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02 – Zug

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Gut, dass ich hier bin. Im Zug. Auf Reisen. So geht es vorwärts, ohne, dass ich mich bewegen muss. In Köln wird das anders sein. Dann geht es nicht ohne eigenen Antrieb, wenn sich etwas ändern soll. Martha wird mich treten, wenn es sein muss. Nur hoffentlich tritt sie nicht zu schnell, gibt mir erst eine Chance. Die will ich selbst ergreifen. Mein Körper sackt tiefer in das Sitzpolster.

Hinter den schmutzigen Fenstern des ICE fliegt die Landschaft an mir vorbei. Wiesen, Felder, vereinzelte Häuser. Wo Bäume und Sträucher direkt an den Bahngleisen stehen, fange ich von den vorbeihuschenden Bildern an zu schielen. Kann die Objekte nicht mehr scharf stellen. Dazu das sachte Schaukeln des Waggons. Ich werde müde, sinke noch tiefer in den Sitz, kann kaum noch den Kopf gerade halten. Die Lider senken sich schwerfällig über die trägen Augen. Das Dunkel, die Schläfrigkeit – die Gedanken sind angenehm betäubt. So bin ich mir am liebsten: nicht mehr ganz hier, aber auch noch nicht ganz da. Ohnmächtig auf dem Weg in bleiernen Schlaf. Der Schlaf kommt näher, mit ihm die Entfernung. Bilder steigen auf, kippen weg, schieben sich ineinander, ein wirrer Strom, in dem ich treibe, ohne jede Orientierung. Ein diffuser Schleier trennt mich schon von der Welt. Gleich bin ich fort. Dann, plötzlich, eine Person neben mir auf dem Gang. Sie atmet, keucht fast, muss gelaufen sein, um den Zug noch rechtzeitig zu erreichen. Die Person scheint zu zögern, rutscht dann auf den leeren Platz mir gegenüber. Etwas berührt meine Füße. Möglicherweise eine Tasche.

Wer sitzt da vor mir?

Egal. Es soll mir egal sein. Ich will bleiben, wo ich bin, nein, will noch weiter weg.

Mein Gegenüber räuspert sich. Eindeutig ein Mann. Außer dem Geschlecht alles unklar. Sieht er mich an?

Das alles soll mich nicht interessieren, bin doch zufrieden, dort, wo ich bin. Oder nicht? Warte. Warte länger. Die Neugier lässt die Kopfhaut jucken. Als sich die Zwischentür öffnet, weht durch den Luftzug ein Hauch seines Parfums zu mir herüber. Es muss seines sein.

Er riecht gut, fantastisch. Sein Duft fängt mich ein, steigt mir zu Kopf. Es ist nicht nur das Parfum, es ist die Mischung. Sein Körpergeruch hat das Parfum veredelt, ihm das Scharfe, Künstliche genommen und dafür etwas Unverwechselbares hinzugefügt. Sein Geruch, ihn zu riechen, so intim, so nah. In meinem Kopf entsteht ein Bild, weniger von seiner Persönlichkeit, mehr von seinem Körper. Ich muss ihn sehen. Vielleicht reicht ein Blinzeln. Durch die getuschten Wimpern sehe ich ihn undeutlich wie durch Dickicht aus meinem Versteck. Allerdings nur die Silhouette, keine Details. Er ist schlank, sein Geruch wie eine Droge, betörend, gefährlich.

Beruhigend ist das keineswegs. Der Fremde raubt mir die Ruhe.

Dann, nach einem kurzen inneren Widerstand, siegt endlich die Neugier, lösen sich die oberen und unteren Wimpern vollständig voneinander, geben die Sicht frei.

Ich erschrecke, reiße die Augen viel zu weit auf und kneife sie danach wieder reflexartig für einen Moment zu. Aber da hat er schon gesehen, dass ich ihn gesehen habe.

Er lächelt kurz.

Damit habe ich nicht gerechnet.

Hitze strömt von der Körpermitte in meinen Kopf. Die Müdigkeit ist schlagartig verschwunden. Ich richte mich auf, recke den Hals. Habe das dringende Bedürfnis, Haltung anzunehmen.

