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Eine Rasse Abstand
ОглавлениеNach der Entstehung und Ausweitung der Landwirtschaft waren Hunde sogar noch verbreiteter. Und nicht nur die menschliche Ernährung veränderte sich, sondern offenbar auch die der Hunde. Frühe Hunde ernährten sich fleischlastig, wenn auch, wie eine Studie andeutet, vielleicht von anderem Fleisch als ihre wilden Wolfsverwandten. Die Analyse von Knochen aus der 30.000 Jahre alten Stätte Předmostí in der Tschechischen Republik zeigte, dass die Caniden, die für altsteinzeitliche Hunde gehalten wurden, Fleisch von Rentieren und Moschusochsen fraßen, während die Wölfe sich von Pferde- und Mammutfleisch ernährten. Nach dem Aufkommen der Landwirtschaft veränderte sich die Zusammensetzung der Nahrung, die von den Menschen zu bekommen war. Für Dorfhunde, die auf den Müllhalden der eben sesshaft gewordenen menschlichen Gemeinschaften herumstrichen, muss der Tisch immer reich gedeckt gewesen sein.
Die meisten heutigen Hunde haben mehrere Kopien des Amylase-Gens, das das Enzym für die Stärkeverdauung kodiert. Je mehr Kopien ein Hund von diesem Gen besitzt, desto mehr Amylase produziert er in seiner Bauchspeicheldrüse – äußerst nützlich für alle, die ihre Nahrung im Dorfmüll suchen oder Reste vom Tisch fressen. Im Laufe der Zeit wechselte die Ernährung des Hundes von der eines Fleischfressers mehr zu der eines Allesfressers und wurde damit der Ernährung seiner menschlichen Verbündeten ähnlicher. Aber die Anzahl der Kopien des Amylase-Gens variiert unter den heutigen Hunden beträchtlich. Die Unterschiede in der Anzahl der Amylase-Gene lassen sich zum großen Teil auf die Rasse zurückführen. Dafür könnte es mehrere Gründe geben. Nachdem sie den Nachweis erbracht hatten, dass diese Variation kein einfacher Zufall war, fragten sich die Forscher, ob sie mit der Phylogenese, der „Familiengeschichte“ der Rassen, zusammenhängen könnte. Aber das schien nicht der Fall zu sein. Sie überlegten auch, ob das Kreuzen mit Wölfen die Anzahl der Kopien von Amylase-Genen bei einigen Rassen reduziert haben könnte, aber auch das schien das Muster nicht so recht zu erklären. Die einzige Erklärung, die noch zur Debatte steht, ist die, dass die Anzahl der Amylase-Gene Unterschiede in der Ernährung der urzeitlichen Hunde widerspiegelt.
Studien an Isotopen von Kohlenstoff und Stickstoff aus Proben urzeitlicher Hundeknochen haben Hinweise auf ihre Ernährung enthüllt und gezeigt, wie variabel sie war. Wir wissen beispielsweise, dass vor rund 9000 Jahren in China die Nahrung der dortigen Hunde zu 65 bis 90 Prozent aus Hirse bestand. Vor 3000 Jahren an der koreanischen Küste dagegen fraßen Hunde Meeressäuger und Fische. An unterschiedlichen Orten sahen sich Hunde verschiedenen ernährungsbedingten Herausforderungen gegenüber. Im Laufe der Zeit veränderte sich ihr Erbgut entsprechend.
Diese Art von Änderungen am Genom, die die Anzahl der Kopien eines bestimmten Gens in die Höhe treiben, erfolgt aufgrund von Fehlern während der Meiose, der speziellen Art der Zellteilung, aus der Ei- oder Samenzellen entstehen (die nur einen einzelnen Chromosomensatz enthalten, im Gegensatz zum doppelten Satz in allen anderen Zellen des Körpers). Während der Meiose finden sich die Chromosomen zu Paaren zusammen und jedes Paar tauscht Teile seiner DNA miteinander. Fehler, die während dieses sogenannten Crossing-overs passieren, können zu Dopplungen eines Gens auf einem Chromosom führen. Wenn das geschieht, erhöht das die Chance, dass in der nächsten Generation ein ähnlicher Fehler passiert, wieder in der Meiose, wenn Ei- oder Samenzellen entstehen. Zwei Kopien eines Gens auf einem Chromosom und eine auf einem anderen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Fehlpaarungen und Genduplikation. Dieser Fehler kann also dazu führen, dass Kopien eines bestimmten Gens vervielfacht werden – und wenn diese Veränderung nützlich ist, beseitigt die natürliche Auslese solche Fehler nicht, sondern begünstigt sie.
