also in einem Karton landen und in einem verstaubten Regal im Lagerraum einer Universität oder eines Museums schnell vergessen werden können – er wäre nur ein weiteres Beispiel gewesen für einen Hund vom Ende der Eiszeit, als die Welt wieder wärmer wurde.
Aber die russischen Wissenschaftler beschlossen, dass der Schädel eine genauere Untersuchung verdient hatte. Zunächst einmal: War es wirklich ein Hund? Der Schädel aus Razboinichya, der schnell den Spitznamen „Razbo“ davontrug, wurde vermessen und mit den Schädeln urzeitlicher europäischer Wölfe, heutiger europäischer und nordamerikanischer Wölfe und den Schädeln deutlich jüngerer, nämlich rund tausend Jahre alter Hunde aus Grönland verglichen. Diese Grönlandhunde gehörten zu einem großen, aber „nicht verbesserten“ Hundetyp – sie waren nicht durch die genetische Mühle der extremen Selektivzucht gegangen, die zu der seltsamen und wunderbaren Vielfalt der modernen Hunderassen führte. Razbo ließ sich nur schwer festnageln. Wie bei seinem Vetter aus Goyet war seine Schnauze relativ kurz und breit – ein hundetypisches Merkmal. Aber sie hatte einen gebogenen Kronenfortsatz, wie ein Knochenvorsprung oben am Unterkiefer genannt wird, wo der Schläfenmuskel ansetzt, ein wichtiger Kaumuskel – das war eher typisch für einen Wolf. Die Länge des oberen Reißzahns (ein Zahn mit scharfer Schneide zum Zerteilen von Muskeln und Sehnen) passte mehr zu einem Wolf. Aber im Vergleich zu anderen Zähnen in Razbos Maul war dieser Zahn relativ kurz, nämlich kürzer als zwei Backenzähne übereinander – ein eher hundetypisches Merkmal. Der untere Reißzahn war kürzer als bei heutigen Wölfen, lag aber genau in dem Normalbereich für prähistorische Wölfe. Die Zähne standen weniger eng zusammen, als man bei einem Hund erwarten könnte. Trotz der kurzen Schnauze hatte Razbo also eher ein wolfartiges als ein hundeartiges Gebiss. Aber seine Schädelmaße erzählten eine andere Geschichte: Die Schädelform ähnelte mehr den Grönlandhunden als jeder anderen Hunderasse.
Natürlich ist eine solche Analyse immer schwierig. Frühe Hunde sind nur gerade eben keine Wölfe mehr. Und während einige Merkmale in Anatomie und Verhalten im Paket auftreten, weil sie oft von wenigen Genen abhängen, erscheinen die meisten Merkmale allmählich und stückchenweise. Die Verwandlung findet über Generationen statt: Teile der Mosaiks verändern sich Stück für Stück, bis ein neues Bild entstanden ist. Deshalb war der Fund aus Goyet so bemerkenswert: Zwei deutliche Veränderungen an der Schädelform, eine breitere Schnauze und ein breiterer Gehirnschädel, scheinen bei den frühen Hunden sehr schnell aufgetreten zu sein. Aber die Diskrepanz zwischen Schädelform und Zähnen bei Razbo muss uns nicht weiter beunruhigen.
Da er eine Schädelform wie die eines Grönlandhundes von vor tausend Jahren hatte, seine Reißzähne aber eher denen von Wölfen entsprach, kamen die russischen Wissenschaftler zu dem Schluss, dass Razbo vielleicht eines der frühesten Beispiele für dieses spezielle Experiment der Domestizierung gewesen sein könnte. Aber ein 15.000 Jahre alter früher Haushund ist nichts Besonderes. Davon gibt es reichlich. Es war die neuerliche Datierung des Schädels – die direkte Datierung von Knochenproben von Razbo selbst, vorgenommen in drei verschiedenen Laboren in Tucson, Oxford und Groningen –, die Aufsehen erregte: Wie sich herausstellte, war der Schädel rund 33.000 Jahre alt. Der Hund von Goyet war kein Einzelfall mehr.