Er ist etwas älter als ich, Ende zwanzig vielleicht. Dreitagebart, Haare kurz und dunkel, nicht mehr als 4 mm. Dazu tiefblaue Augen umschattet von langen, dunklen Wimpern. Der Oberkörper athletisch, die breiten Schultern in idealer Proportion zu den schmalen Hüften. Sein Bizeps zeichnet sich fein unter dem dünnen Pullover ab. Die Kleidung ist schlicht und körperbetont: blauer Baumwollpullover mit Rundhalsausschnitt, ein weißer T-Shirt-Rand ist sichtbar. Er trägt große, weiße Kopfhörer; die Hände spielen mit einem superflachen Smartphone. Gesicht und Oberkörper sind geradezu makellos. Er reißt mich hin.

Stopp – doch, zwei Unstimmigkeiten gibt es: Er hat gerötete Augen und eine Macke an der Oberlippe, dazu guckt er schläfrig. Wahrscheinlich hat er gekifft.

Auf beiden Seiten des Adamsapfels verläuft eine Art Rinne. Sein Hals ist stark, männlich, verführerisch wie alles andere, das ich sehen kann. Der holzig herbe Duft dringt wieder in meine Nase, als er die Arme über den Kopf nimmt, um den Pullover auszuziehen. Ein Aphrodisiakum. Hätte mich beinahe vorgebeugt, um noch mehr davon einatmen zu können. Assoziation: Frankreich im Sommer, ein Pinienwald am Meer. Er riecht nach Urlaub, nackten Körpern am Strand.

Und unterhalb der Tischkante?

Ich bücke mich unter den Tisch und fummle als Vorwand an meinem Rucksack herum. Zu meiner Enttäuschung verdeckt seine Reisetasche die Füße. Aber ich sehe die Beine. Ich wette, er läuft. Vielleicht ist er Triathlet. Die Hose besteht aus einem feinmaschigen Stoff, hellgrau, nicht zu eng. Gut. Letzte Unbekannte bleiben die Schuhe. Davids Schuhe, ich nenne ihn David.

Warum sitzt du hier bei mir, David? Hättest du mir das nicht ersparen können? In ein paar Stationen steigst du aus, lässt mich zurück mit dem unguten Gefühl, etwas Großartiges verpasst zu haben. Ich sehe dein Profil, die kräftige Halsmuskulatur geschmeidig verschmelzend mit den breiten Schultern. Schmerzlich fast dein Anblick, so schön bist du ... und unerreichbar für mich.

Wir sitzen so nah beieinander und dennoch bist du nicht greifbar, befindest dich in einem anderen Universum. Ich müsste dich ansprechen, denn umgekehrt wird es nicht sein, wahrscheinlich siehst du mich nicht mal, nimmst mich nur wahr als einen atmenden Fleck. Denn ich bin nicht besonders, so wie du, steche nicht heraus aus der Menge.

Er atmet tief ein und dann seufzend wieder aus. Dabei senkt sich der breite Brustkorb tief. Ein Schauspiel. Seine ganze Erscheinung ein Kunstwerk. Wie oft begegnet man so jemandem? Und wie oft setzt sich so jemand direkt gegenüber? Ich schaue mich um, suche nach dem Regisseur, der seine Spielchen mit mir treibt, mir zeigen will, was ich nie erreichen kann, denn so eine Begegnung kann kein Zufall sein.

Oder ist das eine einmalige Gelegenheit? Ein Fingerzeig. Sitzt er am Ende vor mir wie ein Geschenk, das es nur anzunehmen und zu öffnen gilt? Allein der Gedanke, er, ich … Schließe die Augen, spüre den Sensationen nach, die meinen Körper in Wellen passieren. Was da in mir geschieht, ist mir vollkommen fremd. Und dann weiß ich es: Du bist nicht ohne Grund hier, David. Du sollst mich aufwecken, herauslocken aus meiner tödlich bequemen Monotonie. Dein Duft, deine archetypische Gestalt – ein Vorgeschmack auf das, was kommen kann, auf das, was kommt, wenn ich mutig genug bin! Zäh waren die vergangenen Wochen, sogar Jahre und nun bin ich wie elektrisiert. Allein dein Anblick hat dazu gereicht. Solltest du auch gleich wieder verschwinden, dann behalte ich trotzdem etwas von dir hier!