Hunde teilen sich offenbar in zwei Gruppen: die mit sehr wenigen Amylase-Genen und die mit vielen Kopien. Die heutigen Hunde mit der geringsten Anzahl (wie die Wölfe haben sie nur zwei Kopien) gehören meist Rassen wie Siberian Husky, Grönlandhund und Dingo an. Hunde mit vielen Amylase-Genen lassen sich ziemlich genau auf die Agrargegenden der Erde verorten, wo die Menschen in der Urzeit Ackerbau betrieben. Der Saluki, der aus dem Nahen Osten stammt, wo die Landwirtschaft an sich ihren Anfang nahm, besitzt phänomenale 29 Kopien. Aber diese Veränderung fand nicht unmittelbar statt; jungsteinzeitliche Hunde zeigen noch nicht die starke Vermehrung der Amylase-Gene, die sich bei ihren späteren Nachkommen, den Gefährten der Bauern, entwickelte.
In der Jungsteinzeit, als die Menschen den Ackerbau entwickelten, verbreiteten sich die Hunde auch zum ersten Mal über Eurasien hinaus. Ihre Spuren folgen der Ausbreitung der Landwirtschaft. In Subsahara-Afrika tauchen Hunde erstmals nach dem dortigen Beginn der Jungsteinzeit vor 5600 Jahren auf und brauchen weitere 4000 Jahre, um Südafrika zu erreichen. In archäologischen Stätten in Mexiko findet man die ersten Hunde vor etwa 5000 Jahren, zusammen mit den ersten Bauern dort, aber die Südspitze Südamerikas erreichen sie wiederum erst 4000 Jahre später. Untersuchungen der mitochondrialen DNA deuten darauf hin, dass all diese frühen amerikanischen Abstammungslinien der Hunde nach der europäischen Kolonialisierung Nord- und Südamerikas vollkommen ausgetauscht wurden. Die neuesten genomweiten Untersuchungen erzählen jedoch eine andere Geschichte: Europäische Hunde, die erst in den letzten 500 Jahren zusammen mit den Kolonialherren dort ankamen, mischten sich mit den einheimischen Hunden der Neuen Welt.
Die heutigen Rassen, die wir so gut kennen, kamen erst viel später – sie sind sehr junge Züchtungen. Die Hundegene spiegeln diese Geschichte wider. Es gibt Anzeichen für zwei markante genetische Engpässe unter den Vorfahren der Hunde: einen zu Beginn der Domestizierung und einen weiteren, als in den letzten 200 Jahren die heutigen Rassen aufkamen. Die Züchter begannen, sich stark darauf zu konzentrieren, bestimmte Eigenschaften zu fördern, und brachten Hunde hervor, die wunderbar folgsam und damit eine unschätzbare Hilfe beim Jagen und Hüten waren. Aber die Formbarkeit von Eigenschaften durch selektive Zuchtwahl war allzu verlockend, sodass auch Hunde nach speziellen Formen, Größen, Farben und Fellbeschaffenheiten gezüchtet wurden. Die morphologische Vielfalt der heutigen Hunderassen übertrifft die der gesamten übrigen Familie der Canidae, zu der Füchse und Schakale ebenso gehören wie Wölfe.
Heute gibt es fast 400 Hunderassen und die meisten davon existieren in all ihrer herrlichen Vielfalt eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert. Damals kamen nämlich die strengen Zuchtvorschriften auf, die nötig waren, um die Stämme zu erzeugen und zu erhalten, die von den Hundezuchtverbänden anerkannt wurden. Die offensichtlich ältesten Rassen, deren Abstammung am weitesten in den Familienstammbaum der Hunde zurückreicht, findet man tatsächlich dort, wo es erst seit relativ kurzer Zeit überhaupt Hunde gibt. Auf den Inseln Südostasiens tauchten Hunde erst vor 3500 Jahren auf und in Südafrika vor etwa 1400 Jahren, und doch stammen aus diesen Gegenden eine Reihe „genetisch alter“ Rassen: der Basenji, der Neuguinea-Dingo und der Dingo. Dieses Muster zeigt, dass diese Linien länger isoliert blieben als die meisten anderen Rassen. Die alten Wurzeln bedeuten nicht, dass ihre Linien zuerst abzweigten, sondern vielmehr, dass sie als Randgruppen am stärksten genetisch anders geblieben sind.
