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03 – Eintrittskarte

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Ein anhaltender Piepton in meinem Ohr überdeckt die Geräuschkulisse auf dem überfüllten Bahnsteig. Wie in einer Blase bewege ich mich durch die Menge. Was ist da gerade passiert? Er hatte vor mir den Zug verlassen. Während ich noch damit beschäftigt war, mein Gepäck aus dem Kofferdepot zu zerren, war er zügig durch die Tür verschwunden, um nicht von den neu Zusteigenden blockiert zu werden. Längst dürfte er, wohin auch immer, verschwunden sein. Trotzdem suchen meine Augen ihn zwanghaft im Gewimmel des Bahnhofs.

Bis zu Martha ist es glücklicherweise nicht mehr weit. Auf der Rolltreppe, die vom Breslauer Platz hinunter zur U-Bahn führt, glaube ich dann plötzlich, ihn in der Gruppe der Wartenden auf dem Bahnsteig zu sehen. Ich ducke mich weg, überlege sogar, die Rolltreppe wieder hinaufzulaufen, denn an das gerade im Zug Geschehene kann ich ohne Pause nicht einfach anknüpfen. Muss erst die Gedanken sortieren, die Fassung zurückgewinnen. Dann dreht sich der kurz geschorene Hinterkopf plötzlich um und Erleichterung, nein Enttäuschung – er ist es nicht.

In der U-Bahn gibt es keine freien Plätze. Also hänge ich mich in die Halteschlaufe über mir und pendle gedankenverloren in den Kurven von einer Seite zur anderen, bis ein helles Lachen meine Aufmerksamkeit erregt.

Ein paar Meter von mir entfernt teilen sich Frischverliebte eine dieser Halteschlaufen. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, aber sofort ist klar, dass sie ein Liebespaar sind. Jede Kurve nutzen sie, um sich aufeinanderdrücken zu lassen und zu küssen. Sie lachen, kichern. Die Frau legt den Kopf in den Nacken, entblößt den weißen Hals, wirft die langen Haare zurück. Er folgt ihrer Bewegung oder fängt sie auf, je nachdem, in welche Richtung die Bahn in die Kurve geht. Sie hält ein in Papier eingewickeltes Paket vom Konditor in der freien Hand. Empfindliche Fracht. Als sie merkt, dass der Kuchen unter seinen Küssen leidet, ändert sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich. Sie schafft Abstand zwischen sich und ihm, das Lachen endet jäh, damit er merkt, dass sie es ernst meint. Er legt die Stirn in Falten, zieht den Kopf zurück, erhöht den Abstand noch. Dann beginnt sie wieder zu lächeln und rückt ihm nach. Doch da hat er bereits sein Handy aus der Tasche gezogen und sich amüsiert in das Display vertieft. Sie lächelt weiter, noch 2, 3, 4, 5, 6 Sekunden mehr, dann hat sie begriffen, dass er so schnell nicht mehr aufschauen wird, ihre Miene verfinstert sich.

Eine Haltestelle weiter dann ein Sinneswandel. Sie schmiegt ihren Kopf an seine Schulter. Reflexartig lehnt er seinen Kopf an ihren. Noch 2, 3, 4 Sekunden mehr und er steckt sein Handy zurück in die Tasche und spricht etwas in ihr Haar.

Ich kenne die Leute nicht, habe sie vorher nie gesehen. Und dennoch fühle ich mit, als steckte ich in der Haut der Frau. Über ein unsichtbares Band sind wir verbunden. Ich weiß nicht, was sie denkt oder sagt, aber bei jedem Wechsel von Mimik oder Gestik durchfährt mich dasselbe Gefühl: Euphorie, Traurigkeit, Zuversicht, Angst. Diese ständigen Aufs und Abs. Frischverliebte sind ein zwischenmenschliches Extrem. Jede noch so banale Situation kann sich urplötzlich zuspitzen und eskalieren – denn ein liebendes Herz ist empfindlich und anfällig für missbräuchliche Behandlung.