Es pulsiert in mir, als hätte er gerade meinen nackten Körper berührt. Fasziniert blicke ich ihn an. Er kratzt sich mit der linken Hand an der rechten Schulter und lässt sie daraufhin langsam diagonal über die Brust in den Schoß gleiten. Er weiß, wie er wirkt, hat wahrscheinlich mit dem pubertären Erwachen angefangen, diese Wirkung spielerisch für sich einzusetzen.

Vorsicht, Alma, Begegnungen mit Schönlingen gehen nur selten gut für uns aus. Gut für mich und all die anderen Unscheinbaren. Denn die Schönen sind meistens nicht die Nettesten und auch nicht die Schlausten. Aber das soll mich gar nicht weiter stören. Unsere Begegnung wird nur flüchtig sein. Ein Wimpernschlag. Ich werde noch lange an dich denken, David, und du wirst gleich schon nicht mehr wissen, dass ich überhaupt existiere.

Warum will ich dann, dass er mich wahrnimmt? Er, den ich schon, bevor er das erste Wort gesprochen hat, für dumm und unsympathisch halte? Wie kann das sein, dass mich die reine Oberfläche so maßlos verzaubert? Meine Augen suchen seine Spiegelung im Glas.

Der Zug folgt unbeirrt weiter den Schienen. Haben sich die letzten Stunden unendlich hingezogen, so rasen die Minuten jetzt wie im Zeitraffer.

Plötzlich erfasst mich neuer Optimismus. Du bist doch mehr als eine flüchtige Erscheinung. Du bist aus Fleisch und Blut, eine Chance, die ich ergreifen muss.

Wahrscheinlich schwindet mein Interesse, sobald wir uns unterhalten. Du bist hohl, eitel und arrogant – und unwiderstehlich.

Ich wende mich wieder in seine Richtung. David schaut mir plötzlich direkt in die Augen. Sein Blick trifft mich wie ein Schlag. Unglaublich, dieses Direkt-angesehen-Werden von so tiefblauen Augen. Sie reflektieren das Sonnenlicht, flimmern dabei, wie das Meer. Er lächelt diesmal nicht, sagt auch nichts. Die Sekunden quälen sich voran. Das tut fast weh. Kann nicht einschätzen, was sein Blick bedeuten mag. Versuche, so zu tun, als würde ich das gar nicht merken, dass er mich ansieht, greife nach dem Faltblatt auf dem Tisch, informiere mich über die kommenden Stationen des Zuges. Trotzdem spüre ich, wie seine Augen jetzt an mir hinunterwandern. Er tastet alles ab, Hals, Schultern, Brust. Ich zucke ungewollt. Die Haut brennt an den Stellen, die er passiert hat.

Gefällt dir, was du siehst? Aber an den Brüsten hält er sich nicht lange auf. Warum nicht? Zu klein für deinen Geschmack? Würde das etwas ändern, wenn sie größer wären? Würdest du dann lächeln? «Et mes seins, tu les aimes? ... Qu’est-ce que tu préfères: mes seins ou la pointe de mes seins?» – nur ein Zitat aus ‹Le Mépris›. Sie, nackt, vor ihm, fragt ihn nach seiner Vorliebe, die Brust oder ihre Spitzen. Ich bin zwar nicht nackt, aber ich fühle mich so und ich wüsste ebenfalls gerne, was ihm gefällt.

Oder liegt es an der Präsentation? Bin ich dir zu provinziell, zu langweilig, zeige ich zu wenig? Wäre es dir lieber, David, dein Blick könnte auf zwei Brüsten ruhen, die ein Wonderbra raffiniert zueinander schiebt und anhebt, sodass sie rund und prall werden und sich eine verführerische Rinne zwischen ihnen bildet? Die Kleidung drum herum drapiert wie ein geöffneter Theatervorhang. Vielleicht hieltest du dich dann länger an mir auf. Aber ich habe nun mal keine Ahnung von diesen Enthüllungsspielen. Bisher hat mich mehr interessiert, was sich unter der Oberfläche verbirgt, und das ist auch an mir das Interessantere. Glaube ich. Hatte ich mir zumindest immer so gewünscht. Und jetzt?