Auf der Grundlage einer Analyse der Genome verschiedener Hunderassen wurde ein sehr detaillierter Stammbaum erarbeitet. Innerhalb dieses Stammbaums gibt es 23 Cluster oder Kladen; jede enthält einen Satz von Zweigen, die eine Gruppe eng verwandter Rassen darstellen. So bilden etwa die europäischen Terrier eine Klade; Bassets, Foxhounds und Otterhunde bilden zusammen mit Dackeln und Beagels eine andere. Spaniels, Retriever und Setter sind ebenfalls ein eng verwandtes Cluster. Strenge Zuchtkontrolle hat diese Kladen größtenteils getrennt gehalten, aber einige Rassen enthalten DNA aus zwei oder mehr Kladen, was zeigt, wie verschiedene Hunde mit bestimmten Eigenschaften in jüngerer Zeit zu neuen Typen verkreuzt wurden. So hat beispielsweise der Mops erwartungsgemäß Verbindungen zu anderen asiatischen Zwerghunderassen, gehört aber auch zu dem engen Cluster europäischer Zwerghunde. Das deutet darauf hin, dass der Mops aus Asien exportiert und dann bewusst mit europäischen Rassen gekreuzt wurde, um neue, kleinere Rassen zu erzeugen. Obwohl die genetischen Daten die Schaffung streng getrennter Rassen in den letzten 200 Jahren belegen, ist es auch klar, dass diese Rassen nicht aus einer homogenen Population entstanden. Die Auswahl nach bestimmten Eigenschaften hatte die Hunde bereits in Typen getrennt, die sich für bestimmte Funktionen eigneten, und diese älteren Unterschiede bilden die Grundlage für die 23 Kladen im Stammbaum der Hunde.
Viele Hunderassen mit vorgeblich alten Wurzeln stellen sich allerdings als jüngere Neuschöpfungen heraus. Wolfshunde wurden, wie ihr Name schon andeutet, für die Jagd auf ihre wilden Verwandten eingesetzt – und das mit großem Erfolg. 1786 gab es in Irland keine Wölfe mehr und damit auch keinen Bedarf an Wolfshunden. Bis zum Jahr 1840 war auch der Wolfshund in Irland ausgestorben. Doch dann erweckte Captain George Augustus Graham, ein Schotte aus Gloucestershire, den „Irischen Wolfshund“ wieder zum Leben, indem er einen Hundetyp, den er für eine Art von Wolfshund hielt, mit schottischen Deerhounds kreuzte. Die heutige Population Irischer Wolfshunde entstammt einer sehr kleinen Gruppe von Vorfahren, sodass hier wie bei vielen anderen Rassen auch eine Inzucht vorliegt. Das hilft zwar dabei, die Merkmale der Rasse zu erhalten, erhöht aber auch das Risiko für bestimmte Krankheiten mit einer starken genetischen Komponente. Rund 40 Prozent der Irischen Wolfshunde leiden an irgendeiner Form von Herzerkrankung und 20 Prozent an Epilepsie. Und nicht nur ihr Stammbaum sieht sich derartigen Problemen gegenüber. Viele Hunderassen gingen im 20. Jahrhundert während der Weltkriege zurück, bis sie kurz vor dem Aussterben standen, und wurden durch Auskreuzung mit anderen Hundetypen wiederbelebt. Sehr strenge Zuchtregeln seit dieser Zeit haben zu Populationen mit einem hohen Grad an Inzucht geführt, sodass die Rassen eine geringe genetische Vielfalt und ein erhöhtes Risiko für Krankheiten von Herzerkrankungen und Epilepsie bis zu Blindheit und bestimmten Krebsarten aufweisen. Bestimmte Rassen sind für gewisse Erkrankungen besonders anfällig: Bei Dalmatinern besteht ein großes Risiko für Taubheit, Labradore leiden häufig unter Hüftproblemen, Cockerspaniels entwickeln oft grauen Star.
