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Wawilows kühne Suche
Оглавление1916 verließ der 26-jährige Nikolai Iwanowitsch Wawilow St. Petersburg und begab sich auf eine Expedition nach Persien, dem heutigen Iran. Er hatte ein bestimmtes Ziel vor Augen: Er wollte die Ursprünge einiger der wichtigsten Nutzpflanzen der Welt aufspüren.
Wawilow hatte in Großbritannien bei dem hervorragenden Biologen William Bateson studiert. Durch Bateson war er auch mit Mendels Vererbungslehre vertraut. William Bateson hatte geholfen, die Arbeiten des Augustinermönches Gregor Mendel wiederzubeleben und zu verbreiten, einschließlich Mendels berühmten Experimenten mit Erbsenpflanzen. Mendel hatte herausgefunden, dass es eine Art von „Vererbungseinheiten“ geben musste, die beeinflussten, ob seine Erbsen grün oder gelb, glatt oder schrumpelig waren. Er hatte keine Ahnung, was das für Einheiten waren, die wir heute als Gene kennen, aber er sagte ihre Existenz voraus. Mendel veröffentlichte seine „Grundlagen der Vererbungslehre“ 1866 auf Deutsch. Mehr als 40 Jahre später übersetzte Bateson diese bahnbrechende Arbeit ins Englische und gab der wissenschaftlichen Untersuchung der Vererbung auf der Grundlage von Mendels Beobachtungen und Theorien einen Namen: Genetik.
Wawilow war auch vertraut mit Darwins Theorie von der Evolution durch natürliche Auslese. In England verbrachte er viel Zeit über den Büchern und Notizen aus Darwins persönlicher Bibliothek, die in der University of Cambridge aufbewahrt wurden, wo Darwins Sohn Francis Professor für Pflanzenphysiologie war. Wawilow sah mit eigenen Augen, wie sorgfältig und umfassend Charles Darwin die Arbeiten seiner Vorgänger studiert hatte, einschließlich des einflussreichen Schweizer Botanikers Alphonse de Candolle, der in zwei 1855 veröffentlichten gewichtigen Werken der Herkunft domestizierter Pflanzen nachgegangen war. Wawilow fand sichtlich Gefallen daran, die Entstehung von Darwins Konzepten anhand der Notizen nachzuvollziehen, die dieser an die Ränder und ans Ende dieser Bücher gekritzelt hatte. Er bewunderte Darwins umfassende Gelehrsamkeit, wie er aus verschiedenen Konzepten die Quintessenz zog, und sein tiefes Verständnis biologischer Prozesse. „Nie ist das Konzept der Variation und die gewaltige Rolle der Auslese vor Darwin so klar, definiert und konkret vorangebracht worden“, schrieb er.
Nikolai Wawilow glaubte, dass Darwins Konzepte von grundlegender Bedeutung für die Frage waren, woher Arten ursprünglich stammen, einschließlich den domestizierten. Darwins Vorstellungen vom geografischen Ursprung der Arten, die er in der Entstehung der Arten darlegte, waren im Wesentlichen sehr einfach: Der Ursprung jeder Art sei wahrscheinlich der Ort, an dem es immer noch die größte Variationsbreite innerhalb dieser Art gibt. Das ist auch in der heutigen Forschung noch immer ein Grundprinzip: Der Ort mit der größten genetischen und phänotypischen Vielfalt heute ist wahrscheinlich der Ort, an dem diese Art am längsten existiert hat. Eine nützliche Daumenregel, die aber früher oder später vor Problemen steht, denn Pflanzen und Tiere bleiben im Verlauf der Zeit nicht an Ort und Stelle. Aber Wawilow war der Meinung, dass die Variationen innerhalb von eng verwandten Wildarten ebenfalls ein wichtiger Hinweis sein könnten; also warf er sein Netz etwas weiter aus und sah sich die wilden Verwandten ebenso an wie die domestizierten Feldfrüchte, die ihn eigentlich interessierten.