Jetzt gäbe ich alles für ein tiefes Dekolletee. Würde zugunsten der Oberfläche auf ein wenig Tiefe verzichten, täte alles, um begehrenswert zu sein, ihn genauso zu fesseln, zu beunruhigen, wie er mich. Dann wäre es mein Bild, das er heute Abend mit in sein Bett nehmen würde, sein Geschlecht dabei in der Hand, um sich Befriedigung zu verschaffen. Unglaublich diese Gedanken, verachtenswert, erkenne mich selbst nicht mehr. Und doch, es gefällt mir. Diese Gedanken an das, was mit ihm sein könnte, sind erregender, besser als alles, was ich bisher tatsächlich hatte.

David ist mit seinen Augen jetzt an meiner Gürtelzone angekommen. Hier endet der Scan. Er widmet sich wieder seinem Smartphone. Vorbei! Noch kein Wort gesprochen und trotzdem ist mein Ego schon in Gefahr. Die Lust verebbt schlagartig, zurück bleibt das erniedrigende Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Warum hast du nicht gelächelt, David? Weil du arrogant bist. Du bist reine Oberfläche. Das ist deine einzige Qualität ... und dein Los. Du kannst nichts dafür. Aber ich auch nicht. Und deshalb muss ich dich entsprechend behandeln. Zu meinem eigenen Schutz.

Nun da er wegsieht, kann ich wieder hinsehen. Dabei kommt mir etwas in den Sinn, das mich wieder auf Augenhöhe bringen wird.

Ich zeichne dich, banne deine Gestalt auf Papier und mache dich unschädlich! Du kannst nichts dagegen tun.

Vor ein paar Monaten, beim Aktzeichenunterricht, da kaute sich das Männer-Modell in der Pause die Fingernägel ab, nur weil ich es an seiner wichtigsten Körperstelle, miniaturisiert hatte – nicht aus zeichnerischer Unzulänglichkeit, nein, aus voller Absicht. Wankend kam dieser selbstgefällige Idiot immer wieder zu meiner Staffelei, begann Small Talk, um sich beliebt zu machen, bat mich mehrfach, ihm die Zeichnung zu schenken, sogar zu verkaufen, und je überzeugter ich ihm das verweigerte, denn die Zeichnung war wirklich gut, sollte sogar ausgestellt werden, desto nervöser wurde er.

Ahnungslos schaut sich David jetzt um, hat keine Ahnung von dem, was ich ihm antun werde.

Wenn ich dich zeichne, bist du mein Geschöpf, unterliegst meinem Willen. Ich kann dich mit einem einfachen Filzstift von deinem Sockel stoßen, dich mir unterwerfen, ohne dass du es merkst, denn der Magie des Schöpfungsaktes entzieht sich niemand. Objekte der Angst oder der Begierde, egal, was es an Bedrohlichem sein mag – darstellend bannt der Mensch seine Dämonen. Einst in primitiven Höhlenzeichnungen, später in aufwendigen Gemälden und heute als Kritzeleien auf Toilettenwänden.

Ich werde dich an deiner empfindlichsten Stelle treffen, an der empfindlichsten Stelle aller Männer, und mag dieses Detail in Relation zum Rest des Körpers auch klein erscheinen, es gibt einfach kein bedeutenderes für die männliche Eitelkeit!

Ich hole das Skizzenbuch aus meinem Rucksack und wähle zwei schwarze Fineliner in unterschiedlichen Stärken aus. Die Vorbereitungen sind sorgfältig zu treffen, wenn das Ergebnis gut werden soll.

Vorsichtig berührt er die Macke am Mund mit dem Mittelfinger und verzieht schmerzlich das Gesicht dabei. Jeder hat einen wunden Punkt. Und deiner ist mit Sicherheit die Eitelkeit. Mit ein paar kleinen Markierungen übertrage ich seine groben Proportionen auf die leere Seite.