Heute mögen die Rassen in ihrer Fortpflanzung relativ isoliert sein, aber ihre Gene verraten uns, dass es einmal einen starken Genfluss zwischen Rassen oder Protorassen gab. Rassen aus unterschiedlichen Ländern haben gemeinsame Merkmale und Gene, was zeigt, dass sie in der Vergangenheit gekreuzt worden sein müssen. Der Mexikanische Nackthund und der Chinesische Schopfhund haben Haarlosigkeit und fehlende Zähne gemeinsam, und in beiden Rassen werden diese Merkmale von genau derselben Mutation eines einzelnen Gens verursacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gen in zwei verschiedenen Hundepopulationen auf genau dieselbe Weise mutiert, geht gegen Null. Die gemeinsamen Merkmale und die identische genetische Signatur sprechen vielmehr für gemeinsame Vorfahren. Dackel, Corgis und Bassets haben sehr kurze Beine. Zusammen mit 16 anderen Hunderassen zeigen sie alle genau dieselbe genetische Signatur, die mit dieser Form von Zwergwuchs verknüpft ist, nämlich ein zusätzliches Gen. Höchstwahrscheinlich kam es nur einmal zu dieser Einfügung, und zwar bei den frühen Hunden, lange vor dem Aufkommen einer der heutigen kurzbeinigen Rassen.
Die genetische Forschung gibt uns die fantastische Gelegenheit, die Evolutionsgeschichte der Hunde zu verstehen – vom pleiotropischen Übermaß an Vielgestaltigkeit durch die Auslese nach Zahmheit bis hin zur Auslese nach besonderen Merkmalen für ganz bestimmte Aufgaben in unseren heutigen Rassen. Wir sehen, wie bestimmte Mutationen und die damit verknüpften Merkmale bei frühen Hunden auftauchten und später – viel später – durch selektive Zuchtwahl gefördert und weiterverbreitet wurden, um die Rassen zu schaffen, die wir heute kennen. Da die Inzucht zu Problemen mit erhöhten Krankheitsrisiken führt, versuchen Genetiker heute, auch die Grundlage besonders verbreiteter Erkrankungen zu verstehen, und es könnte möglich sein, dieses Risiko durch noch sorgfältigere Zuchtwahl und vernünftiges Auskreuzen nach der Bestimmung des Genotyps zu verringern.
Bei manchen Rassen überschritt die Auskreuzung sogar die Grenzen des Haushundes. Eine derartige extreme Auskreuzung war die Grundlage für den Saarlooswolfhund, der 1935 durch die Kreuzung eines männlichen Deutschen Schäferhundes mit einem weiblichen Eurasischen Wolf entstand. Der niederländische Züchter Leendert Saarloos hoffte, damit einen wilderen und furchteinflößenderen Gebrauchshund zu schaffen, doch er erhielt stattdessen ein sanftes und scheues Tier. Saarlooswolfhunde sind gute Familienhunde und werden gern als Blindenhunde und Rettungshunde eingesetzt. Eine andere Rasse, der Tschechoslowakische Wolfhund, wurde ebenfalls durch Verpaaren von Deutschen Schäferhunden mit Wölfen geschaffen, und zwar 1955 in der Tschechoslowakei. Er wurde ursprünglich als militärischer Diensthund gezüchtet, wird aber auch als Such- und Rettungshund eingesetzt und erfreut sich zunehmender Beliebtheit als Haustier. Will Walker besitzt eine Tschechoslowakische Wolfhündin namens Storm. „Sie ist genauso freundlich wie jeder andere Hund. Sie mag alle Hunde und alle Menschen, die sie trifft“, erzählte er mir. Eine ausgezeichnete Wachhündin ist sie außerdem. „Sie verbellt alles – sie ist ganz versessen darauf, mich und mein Haus zu verteidigen.“ – „Das ist ja wie bei den frühen Jägern und Sammlern mit den Wölfen, die ihre Lager beschützten!“, kommentierte ich.