Ich lege meine Hand auf die außermittige Stelle auf der Brust, dorthin, wo es pocht, regelmäßig, kontinuierlich, zuverlässig. Dann geht die Bahn polternd in die Kurve. Erschrocken macht das Herz einen Sprung. Ich folge zwangsläufig pendelnd der Bewegung. Keine Chance. Verliebte haben keine Chance, verlieren die Kontrolle, sind dem Objekt der Begierde hilflos ausgeliefert. Was wiegt mehr, die kurze Erfüllung, wenn die Liebe erwidert wird, oder der tiefe Absturz, wenn der Halt verloren geht? Schließe die Augen. Die nächste Kurve trifft mich nicht mehr unvorbereitet. Lasse mich einfach hin und her pendeln, vom Zug bewegen. Das Risiko erscheint mir plötzlich überschaubar. Schließlich kann man aussteigen. Nicht jederzeit, aber in aushaltbaren Abständen.

Der Mann hat der Frau das Paket vom Konditor nun aus der Hand genommen, balanciert es, sicher vor Quetschungen, auf einer Hand über seinem Kopf. Lachend nähert er sein Gesicht dem ihren und ich sehe, wie sich ihre Zungenspitzen außerhalb der Münder treffen, um dann in einem erregten Kuss zu versinken. Ein älterer Herr beobachtet angewidert diesen erotischen Exkurs. Warum nur angewidert? Bei diesem Anblick breiten sich, ausgehend von der Körpermitte, kleine Explosionen in mir aus, deren Druckwellen die Luftröhre hinauf bis zum Gaumen reichen. Ich schmecke ihren Kuss, spüre die ungeduldigen Zungenspitzen in meinem eigenen Mund. Ich bleibe ganz stillstehen, verfolge begeistert meine körperliche Reaktion. Verliebte sind nicht nur schmerzempfindlicher, sondern spüren auch alles andere viel intensiver.

Ich lege die Hand unterhalb des Nabels auf den nackten Bauch, spüre dem Tanz nochmal nach, der eben dort stattgefunden hat. Unbekannt dieses Fühlen, dieses Denken.

Alles nur dir geschuldet, David?

Ich suche die Visitenkarte in meiner Jackentasche und finde sie. Dieses kleine Stück knittrigen Papiers ist der Beweis seiner Existenz. Kein Traum, kein Hirngespinst. Realität! Daniels Visitenkarte. So heißt er wirklich: Daniel, nicht David, 29 Jahre alt, von Beruf Journalist. Arbeitet für ein Magazin, freiberuflich, und als Texter in einer Werbeagentur.

Um uns herum hatte bereits Aufbruchstimmung geherrscht. Ein Teil der Fahrgäste war schon von den Sitzen aufgestanden, um das leichte Gepäck von der Ablage darüber zu holen. Ab und zu, sagte er, benötige er Illustrationen für seine Texte. Ich sei zwar ein bisschen seltsam, aber ich hätte Fantasie. Und darauf käme es an. Außerdem würde ihm mein Strich gefallen, meine schwungvolle Hand. Interessant, sagte er, lächelte dabei wissend, wirklich interessant.

Er hatte noch mehr gesagt, aber da waren die Lautsprecherdurchsagen zum bevorstehenden Halt in Köln schon so laut, dass ich nicht mehr viel verstanden habe. Dann war er verschwunden.

Die Visitenkarte – eine Trophäe, eine Auszeichnung. Denn sie kommt von ihm, dem Archetypen, Objekt der Begierde sogar der Götter auf dem Olymp. Und sie ist mir nicht zugeflogen, wegen eines perfekten Gesichtes oder eines perfekten Körpers. Ich habe sie mir verdient. Verspüre unglaublichen Stolz. Hätte man mir das vor ein paar Stunden prophezeit, ich hätte laut gelacht, hätte behauptet, ich sei über solcherlei Dinge erhaben. Aber ich bin es nicht. Nie gewesen. Habe zugegebenermaßen hoch gepokert, denn anfangs wollte er handeln. Papier gegen Papier. Den Mikropenis gegen Adresse und Telefonnummer. Er wollte sich frei tauschen. Aber dann wäre die Visitenkarte nur halb so viel wert, wäre für ihn nur Mittel zum Zweck gewesen und damit für mich keine Auszeichnung mehr. Deshalb musste ich hart bleiben. Hatte gezittert in den Sekunden, in denen er abwog, was ihm wichtiger wäre – seine Ehre oder die Möglichkeit, dass ich ihn anrufe.