Der Fall war also abgeschlossen: Sowohl Knochen als auch Gene schienen auf ein frühes Domestikationsdatum vor rund 30.000 Jahren hinzuweisen. Offenbar hatte es nichts mit dem Aufkommen der Landwirtschaft (frühestens vor etwa 11.000 Jahren in Eurasien) oder mit der veränderten Umwelt und Gesellschaft zu tun, als die Eiszeit ihren Griff um die Welt lockerte (vor etwa 15.000 Jahren). Der beste Freund des Menschen hatte wohl viel ältere Wurzeln, die weit in der Altsteinzeit lagen, vor dem Höhepunkt der letzten Eiszeit, bevor irgendwer in Dörfern oder Städten lebte. Als wir alle noch Nomaden, Jäger und Sammler waren. Lange, bevor unsere Vorfahren sich dauerhaft niederließen.
Aber leider war damit der Ursprung des Haushundes bei Weitem noch nicht geklärt. 2014 mischte sich ein weiteres Team von Genetikern in die Debatte ein. Verschiedene Forscher hatten argumentiert, dass die Ursprünge der Domestikation des Hundes in Europa, Ostasien oder dem Nahen Osten liegen. Die Genetiker wollten sich die geografische Herkunft der Hunde genauer ansehen und der Frage nachgehen, ob ein einziger Ursprung oder mehrere Ursprungsorte wahrscheinlicher seien. Sie sequenzierten die Genome dreier Wölfe – aus Europa, dem Nahen Osten und Ostasien – sowie eines australischen Dingos, eines Basenji (Nachfahre von Jagdhunden aus Westafrika) und eines Goldschakals. Die Forscher fanden reichlich Belege für Kreuzungen mit Wölfen – frei umherstreifende Dorfhunde zum Beispiel hatten wahrscheinlich relativ regelmäßig Kontakt zu wilden Wölfen. Die Genetiker suchten jedoch in den DNA-Daten über diese neueren Kreuzungsereignisse hinaus nach Hinweisen auf die frühesten Hunde, die sich in den Genen ihrer letzten Nachfahren versteckten. Die genetische Beweislage deutete darauf hin, dass die Domestikation der Hunde einen einzigen gemeinsamen Ursprung hatte, den sie auf 11.000 bis 16.000 Jahre vor heute datierten. Das zeigte erneut, dass die Domestizierung des Hundes nicht mit dem Aufkommen der Landwirtschaft in Verbindung stand, wie einige Forscher zuvor behauptet hatten. Doch andererseits lag dieses spätere Datum deutlich nach dem Höhepunkt der letzten Eiszeit und ließ Razbo und den Hund von Goyet allein auf der anderen Seite zurück, tief in der Zeit begraben.
Andererseits waren diese Eiszeithunde schon immer umstritten. Einige Forscher hatten die Belege für die Hundeartigkeit dieser Tiere infrage gestellt, weil sie im Vergleich zu den übrigen archäologischen Belegen so sehr aus der Reihe zu tanzen schienen. Die körperlichen Unterschiede zwischen diesen umstrittenen Caniden und Wölfen sind zugegebenermaßen ziemlich fein, und es wurden Zweifel an den Methoden laut, mit denen die Schädel analysiert und interpretiert worden waren. Die Größe des Caniden aus Goyet stellte ein Problem dar. Mit einem so großen Schädel musste er auch einen großen Körper gehabt haben; domestizierte Tiere sind aber in der Regel kleiner als ihre wilden Verwandten. Vielleicht, so argumentierten einige Forscher, handelte es sich also einfach um eine weitere, inzwischen ausgestorbene Abart des Wolfes und nicht um einen Hund. Oder der Goyet-Hund und Razbo stellten, wenn sie wirklich frühe Hunde waren, so etwas wie Sackgassen dar – kurzzeitige Phänomene, gescheiterte Domestikationsexperimente. Der Großteil der archäologischen Belege wies immer noch darauf hin, dass die wahren Vorfahren unserer heutigen Hunde viel später domestiziert wurden, nach dem Höhepunkt der letzten Eiszeit. Ein späterer Zeitpunkt würde auch eine Erklärung für das Aussterben der eiszeitlichen Megafauna wie Wollmammut und Wollnashorn liefern – vielleicht waren sie überjagt und ausgerottet worden, als die Menschen sich mit ihren tödlichen Hundegefährten zusammenschlossen. Die Einwände gegen die Hundehaftigkeit des Caniden aus den Goyet-Höhlen schienen beinahe zu schrill, zu empört zu kommen: Diese frühen „Hunde“ passten einfach nicht ins aktuelle Theoriegebäude. Selbst wenn sie tatsächlich Hunde waren, repräsentierten sie wahrscheinlich nicht die Vorfahren unserer heutigen Hunde. Die Erforschung der Domestikation des Hundes ist mit Kontroversen behaftet. Verzeihen Sie das Wortspiel, aber in der Caniden-Paläontologie geht es manchmal zu wie zwischen Hund und Katz.