Doch der zunehmenden Beliebtheit von Wolfshunden – befeuert durch den Auftritt dieser beeindruckenden Tiere in Game of Thrones – stehen wachsende Zweifel an ihrer Eignung als Haustiere gegenüber. Man muss eine wichtige Unterscheidung treffen zwischen Tieren, die aus jüngeren Hybridisierungen entstanden, und etablierten Rassen wie dem Saarlooswolfhund und dem Tschechoslowakischen Wolfhund, die genetisch wesentlich mehr Hund als Wolf sind. Einige Züchter von Wolf-Hund-Hybriden bieten jedoch Tiere an, die als Produkt jüngerer Kreuzungen angepriesen werden, was ein Potenzial für wildes, unvorhersehbares Verhalten befürchten lässt.
Wolf-Hund-Hybriden haben in den USA mehrfach Kinder angegriffen und getötet und sind in einigen Bundesstaaten kategorisch verboten. In anderen sind sie legal, solange die Hybridisierung mindestens fünf Generationen zurückliegt. In Großbritannien gilt ein Wolf-Hund-Hybride der ersten oder zweiten Generation als gefährlich genug, um unter den „Dangerous Wild Animals Act“ zu fallen, also dasselbe Gesetz, das auch den Besitz eines Löwen oder Tigers reguliert. Es mag seltsam erscheinen, dass Züchter den Wolfanteil ihrer Welpen überbetonen, aber Wildheit gehört zum Prestige dieser Tiere. Wegen Käufern, die auf der Suche nach einem „hohen Wolfanteil“ und „wildem Aussehen“ sind und bereit, 5000 Pfund auf den Tisch zu legen, um sich ein bisschen wie Jon Snow zu fühlen, sind Wolf-Hund-Hybriden ein knallhartes Geschäft. Es lässt sich schwer feststellen, wie „wolfartig“ genau das Ergebnis einer Kreuzung in einigen Generationen sein wird. Bei den Tieren der ersten Generation beträgt der jeweilige Genanteil 50:50, aber danach wird es durch die Neumischung der DNA bei der Entstehung von Ei- und Samenzellen unübersichtlich – Wolfshunde der zweiten Generation können bis zu 75 Prozent Wolfgene im Genom haben oder aber auch nur 25 Prozent. Möglich ist auch, dass einige angebliche „Wolf-Hund-Hybriden“ gar keine sind, sondern einfach nur Kreuzungen aus Deutschen Schäferhunden, Huskys und Malamutes, die für sich genommen schon recht wolfähnlich ausschauen, um Tiere hervorzubringen, die noch mehr nach Wölfen aussehen. Die „Wolfartigkeit“ eines Wolf-Hund-Hybriden einige Generationen nach der Hybridisierung lässt sich unmöglich feststellen, ohne den Genotyp zu bestimmen. Und selbst mit diesem genetischen Maß der Wolfartigkeit lässt sich kaum vorhersagen, wie sich das auf das mögliche Verhalten eines Einzeltieres auswirkt.
Auf der anderen Seite steht zu befürchten, dass durch Wolf-Hund-Hybriden Hundegene ihren Weg in das Genom wilder Wölfe finden. Genetische Studien haben gezeigt, dass 25 Prozent des Genoms des Eurasischen Wolfs auf Hundevorfahren zurückzuführen sind. Aus der Artenschutzperspektive ist das bedenklich: Könnte eine Zuführung von Haushundegenen bei wilden Wölfen Probleme für Canis lupus schaffen? Die Wolfpopulationen in Europa sind unter dem Druck sowohl der Bejagung als auch der Fragmentierung von Lebensräumen zurückgegangen. Aber die Hybridisierung könnte auch nützliche Gene und Merkmale beisteuern. Nordamerikanische Wölfe verdanken ihr schwarzes Fell der Kreuzung mit Hunden vor Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden. Die meisten Hybridisierungen scheinen durch freilaufende Hunderüden zu entstehen, die sich mit Wölfinnen paaren, aber eine neuere Studie zeigte mitochondriale Hunde-DNA in zwei lettischen Wolf-Hund-Hybriden. Da mitochondriale DNA ausschließlich durch die Mutter vererbt wird, kann sie nur im Wolfgenom gelandet sein, weil sich Hündinnen mit Wolfsrüden paarten. Sind erst einmal Hundegene in eine Wolfpopulation eingedrungen, ist es sehr schwer, sie wieder herauszuzüchten. Manche Hybriden ähneln ein wenig mehr den Hunden, aber viele sehen genau wie wilde Wölfe aus. Experten zufolge lässt sich der Einfluss der Hybridisierung am besten dadurch reduzieren, indem man die Anzahl der freilaufenden Hunde verringert. Haben sie sich erst mit wilden Wölfen gepaart, ist es zu spät.