Plötzlich stehe ich vor dem Haus, in dem Martha wohnt. An den Weg von der Haltestelle am Zoo bis hierhin kann ich mich kaum erinnern. Ich drücke reflexartig die Klingel und wünsche mir im selben Moment, ich hätte mir noch ein paar Minuten Zeit gegeben. Wenn ich erst mal oben bin, beginnt ein neues Kapitel, dann muss ich mich auf anderes konzentrieren. Die Tür summt. Ich drücke sie auf, gehe zögernd in den ersten Stock.

«Wie siehst du denn aus! Aber schön, dass du endlich da bist.» Martha zieht mich kurz und kräftig einarmig an ihre Brust und schiebt mich dann wieder von sich weg, um mich eingehend zu mustern.

«Wie sieht sie denn aus? Ist irgendwas unterwegs passiert? Geht es dir nicht gut?», höre ich meine Mutter laut und schrill aus der Küche. Martha verdreht die Augen und schließt die Tür hinter mir. «Beate, das war eine rhetorische Frage und wenn ich dabei lache, wird sie wohl kaum zerlumpt oder mit einer klaffenden Fleischwunde hier stehen.»

«Wieso ist Mama überhaupt noch hier?», zische ich Martha im Flüsterton zu. Martha zuckt kopfschüttelnd mit den Schultern.

«Alles in Ordnung, Mama, keine Fleischwunden, nichts dergleichen, bin nur kaputt von der Fahrt.» Aber da ist sie schon in den Flur gestürmt, um sich selbst ein Bild zu machen. Mit einer unerträglich herzlichen Begrüßung keilt sie mich zwischen Garderobe und Badezimmertür ein.

«Wenn ihr auch bis jetzt nichts fehlte: Spätestens nach deinem körperlichen Übergriff wird ihr irgendwas wehtun. Lass sie doch erst mal die Jacke ausziehen», sagt Martha und verlässt den engen Flur.

Ein Wunder, dass sie sich die letzten zwei Wochen nicht die Köpfe eingeschlagen haben. Martha muss wirklich auf Hilfe angewiesen sein, wenn sie Mama als Pflegerin duldet.

Auf dem Balkon kippe ich unter den faszinierten Blicken von Mutter und Großmutter nacheinander drei Gläser Apfelsaftschorle hinunter.

«Ich hoffe, du hast auch Hunger. Ich habe für heute Abend einen Tisch beim Italiener reserviert. Wir sind so selten alle drei zusammen, da dachte ich mir, ich nutze die Chance und fahre erst morgen zurück nach Passau.»

Bitte nicht! Für einen Moment überlege ich, Übelkeit oder Kopfschmerzen vorzutäuschen, um mir ein gemeinsames Abendessen zu ersparen. Es liegt nicht an Mama, nicht nur zumindest, eher an der Konstellation.

Viel lieber bliebe ich hier, läge auf dem Bett und würde wieder und wieder die Begegnung im Zug heraufbeschwören. So lange, bis ich tatsächlich in der Lage wäre, seine Nummer zu wählen, mit ihm zu sprechen.

Diesmal liegt es wirklich nur in meiner Hand.

«Alma, wo bist du denn gerade?», Martha stößt mich unsanft an. Sie fixiert mich. Ihre dünn gewordenen Lippen werden noch schmaler, lächeln mich dann wissend an.

«Irgendwas ist doch mit dir?» Sie hat diese feinen Antennen, die ich eigentlich so an ihr schätze, aber wenn man etwas für sich behalten will, dann hat man es schwer bei ihr, denn sie bohrt weiter, bis sie weiß, was sie wissen will. Ich rieche demonstrativ an meinem T-Shirt, gebe vor dringend duschen zu müssen und verabschiede mich ohne weitere Erklärungen. Hinter verschlossener Badezimmertür hole ich die Visitenkarte dann hastig hervor, suche seinen Namen darauf und wiederhole ihn leise murmelnd einige Male. Er existiert.

Martha wohnt in einem unsanierten Altbau, winziges Bad, aber mit Fenster, das man beim Duschen offenlassen muss – sonst tropft nach fünf Minuten das Kondensat von der Decke. Dafür kann man von der Badewanne aus die Bisons sehen. Hinter dem schmalen Garten beginnt direkt der Zoo. Als Kind gab es nicht einen Besuch bei Oma, an dem wir nicht auch im Zoo waren. Seitdem ich kein Kind mehr bin, war ich nicht mehr im Zoo und sage auch nicht mehr «Oma». Sie wollte das so, das mit dem Namen. Meine Mutter nennt sie dennoch hartnäckig weiter «Mutti», anstatt ihren Vornamen zu benutzen. Martha hasst das.