Dann beginne ich an der Kinnpartie, nutze die Gelegenheit, dass er nun seitlich aus dem Fenster schaut. So hat man eine leichte Untersicht und damit die delikaten Stellen im Blick. Der Hals ist ausgesprochen sexy: stark, markant, fest. Jetzt dreht er sich noch weiter Richtung Fenster. In der Bewegung folgt die Haut geschmeidig der Muskulatur. Der Adamsapfel hebt sich leicht, als er schluckt. Sein Körper ist ein Gedicht. Ich bin begeistert, muss mich zur Nüchternheit zwingen.

Jeder Strich ist wie eine Anzüglichkeit, denn David ist auf der Zeichnung vollkommen nackt.

David, mit der Betonung auf dem i. Nicht Michelangelos, sondern Almas.

Mit jeder Minute wird er mehr zu meinem Geschöpf. Ich beschenke ihn reichlich mit Muskelfleisch, forme seine Oberarme zu Kunstwerken, moduliere seine Bauchpartie nach dem westlichen Ideal. Nur das Gesicht soll exakt so werden, wie es ist. Dann erkennt man dich, David. Meine Hand bewegt sich schwung- und machtvoll über das Papier. Euphorischer Wahnsinn führt den Stift. Gleichzeitig pocht es intensiv an der Jeansnaht zwischen den Beinen. Ich presse mich mehr dagegen. Macht und Erotik, beides so erschreckend nah beieinander. Höre auf, mich über mich selbst zu wundern, genieße den Rausch.

Dann ist es vollbracht. Ich bin zufrieden mit seiner Figur, freue mich über seinen geradezu verstörenden Penis.

David wird sein Bildnis niemals sehen und dennoch ist das Gleichgewicht wiederhergestellt.

An der Seite notiere ich seinen Steckbrief:

Name: David

Alter: 27

Ausbildung: abgebrochenes Architekturstudium

(1. Semester)

Beruf: Model (aber nie ganz nackt)

Hobbys: Pumpen, Mädels, Kiffen

Lebensziel: «später mal in die Politik»

Stärken: gutaussehend

Schwächen: «kein Kommentar»

Das ist böse, ein bisschen albern sogar, aber es verschafft mir Befriedigung.

Als ich fertig bin, betrachte ich das Original. David hat an der Fensterdichtung einen Marienkäfer entdeckt. Lächelnd hält er seinen Finger vor das Insekt, damit es darauf klettern kann. Der Marienkäfer läuft vom Finger hinauf bis zum Handrücken und gerät in den Haaren, die dort wachsen, ins Straucheln. David balanciert die Hand aus, damit der Käfer nicht hinunterfällt, schaut sich um, als würde er im Zug nach einer Pflanze suchen, und setzt ihn dann wieder vorsichtig auf der Fensterdichtung ab.

Vielleicht tue ich ihm Unrecht. Eine ganze Weile sitze ich nur da und beobachte ihn, hoffe auf weitere Hinweise zu seinem Charakter. Dann streiche ich sein Lebensziel mit der Politik durch und schreibe stattdessen: «irgendwas mit Tieren».

Als ich vom Skizzenbuch wieder aufblicke, hilft er gerade einer älteren Dame, deren Taschenhenkel im Vorbeigehen an seiner Armlehne hängen geblieben ist. Die Dame bedankt sich überschwänglich, kann nicht fassen, dass der junge Schönling ihr so freundlich und zuvorkommend begegnet. Sie errötet, fasst sich mit der freien Hand an die glühende Wange, stottert schwärmerisch überschwänglichen Dank vor sich hin. Ihre Worte verwirren sich, die Mundwinkel zucken schamhaft, als spürte sie plötzlich, dass es nur der Höflichkeit geschuldet ist, dass sich seine Aufmerksamkeit so lange um ihre gealterte Person dreht. Sie zupft die Knopfleiste ihrer Bluse gerade, als könne sie damit auch ein paar der übrigen Falten glätten. Dann drückt sie die befreite Tasche an sich. Kein Problem, sagt er und, ja, die Gänge in den Zügen seien wirklich viel zu eng. Freundlich nickt er ihr zu. Die Dame wird von nachrückenden Passagieren zum Weitergehen gedrängt, widerwillig löst sie sich von seinem Anblick, mild lächelt sie ihn ein letztes Mal an, bevor sie den Kopf in Gangrichtung zurückwendet. Etwas Trauriges umlagert dabei die eingefallenen Augen.