Die Hybridisierung wirft alle möglichen Fragen auf. Zunächst einmal stellt sich die biologische Frage nach der Integrität von Arten und danach, wie viele Kreuzungen eigentlich über unsere einst unantastbaren Artgrenzen hinweg stattfinden. Wenn es zu vielen Kreuzungen mit fruchtbaren Nachkommen kommt, bedeutet das dann, dass unsere Artgrenzen zu eng gesteckt sind? Solche Fragen werden derzeit heftig diskutiert. Tatsächlich waren aber Taxonomen, also die Wissenschaftler, die es sich zur Aufgabe machen, Arten zu benennen und zu beschreiben, nie so streng, wie die Lehrbücher uns glauben machen wollten. Arten sind einfach nur Schnappschüsse evolutionärer Linien, die sich verzweigen und manchmal eben auch zusammenfließen. Sie definieren sich durch feststellbare Unterschiede zu ihren nächsten Verwandten am Baum des Lebens. Aber manchmal werden sie auch so benannt, wie es dem Menschen am besten passt – vor allem, wenn er Haustieren und ihren wilden Vorfahren unterschiedliche Artnamen zuweist.
Die mögliche Hybridisierung wirft auch ethische Fragen nach der „Kontaminierung“ wilder Arten mit Genen domestizierter Arten auf. Nachdem wir unsere domestizierten Arten erschaffen haben, sind wir nun bestrebt, alle noch lebenden eng verwandten wilden Arten zu erhalten. Aber beschwört das nicht vielleicht eine Vorstellung von der Reinheit der Arten herauf, die in der echten Welt so gar nicht existiert? Das ist eine schwierige Frage, die noch drängender werden wird, wenn unsere eigene Population weiter anwächst und die Arten, mit denen wir uns verbündet haben, mit ihr. Es ist eine echte Zwickmühle: Die Arten, die zu unseren Verbündeten wurden, sicherten sich ihre Zukunft, indem sie umgänglich, nützlich, sogar unentbehrlich für uns wurden. Aber zusammen mit ihnen stellen wir eine Bedrohung für die gesamte verbliebene Wildnis dar.
Die sicherste Art, wie Menschen und Wölfe auf diesem Planeten nebeneinander existieren können, scheint darin zu bestehen, sich aus dem Weg zu gehen. Unsere Vorfahren duldeten einst wilde Wölfe – lange genug, um sie zu domestizieren. Wölfe sind heute vielleicht von Natur aus wesentlich scheuer in der Gegenwart von Menschen als in der Vergangenheit. Indem sie zu domestizierten Hunden wurden, haben sich Wölfe auf viele Arten verändert, aber vielleicht gilt das auch für die wilden Wölfe. Die Verfolgung wilder Wölfe und die Jagd auf sie stellten wahrscheinlich einen eigenen Selektionsdruck dar: Die erfolgreichsten Wölfe waren wohl die, die sich von den Menschen fernhielten. Wölfe, die furchtsamer sind und uns meiden, könnten durch menschenvermittelte Auslese entstanden sein – genau wie Hunde.
Die Genetik von Wölfen und Hunden deutet darauf hin, dass die Wolflinie, aus der die Hunde entstanden, heute ausgestorben ist. Das letzte glaziale Maximum brachte harte Zeiten, daher ist das mit Sicherheit möglich. Aber es gibt noch eine andere mögliche Betrachtungsweise des Familienstammbaums: Diese Wolflinie ist gar nicht ausgestorben, sondern stellt den größten Zweig des Wolfstammbaums dar – die Hunde. Genetisch gesehen sind Hunde Wölfe. Die meisten Forscher ordnen sie einfach unter den Wölfen, Canis lupus, ein – nicht als eigene Art, die man früher Canis familiaris nannte, sondern als Unterart: Canis lupus familiaris.
Dieser Terrier, dieser Spaniel, dieser Retriever, den Sie so gut kennen, ist also im Grunde seines Herzens ein Wolf. Aber mit seinem Schwanzwedeln und Handlecken ist er wesentlich freundlicher und insgesamt weniger gefährlich als seine wilden Verwandten.