Während das heiße Wasser auf meinen Rücken prasselt, zieht ein Schwarm grüner Papageien vorbei. «Interessant» hat er gesagt. Kurz bevor er sich seitlich wegdrehte, um mit der Reisetasche durch den schmalen Gang zu kommen, verjüngten sich seine Augen zu Schlitzen, zwinkerten mir kurz zu. Ich schaue an mir hinunter und beobachte, wie das Wasser sich über die Brust hinweg seine Bahnen sucht. An den harten Spitzen bilden sich kleine Verwirbelungen. Mit beiden Händen drücke ich die Brüste zusammen, so, wie es ein Wonderbra täte, leite damit das Wasser durch ihre Mitte. Jetzt würdest du auch hinsehen, Daniel, da bin ich mir sicher.

In Marthas Gästezimmer setze ich mich auf die Bettkante und blättere durch die Skizzen. Einzelne Tropfen lösen sich aus den Haarsträhnen und weichen die scharfen Linien des Fineliners auf.

Glücklicherweise ist es nur ein Bildertagebuch und die Bedeutungen der Skizzen ikonisch verschlüsselt. Die Seiten zeigen Banales: Mittagspausen in der Bank, Szenen zu Hause, im Park, Marabus, Skizzen aus dem letzten Urlaub und ein paar frei erfundene Szenarien mit unnatürlichen Proportionen, die überhaupt keinen Sinn zu haben scheinen. Alles zusammen für den Betrachter wahrscheinlich der Hinweis auf ein schrecklich langweiliges Leben, das nur mit ein paar absurden Fantasien zu ertragen ist. Aber wenn ich durch das Buch blättere, dann sehe ich sie ganz deutlich, die inneren Kämpfe, die Zweifel und die Ohnmacht, die an jeder Seite kleben, sich hinter jedem Strich verstecken.

Ausgenommen natürlich, die letzten beiden Seiten. Mit dem Zeigefinger fahre ich die Linien des nackten Daniel nach, halte an der Stelle, die ihn so empört hatte, bis sich ein Wassertropfen über dem Fingernagel bildet, um sich dann in einem erst zähen, dann plötzlichen Fall über dem, wie nannte er es, «unrealistischen» Detail zu ergießen und es aufzulösen. Unrealistisch – das bliebe zu beweisen. Flackernde Lust kehrt zurück, inspiriert mich zu einem Experiment. Ich warte noch einen weiteren Moment, bis der Tropfen vollständig in das Papier eingezogen ist, das verkümmerte Genital unkenntlich gemacht hat. Dann blättere ich um, so­dass zwei weiße, leere Seiten vor mir liegen. Bei der dritten Version von Daniels Person ist die Hand schon so versiert, dass sich die Linien ihre Wege von selbst suchen. Es entsteht kein David mehr, sondern ein Daniel, die perfekte Version seiner selbst. Und für mich. Lange betrachte ich die jüngste Zeichnung, bis eine Gänsehaut mich daran erinnert, etwas anzuziehen.

Während ich mir die noch feuchten Haare zu einem Dutt hochstecke, sehe ich ihn vor mir, den glücklichen Pygmalion, sehe sein entrücktes Gesicht, als die elfenbeinerne Galatea, plötzlich Fleisch und Blut geworden, von ihrem Sockel hinabsteigt, um ihn in die Arme zu schließen.

Ich solle jetzt endlich kommen, ruft meine Mutter viel zu laut durch den Flur.

Ach, Pygmalion, wie schön wäre das doch, wenn dein Beispiel nicht der Mythologie entspringen würde, sondern dem wahren Leben!

Und dann tue ich es einfach, behauche Daniels Körper auf dem Papier und warte, ob er sich regt.

Um acht sitzen wir bei «La Spendula» und wollen bestellen. Der Abend ist lau, alle Tische auf der Straße besetzt. Vom Biergarten auf der gegenüberliegenden Seite dringt Gelächter zu uns herüber.