Ich streiche auch «irgendwas mit Tieren» wieder. Man sollte das einsehen, wenn man im Begriff ist, sich zu täuschen. Ein übler Kerl ist er nicht.

Ich zeichne ihn nochmal. Er bekommt eine zweite Chance. Sein Verhalten der alten Dame gegenüber hat mich wirklich gerührt. Möglicherweise ist er doch nicht so hohl und arrogant, wie ich glaube.

Diesmal will ich ihn so darstellen, wie ich ihn hier antreffe. Schön, bekleidet, Fahrgast in einem Zug. Keine Über- oder Untertreibung. Diesmal bin ich nicht Schöpfer, nur abbildendes Medium. Aber selbst das ist eine Kunst, erfordert gleichzeitig Distanz und Nähe.

Als ich fertig bin, halte ich leichtsinnig das Buch ein Stück von mir weg, um die Zeichnung besser mit dem Original vergleichen zu können. Da trifft mich sein blauer Blick wieder. Interessiert beugt er sich vor, will sehen, was ich gezeichnet habe.

«Darf ich mal sehen?», fragt er lächelnd.

«Das geht leider nicht.» Adrenalin treibt mir die Hitze in den Körper. Er hat mich tatsächlich angesprochen.

«Warum?»

«Weil ich es nicht will ... und außerdem ... es geht auch nicht, es geht auf keinen Fall.» Ich stelle mir seine Reaktion auf den Mini-Schwanz vor, muss unweigerlich lachen.

Er lächelt irritiert. «Gibt es nicht ein Recht am eigenen Bild?»

«Am eigenen Foto vielleicht, aber nicht an meinem Bild von dir. Alles hier in diesem Buch ist meine Schöpfung.»

Meine ganze Schlagfertigkeit basiert einzig auf dem Geheimnis seines Mikropenis.

«Außerdem bin ich noch gar nicht fertig.»

Ich greife wieder zum Stift, zeichne eine Sprechblase neben David II: «Almas David», schreibe ich hinein. Damit schließe ich endgültig aus, dass ich ihm zeigen werde, was ich produziert habe. Anschließend klappe ich das Buch geräuschvoll zu.

Er schaut mich direkt an, sucht in meinen Augen eine Erklärung. Seine blaue Iris dabei wie ein Strudel, mit dem er mich zu hypnotisieren versucht.

«Keine Chance?», fragt er, neigt dabei schelmisch den Kopf zur Seite.

«Nein», sage ich mit fester Stimme. Und als zwei Falten sich zwischen seinen Brauen bilden, füge ich entschuldigend hinzu: «Ich bin Pygmalion.»

Er lehnt sich zurück und mustert mich interessiert.

«Wenn ich doch nur einen blassen Schimmer hätte, wovon du gerade sprichst.»

Meine Schultern zucken. Ich lege das Buch zur Seite, wünsche mir, dass unser Gespräch damit beendet sei. Habe gesiegt, die Augenhöhe wiederhergestellt. Dieser kleine Triumph stimmt mich zufrieden.

Jedoch nur kurz, bis zur Fahrkartenkontrolle.

Der Schaffner bittet mit tiefer Stimme und halb gesungen um die Fahrkarten. Ich greife in meine Jackentasche, suche zwischen den Seiten des Skizzenbuches – nichts. Ungeduldig wippt der Fuß des Schaffners.

Das Ticket sei sicher noch ein Abteil weiter vorne, da, wo ich vorher gesessen hätte, sage ich leise. Sämtliche Souveränität aus meiner Stimme verflogen.

Ich könne es gerne suchen gehen, aber als Pfand solle ich den Rucksack dalassen, sagt der Kontrolleur. Ein Spaßvogel. Er lacht. Dabei tanzt sein Kinn auf einem puddingweichen Kehlsack. Hastig schiebe ich mich vom Fensterplatz aus auf den Gang, betend, dass ich Recht behalten werde. Aus dem Augenwinkel sehe ich noch, wie sie kippt, die Flasche, versuche sie zu greifen, aber da ergießt sich der dickflüssige Saft schon gleichmäßig über den Tisch. David grinst.