Weder die Knochen noch die DNA brachten aber eine eindeutige Antwort. Anfang 2015 sah es so aus, als wiesen die meisten Belege doch auf ein späteres Domestikationsdatum hin, also nach dem Höhepunkt der letzten Eiszeit. Nach der ganzen Aufregung um den Goyet-Hund und um Razbo könnten diese frühen „hundeartigen“ Schädel einfach nur seltsam aussehende Wölfe gewesen sein oder aber frühe Hunde, deren Nachfahren ausgestorben sind.
Das Domestikationsdatum vor 11.000 bis 16.000 Jahren, das man aus der DNA heutiger Hunde und Wölfe ableitete, ging von einigen wesentlichen Annahmen über Mutationsraten und Generationszeiten aus. Wären die tatsächlichen Mutationsraten langsamer oder die Generationszeiten länger gewesen, hätte das den Zeitpunkt weiter in die Vergangenheit geschoben – es hätte länger gedauert, bis die DNA-Unterschiede zwischen heutigen Hunden und Wölfen sich so angesammelt hätten, wie wir es heute sehen.
Im Juni 2015 wurde ein verblüffender neuer genetischer Beweis veröffentlicht. Diesmal hatten die Genetiker nicht die Genome heutiger Hunde und Wölfe nach Hinweisen auf ihre Vorfahren durchkämmt, sondern hatten sich auf alte DNA konzentriert. Das transatlantische Team, dessen Mitglieder in Harvard und in Stockholm saßen, forschte an einer Rippe, die 2010 bei einer Expedition auf die russische Taimyrhalbinsel entdeckt worden war. Sie stammte eindeutig von einem Caniden und wurde auf 35.000 Jahre datiert. Anhand der Sequenzierung eines winzigen Abschnitts mitochondrialer DNA konnten die Forscher die Tierart identifizieren, zu der dieser Knochen gehört hatte – es war die Rippe eines Wolfs. Im nächsten Teil der Untersuchung wurde das alte Genom des Taimyr-Wolfs mit den Genomen heutiger Wölfe und Hunde verglichen. Der Grad an Unterschieden zwischen dem alten und den modernen Genomen stimmte einfach nicht mit den zuvor angenommenen Mutationsraten überein. Die Anwendung der Standardraten auf den genetischen Unterschied zwischen heutigen Wölfen und dem Taimyr-Wolf zeigte, dass der gemeinsame Vorfahre beider Arten vor 10.000 bis 14.000 Jahren gelebt haben musste – damit wäre er aber nicht einmal halb so alt wie der Taimyr-Wolf. Die Mutationsraten mussten also kürzer gewesen sein als bislang angenommen, nämlich 40 Prozent der angenommenen Rate oder sogar noch weniger. Mithilfe der neuen, langsamen Mutationsrate verschiebt sich der errechnete Divergenzzeitpunkt von Wölfen und Hunden von 11.000 bis 16.000 Jahre auf 27.000 bis 40.000 Jahre vor heute.
Aber das waren noch nicht alle neuen Erkenntnisse. Die Genetiker untersuchten daraufhin bestimmte Variationsmuster in der DNA heutiger Hunderassen: Mutationen jeweils eines einzelnen „Buchstabens“ eines Nukleotids, also eines Bausteins der DNA. Diese genetischen Varianten heißen Einzelnukleotid-Polymorphismen oder, markiger ausgedrückt, SNPs (ausgesprochen „Snips“). Diese Einzelbuchstaben-Mutationen sind gute Indikatoren für die Evolutionsgeschichte im Genom, weil sie häufig sind und oft ohne Folgen bleiben, sodass sie durch die natürliche Auslese nicht beseitigt werden. Als sie eine Handvoll SNPs (170.000, um genau zu sein) heutiger Hunderassen mit denen des Taimyr-Wolfs verglichen, entdeckten die Genetiker, dass in einigen Rassen mehr Wolf steckte als in anderen. Das deutet darauf hin, dass sich einige Hundepopulationen nach der Entstehung der Haushunde mit wilden Wölfen gepaart hatten. Zu den Rassen mit etwas höherem Wolfanteil gehören der Siberian Husky, der Grönlandhund, der chinesische Shar-Pei und der Finnische Spitz. Die Genetiker untersuchten auch die genetische Vielfalt heutiger Wölfe und fanden, dass die Trennung zwischen den nordamerikanischen und den europäischen Grauwölfen stattgefunden haben musste, nachdem sich der Taimyr-Wolf abgespalten hatte, aber vermutlich bevor die Meeresspiegel am Ende der Eiszeit stiegen und die Beringbrücke überfluteten, die während der Kaltzeit mit ihren niedrigen Meeresspiegeln eine Verbindung zwischen Nordostasien und Nordamerika dargestellt hatte.