Wie üblich liest Mama uns die Karte vor und spricht Empfehlungen für uns aus. Das hat sie sich so angewöhnt, als ich noch nicht lesen konnte, also vor ungefähr 20 Jahren. Jede Bitte, das endlich sein zu lassen, ist vergeblich – sie wolle uns nur helfen, sagt sie.

»Danke, Beate, ich weiß schon, was ich will, und Alma auch», sagt Martha, klappt demonstrativ ihre Karte zu. Weil Mama trotzdem unbeirrt weiter die einzelnen Speisen runterdekliniert und Marthas Atem dabei immer flacher wird, erhebe ich feierlich mein Weinglas.

«Also, auf den Sommer!»

Während die Gläser klirrend aneinanderstoßen, treffen sich unsere Blicke, Marthas streng, Mamas selig und meiner möglichst neutral. Nach wie vor faszinierend für mich, dass wir alle zur selben Familie gehören. Ermutigt vom Weißwein versuche ich, eine leichte Konversation anzuleiern, kommentiere Marthas Essenswahl. Sie hat Ravioli bestellt.

«Abends Pasta? War dir das sonst nicht zu schwer?»

Martha dreht den Kopf um 45° zu mir wie eine Eule, ohne dabei den Oberkörper aus der Mittelachse zu bewegen, und senkt die Lider.

«Seit zwei Wochen lasse ich mich von deiner Mutter wie ein kleines Kind duschen und anziehen und möchte wenigstens das Abendessen in der Öffentlichkeit in aller Würde alleine bewältigen können.»

«Aber ansonsten klappt alles soweit ganz gut, oder?», frage ich vorsichtig weiter.

«Offensichtlich ja nicht, sonst bräuchte ich wohl kaum eure Hilfe, oder was meinst du?», fragt sie ungeduldig.

«Zähneputzen, Haare kämmen, Hintern abwischen ... diese Dinge eben.» Das geht ihr zu weit, ich weiß das, aber ich muss es jetzt wissen, schließlich wäre ich dafür in Zukunft verantwortlich. Leichte Konversation ist sowieso nicht mehr möglich.

Martha tupft sich gelassen mit der Serviette die vollkommen sauberen Mundwinkel ab und richtet das Wort dann mit erhobenem Kinn an mich.

«Wenigstens von dir hätte ich ein bisschen mehr Feingefühl erwartet. Aber ich kann dich beruhigen, mit diesen Dingen hast du nichts zu tun.» Nach einer kurzen Pause setzt sie noch nach: «... lieber würde ich tot umfallen.» Bevor sie das Glas wieder zum Mund führt, lächelt sie kurz, so abwegig erscheint ihr der Gedanke, dass sich jemand ihrem nackten Hintern mit Toilettenpapier nähern könnte.

«Wir sollten vielleicht mal grundsätzlich über deine Aufgaben sprechen, Alma.» Mama lehnt sich wichtigtuerisch zurück und schaut uns dabei abwechselnd an. Das gefällt Martha gar nicht. Das merke ich, auch ohne hinübergeblickt zu haben.

«Der Arm ist seit einer Woche im Gips. Schulter und Hüfte sind weiterhin stark geprellt – ein Wunder, dass sie sich nicht mehr gebrochen hat. Weil die Schulter auch ausgekugelt war, muss sie die nächste Zeit absolut ruhig gehalten werden. Lass dir nicht einreden, sie könne irgendwas alleine. Das hat sie bei mir auch versucht. Aber glücklicherweise war ich beim Gespräch mit dem Arzt dabei und der hat ganz klar gesagt: Nicht bewegen, außer in der Physiotherapie – sonst wird das nie wieder auch nur annähernd so wie vorher.» Sie macht eine gewichte Pause, fährt dann fort. «Also: zum Duschen musst du eine Plastiktüte über den Gips ziehen und mit einem Gummiband abdichten. Wir haben einen Hocker gekauft, auf dem Mutti in der Badewanne sitzt, damit du sie vom Wannenrand aus besser waschen kannst. Leg auf jeden Fall auch noch die Matte mit den Antirutsch-Noppen drunter. Ein zusätzlicher Beinbruch käme gerade doch sehr ungelegen.» Ihr Blick haftet beim letzten Satz mahnend an der trotzigen Martha, die ihren Vortrag missbilligend verfolgt.