Der Schaffner jetzt genervt, tritt zurück, um sich nicht zu beschmutzen. Diese Sauerei. Das machen Sie gleich aber alles wieder sauber. Die Leute gucken. Ich senke demütig den Kopf, wanke getroffen den Gang zum anderen Waggon hinunter um dort tatsächlich das Ticket vor meinem alten Sitz auf dem Boden zu finden. Glück für Sie, sagt der Schaffner, scannt das Ticket und widmet sich dem nächsten Fahrgast.

Aber noch ist es nicht vorbei. David hat schon begonnen, mit einer Packung Taschentücher einen Damm an der Tischkante zu errichten, um den Smoothie am Herabtropfen zu hindern. Fasziniert schaue ich ihm dabei zu. Der Schöne macht sich die Hände für mich schmutzig. Ein vollkommen überraschender Zug. Laufe den Gang hinunter zur Toilette, um Papierhandtücher zu holen, und beginne danach, die Flüssigkeit aufzusaugen. David schaut indes unbeteiligt aus dem Fenster, macht keine Anstalten mehr, mir zu helfen. Habe ich mich eigentlich für seine Hilfe bedankt? Weiß es nicht mehr. Trotzdem. Rühr dich nochmal, David, oder endet deine Hilfsbereitschaft, sobald es anstrengend wird?

Ich schaue wieder offensiv zu ihm hinüber. Nur wegen dieser kleinen Blamage mit dem Saft ziehe ich mich nicht zurück. Aber er blickt weiter starr auf die Landschaft. Erst als ich laut fluche, weil ich feststelle, dass ich auch mit dem Jackenärmel die Tischplatte reinige, schaut er wieder rüber. Er bringt demonstrativ seine Kopfhörer in Sicherheit und führt dann den Handrücken zum Mund, um sein Grinsen zu kaschieren. Hämisch sieht er mich direkt an.

Dafür werde ich mich rächen.

Während er tiefer in den Sitz rutscht, wird der Blick auf seinen Schoß frei.

«Soll ich da auch sauber machen? Oder stört dich das gar nicht?» Mit einem frischen Papiertuch in der Hand nähere ich mich seinem Genital. David blickt an sich hinunter und bemerkt entsetzt einen hellen Fleck auf der Wölbung zwischen seinen Beinen.

«Nein, geht schon!», schreit er auf und weicht erschrocken zurück wie eine Schnecke, die man an den Fühlern berührt hat. David betastet den Fleck, stellt fest, dass er nass ist.

«’tschuldigung», sage ich, um das Gespräch wieder auf ein zivilisiertes Niveau zu bringen.

«Irgendwie scheint dieser Körperteil von speziellem Interesse für dich zu sein», sagt er scharf. Er steht auf und läuft in Richtung WC. Als er wiederkommt, hat er sich den Pulli um die Taille gebunden, um den nassen Stoff im Schritt zu verdecken, den er offenbar umfangreich auf der Toilette mit Wasser bearbeitet hat. Vor seinem Platz bleibt er unschlüssig stehen, setzt sich dann wieder. Nachdenklich schaut er in meine Richtung. Es ist nicht zu übersehen, er hat einen Kratzer im Lack.

Ich schaue auf die Uhr. Bald sind wir in Köln. Beende die Reinigung, will meine Sachen zusammenpacken, da fällt mein Blick auf das aufgeschlagene Skizzenbuch. David I und David II lachen mich höhnisch vom Papier aus an. Er hat seine Zeichnungen gesehen, hatte genug Zeit, sie ausführlich zu betrachten, als ich die Tücher geholt habe! Das erklärt auch seinen Kommentar zu meiner Entschuldigung. Fange schlagartig wieder an zu schwitzen. Unter das aufkeimende Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen, mischt sich ein seltsames Gefühl der Erregung. Die Zeichnung hat ihren Zweck erfüllt.

«Danke für die Muskeln, Pygmalion, aber ein Stück weiter unten hätte ich mir etwas mehr Realismus gewünscht», sagt er ernst.

Die Sonne ist hier anders

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