Hat die neueste genetische Forschung also den Goyet-Hund und Razbo gerettet? Offenbar gibt es keinen Grund, an der Existenz domestizierter Hunde vor 33.000 bis 36.000 Jahren zu zweifeln oder daran, dass ihre Nachkommen heute noch unter uns weilen könnten. Die Genetik hat hier jedoch noch einmal Sand ins Getriebe geschüttet. Die mitochondriale DNA des Goyet-Hundes ist ungewöhnlich und unterscheidet sich sowohl von der des Wolfs als auch von der anderer Hunde, ob urzeitlich oder modern. Wir müssen uns also fragen, was der Goyet-Hund tatsächlich war: ein frühes Domestikationsexperiment, das in einer Sackgasse endete? Oder ein ungewöhnlicher, alter Wolfstyp, der heute nicht mehr existiert? Eine 2015 veröffentlichte komplizierte Analyse der dreidimensionalen Schädelform des Caniden aus den Goyet-Höhlen deutet darauf hin, dass er doch eher wolfähnlich als hundeähnlich war. Die Debatte geht also weiter. Razbo dagegen scheint wunderbar auf die Hundeseite des mitochondrialen DNA-Stammbaums zu passen. Es sieht also so aus, als könnte Razbo tatsächlich ein früher Hund gewesen sein; mit Sicherheit hat er eine Menge enger lebender Verwandter in Form unserer aktuellen vierbeinigen Gefährten.
Es ist kaum zu glauben, wie hitzig die Debatte über den Ursprung der Hunde in den letzten Jahren geführt wurde. Neue Techniken und neue Entdeckungen scheinen das Potenzial zu besitzen, Theorien radikal zu verändern. Und die Geschichte verändert sich immer weiter. Dank des geballten Fortschritts – von besseren Datierungsmethoden archäologischer Funde bis zu schnellerer DNA-Sequenzierung – scheint die wahre Geschichte der Ursprünge unseres ältesten und engsten Verbündeten endlich aus dem Dunkel zu treten. Und sie muss auch kompliziert sein. Man sehe sich nur an, wie verschachtelt allein der Teil der Geschichte der Menschheit ist, den wir kennen. Wenn wir uns der Vorgeschichte nähern, unserer eigenen oder der ungeschriebenen Geschichte anderer Arten, gehen wir vielleicht ganz naiv heran und erwarten irgendwie eine einfache Geschichte, die die Komplexität von Interaktionen über Jahrtausende schön zusammenfasst. Die Arbeit über die DNA des Taimyr-Wolfs und seiner frühen und heutigen Verwandten zeigt, wie verworren es beim Aufspüren der Wurzeln der Domestikation werden kann.
Da wir nun die Ursprünge der Hunde in der Eiszeit ausgemacht haben, lautet die nächste Frage: Wo wurden Hunde domestiziert? Und gab es ein einzelnes, abgegrenztes Gebiet, in dem die Domestizierung begann und von dem aus sie sich ausbreitete, oder mehrere Zeitpunkte und Orte, an denen wilde Wölfe zu Hunden wurden? Vielleicht lässt sich das unmöglich bestimmen. Die Domestikation von Hunden könnte vor 40.000 Jahren begonnen haben und noch lange Zeit später kam es zu Kreuzungen mit Wölfen, was selbst heute noch passieren kann. Aber mit den neuesten genetischen Technologien, die es uns ermöglichen, alten wie modernen Genomen ihre Geheimnisse zu entlocken, können wir zumindest versuchen Antworten zu finden.