«Die Sachen stehen alle in der Abstellkammer. Haare werden jeden zweiten Tag gewaschen ...»

«Beate, ich habe mir nur den Arm gebrochen – weiter nichts. Als könnten wir uns nicht alleine organisieren! Mehr als dreißig Jahre lang habe ich ein eigenes Geschäft geführt und parallel dazu ein Kind alleine großgezogen, dich übrigens, und deine Tochter hat immerhin Abitur – wir kriegen das schon hin!»

«Ach kommt, Leute, können wir nicht einfach ein bisschen übers Wetter reden? Dann muss sich auch niemand aufregen.»

Martha presst beherrscht die Lippen aufeinander, Mama trinkt einen Schluck Wasser, hat die Zankerei sofort vergessen.

«Was hast du da in der Hand, Liebes?», fragt sie neugierig meine Hände fixierend. Ich muss die Visitenkarte aus der Tasche gezogen haben, denn meine Finger spielen damit.

«Ein Geheimnis?», hakt sie nochmal nach.

«Eine Eintrittskarte», sage ich schließlich.

«Wofür?», fragt jetzt Martha. Ich zögere.

«In eine andere Welt ... in eine schönere Welt.» Martha überlegt, fragt dann selbstsicher: «Mann oder Job?»

Ich antworte nicht, zucke nur leicht mit den Schultern, kann dabei ein kleines Lächeln nicht unterdrücken.

Martha sieht auf meine Hand, betrachtet stirnrunzelnd das mittlerweile knittrige Papier, das durch das intensive Betasten weich geworden ist.

«Wirst du sie auch benutzen, die Eintrittskarte?», Martha hat sich zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen.

«Ich denke schon», sage ich leise.

«Benutze sie!», sagt Martha mit fester Stimme. Sie hat sich wieder vorgebeugt, um ihren Worten Nachdruck zu verschaffen. «Benutz sie, auch, wenn der Besuch nur von kurzer Dauer ist.» Martha sieht mich eindringlich an, will herausfinden, ob ich verstehe, was sie meint.

«Warum sollte der Besuch kurz ausfallen?», frage ich mit ebenfalls fester Stimme, «traust du mir nicht zu, dass ich mich dort beweise?»

«Also ich bin raus, keine Ahnung, worüber ihr sprecht», genervt hebt Mama die Hände.

Martha mustert mich.

«Reinkommen ist einfach, dort zu bleiben schwieriger. Das ist alles, was ich sagen will. Um Rückschläge kommst du nicht herum. Mach es trotzdem – was auch immer es sein mag.»

Sie kennt mich so gut, weiß, dass ich dazu tendiere, so lange zu zögern, bis die Chance verstrichen ist.

Ich nicke knapp. Dann wird das Essen serviert.

Der Rest des Abends verläuft friedlich, streckenweise sogar amüsant. Vom Oleander in ihrem Garten geht meine Mutter nahtlos zu einem Sommerurlaub in der Toskana über, in dem ich mich angeblich lange Zeit weigerte, am Strand, nein, sie korrigiert sich, überhaupt, eine Badehose, geschweige denn ein Bikinioberteil anzuziehen. Und das, obwohl alle anderen Kinder in meinem Alter das bereits freiwillig aus Schamgefühl taten. Fassungslos blicke ich sie an, weil sie meinen – ich zitiere – «Hang zum Freikörperkult, den man damals höchstens noch von den Ossis kannte» in immer peinlicheren Details schildert. Beide lachen sie, Mama über die süßen Allüren ihres kleinen Mädchens, das damals noch ganz in ihren sicheren Händen war, und Martha … bei ihr ist es etwas anderes. Sie lacht, weil sie mein entgeistertes Gesicht sieht. Sieht, wie ich versuche, Mamas Lautstärke mit Handzeichen nach unten zu regulieren, und mich umschaue, um abzuschätzen, wie viel die Tischnachbarn davon mitbekommen. Sie lacht, weil die anderen, den Kellner miteingeschlossen, grinsen und ich rot dabei werde und weil ich meine Verzweiflung gespielt auf die Spitze treibe, indem ich mir das Weinglas bis zum Rand auffülle und hektisch daraus trinke. Und sie lacht am lautesten, weil meine Mutter bis zum Schluss denkt, ihr Lachen sei das Resultat der amüsanten Urlaubsanekdote.