Wawilow arbeitete als staatlicher Botaniker – sein besonderer Aufgabenbereich umfasste die Erforschung domestizierter Pflanzenvarietäten auf der Suche nach Inspirationen für die russische Landwirtschaft und Pflanzenzucht. Doch genauso faszinierten ihn die historische und archäologische Dimension seiner Arbeit. Er ging davon aus, dass die Feststellung des Ursprungs domestizierter Arten auch wichtig sei, um „das historische Schicksal von Völkern zu erklären“. Ihm wurde außerdem klar, dass er durch die Aufklärung der Ursprünge des domestizierten Weizens Einsichten zu einem zentralen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit gewinnen würde, als nämlich unsere Vorfahren vom einfachen Sammeln wilder Nahrungsmittel dazu übergingen, sie anzubauen: als sie den Wechsel vom Jäger und Sammler zum Landwirt vollzogen. Wawilow wusste, dass er nach der Geschichte hinter der Geschichte suchte. Die früheste Domestizierung von Arten musste lange vor der Erfindung der Schrift erfolgt sein. Er schrieb: „Die Geschichte und der Ursprung menschlicher Zivilisationen und der Landwirtschaft sind zweifelsohne viel älter, als jede urzeitliche Dokumentation in Form von Objekten, Inschriften oder Skulpturen uns verrät.“
Die Jagd nach dem Ursprung domestizierter Arten war lange Zeit die Domäne von Archäologen, Historikern und Linguisten gewesen, doch Wawilow war der festen Überzeugung, dass die Botanik und die neue Wissenschaft Genetik einen wichtigen Beitrag leisten konnten. Er äußerte sich sogar ziemlich abfällig über herkömmliche Belege. „Philologen, Archäologen und Historiker sprechen von ‚Weizen‘, ‚Hafer‘ und ‚Gerste‘“, schrieb er 1924. „Der derzeitige botanische Wissensstand verlangt jedoch die Unterscheidung des kultivierten Weizens in 13 und des Hafers in 6 ganz unterschiedliche Arten.“
Er wusste, dass seine Wissenschaft nicht nur graue Theorie sein konnte. Er musste ins Feld. Er musste die Landschaften verstehen und die Pflanzen, die in ihnen wuchsen. Und vor allem brauchte er Proben. „Jedes einzelne Päckchen Getreide“, schrieb er, „jede Handvoll Saat und jedes Bündel reifer Ähren ist von größtem wissenschaftlichem Wert.“
Von seiner persischen Expedition kam Wawilow mit Belegen für eine große Vielzahl von Typen kultivierten Weizens im Gepäck zurück. Er unterteilte die Weizenarten in drei Gruppen, jede mit einer anderen Chromosomenanzahl. Die Weichweizenarten, darunter der gemeine Weizen, Brot- oder Saatweizen (Triticum vulgare) genannt, hatten 21 Chromosomenpaare, Hartweizen einschließlich Emmer (Triticum dicoccoides) 14 Paare und Einkorn (Triticum monococcum) nur 7 Chromosomenpaare. In Russland wurden nur sechs oder sieben Weichweizenarten angebaut. In Persien, Buchara (im heutigen Usbekistan) und Afghanistan verzeichnete Wawilow rund 60 verschiedene Varietäten. Ihm war klar, dass Südwestasien die Heimat dieser Form von kultiviertem Weizen sein musste. Die Verteilung der Hartweizenarten stellte sich etwas anders dar, hier fand sich die größte Vielfalt im östlichen Mittelmeerraum. Mit dem Einkorn war es wieder anders – wilde Varietäten waren in ganz Griechenland und Kleinasien, in Syrien, Palästina und Mesopotamien zu finden. Er beobachtete: „Am wahrscheinlichsten sind Kleinasien [Anatolien] und die angrenzenden Gebiete das Zentrum der Einkorn-Varianten.“
Wawilow war der Ansicht, dass diese verschiedenen Domestikationszentren für jeden Weizentyp die Eigenschaften der unterschiedlichen Arten auf eine Weise beeinflusst hatten, die für ihn als Agronom, der Erträge verbessern wollte, immer noch relevant waren. Hartweizen, wie Emmer, stammte von den Mittelmeerküsten, wo Frühling und Herbst feucht sind und der Sommer trocken ist. Er brauchte Feuchtigkeit, um zu keimen und zu wachsen, war im reifen Zustand aber relativ dürrebeständig. Wawilow hielt Emmer für die früheste domestizierte Form von Weizen – er beschrieb ihn als „den Brotweizen urzeitlicher landwirtschaftlicher Völker“. Und er hatte eine interessante Theorie über die späteren Ursprünge von Einkorn.
Als die ersten Bauern Weizen anzubauen begannen, stellten sie fest, dass bestimmte andere Pflanzen gern neben dem ausgesäten Getreide wuchsen. Sie hatten das Unkraut entdeckt. Einige dieser Unkräuter wurden schließlich selbst domestiziert. Wilder Roggen und Hafer kamen einst häufig als Unkraut in Weizen- und Gerstenfeldern vor. Wawilow stellte die These auf, dass der Roggenanbau auf die Praxis zurückging, das Unkraut im Winter auf den Weizenfeldern oder auf schlechten Böden oder in rauem Klima wachsen zu lassen – also überall dort, wo Roggen robuster war als das ursprünglich ausgesäte Getreide. Bei seiner Reise durch Persien sah Wawilow Emmerfelder, in denen eine unkrautartige Variante von Hafer wucherte. Er nahm an, dass bei dem Versuch, Emmer in nördlicheren Breiten anzubauen, die Felder völlig von Hafer überwuchert worden sein mussten. Die Bauern waren letztendlich gezwungen gewesen, Hafer als Getreide zu übernehmen.
Wawilow lieferte viele andere Beispiele für Pflanzen, die seiner Meinung nach als Begleitkräuter begonnen hatten, bevor sie selbst angebaut wurden. Flachs war ursprünglich ein Unkraut in Leinsamenfeldern. Die Garten-Senfrauke begann als Unkraut in Flachsfeldern. Wawilow stellte fest, dass wilde Möhren häufig als Unkraut in afghanischen Weinbergen wuchsen, wo sie, wie er schrieb, „sich praktisch selbst den ansässigen Landwirten zum Kultivieren anboten“. Auf ähnliche Weise stammen kultivierte Wicken, Erbsen und Koriander wahrscheinlich von Unkräutern in Getreidefeldern ab. Wawilow nahm an, dass eines der grasartigen Unkräuter in den anatolischen Emmerfeldern später selbst zu einem wichtigen Getreide werden sollte: Einkorn.
Zu Hause in Russland konnte sich Wawilow mit seinen Ideen nicht durchsetzen. Darwins Theorien und die Mendelsche Genetik waren in Stalins Sowjetunion nicht gefragt. Wawilow selbst wurde zunehmend als Bedrohung betrachtet, als gefährliches Unkraut. Sein Student Trofim Lyssenko, den Wawilow als „eine wütende Spezies“ beschrieb, stieß ihm schließlich den Dolch in den Rücken. Auf einer Expedition in die Ukraine wurde Wawilow verhaftet und kam ins Gefängnis von Saratow. Er sollte es nie wieder verlassen und starb dort 1943 den Hungertod.