Als es vorbei ist, kommt der Kellner lächelnd an unseren Tisch und fragt mich, und zwar nur mich, ob es jetzt etwas Stärkeres sein dürfe. Für die Verdauung des Ganzen. Er zwinkert. Ein Averna z. B. – der ginge auch aufs Haus.

«Der findet dich aber gut», sagt meine Mutter. Martha trocknet sich kopfschüttelnd die Augenwinkel.

Spät gehen wir nach Hause.

Ich schlafe im Wohnzimmer, Mama im Gästezimmer.

Was für ein Tag – gut, dass er jetzt vorbei ist.

Am nächsten Morgen wache ich mit Kopfschmerzen auf und blicke mich orientierungslos um. Im Traum haben sich Szenen aus verschiedenen Welten gemischt. Stimmen aus der Küche und Bambus-Spitzen vor dem Fenster – ich weiß wieder, wo ich bin. Müde wanke ich direkt ins Bad, wo kaltes Wasser im Gesicht die Bilder der Nacht und die Menthol-Zahnpasta den üblen Geschmack im Mund vertreiben. Dann bin ich so weit.

Glücklicherweise ist Mama schon abfahrbereit, als ich auf den Balkon komme. Aber als sie mich sieht, legt sie lächelnd den Kopf schief und setzt sich neben mich auf die Bank. Mit dem Zeigefinger malt sie eine große, sich verjüngende Spirale auf meinen Rücken. Bei der kleinsten Windung angekommen, tippt sie einmal in die imaginäre Mitte und beginnt die Spirale dann in die entgegengesetzte Richtung von Neuem. Dabei geht sie ihre Packliste durch, um sicherzugehen, dass sie auch nichts vergessen hat, und bedauert, dass sie uns, Martha und mich, nun so lange nicht sehen wird. Aus den Spiralen werden Kreise, aus den Kreisen Wellenlinien. Mein Rücken sackt unter der feinen Berührung immer weiter in sich zusammen. Die Entspannung ist beendet, als sie noch ein paar Tipps für die kommenden Wochen, in denen wir «auf uns alleine gestellt» sein werden, von sich gibt.

Wenig später verabschieden wir sie winkend am Straßenrand.

«Ich liebe deine Mutter, aber ich bin froh, dass sie jetzt wieder nach Hause fährt.» Martha starrt dem Auto eine Weile mit leerem Blick hinterher und dreht sich dann plötzlich um.

«Auf, auf, du kannst jetzt das Gästezimmer beziehen.»

Ich weiß, was sie meint. Mama ist eben anders. Nichts trifft sie unvorbereitet. Waghalsiges und Abenteuerliches ist ihr zutiefst zuwider. Sie ist ein Spießer. Und dazu liebevoll und fürsorglich. Man kann ihr schwer böse sein, obwohl man es oft muss, denn ihr fehlt jegliches Feingefühl für die Befindlichkeiten ihrer Mitmenschen. Ich unterstelle ihr da gar keine Absicht, vielmehr ist es, als fehlte ihr der entsprechende Sinn. Als sei sie ohne geboren worden. Ein genetischer Defekt, eine Laune der Natur. Und dann ihr Humor. Es ist nicht so, dass sie keinen hätte, sie lacht ja viel. Allerdings weiß man oft nicht, worüber. Ironie und Situationskomik sind ihr vollkommen fremd, aber wenn kleine Kinder an Karneval lustige Tierkostüme tragen, kann sie sich kaum wieder beruhigen. Sie sagt, entweder man werde wie die eigene Mutter oder wie das genaue Gegenteil und so raubt sie uns mit ihrem pastellfarbenen, familienfokussierten und harmonieverschleierten Blick auf die Welt oft den letzten Nerv. Während ich das Gästebett frisch beziehe, hängen meine Gedanken weiter bei Mama. Vielleicht hatte sie auch keine andere Wahl, musste sich das Feingefühl, diesen Sinn, in jungen Jahren selbst amputieren, um einigermaßen glücklich aufwachsen zu können in einer Frauen-WG ohne Vater und mit einer allzu zielstrebigen Mutter.

Die Sonne ist hier anders

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