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06 – Unaushaltbar
ОглавлениеMittwoch. Die morgendliche Waschung bekommt allmählich Routine. Marthas Unbehagen, wenn sie nackt ist, bleibt jedoch und sie legt sich weiterhin wie eine Decke dämpfend auf die Konversation währenddessen und auch danach. Wir reden nur wenig und wir reden leise, wenn wir im Bad das Waschprozedere durchführen – als könnten ihr die Worte zu nah kommen, auf so engem Raum und ohne schützende Kleidung.
Nach dem Frühstück macht sich Martha bereit, auszugehen. Sie will zu dem Treffen irgendeines Gremiums, in dem sie Mitglied ist. Genaueres hat sie dazu nicht gesagt, auch nicht auf mein Nachfragen.
Allerdings interessiert sie sich dafür, wie meine gestrige Verabredung mit dem alten Mann verlaufen ist und ob er tatsächlich ihren Balkon beobachtet.
«Danach habe ich gar nicht gefragt, erschien mir nicht mehr so wichtig.»
«Was war denn wichtiger?», hakt sie nach.
«Alles andere. Er ist wirklich ein interessanter Typ. Ich denke, er würde dir gefallen.»
«Wieso sollte er?», Martha platzt fast vor Neugier, aber sie beherrscht sich, ist zu stolz, das zuzugeben. Deshalb begnügt sie sich mit ein paar wenigen, aber reizvollen Informationen zu seiner Person. Ich erwähne, dass er als Sprengmeister Hochhäuser auf Knopfdruck in dicht bebauten Großstädten hat in sich kollabieren lassen.
«Und diese, wenn auch kontrollierte, rohe Gewalt nur, um sich den Knoten im Hals wegen des Verlusts der großen Liebe wegzusprengen», erkläre ich ihr. Sie lächelt verklärt. Diese Form der Romantik gefällt ihr. Sie sieht auf ihre Uhr, greift nach ihrer Tasche und verabschiedet sich knapp.
Um halb zehn schließt sie die Wohnungstür hinter sich, während ich die Klappe der Spülmaschine zudrücke. Ein großes, synchrones Geräusch, danach ist es still.
In meinem Zimmer öffne ich die Balkontür. Heute regnet es leisen, kontinuierlichen Dschungelregen. Man hört jeden einzelnen Tropfen von einem großen Blatt aufs nächste fallen. Bananenstauden, Feigenbäume und Palmen produzieren diesen besonderen Sound. Im Zoo ist es still. Als hätte man dort nur auf eine kurze Zwangspause gewartet. Ich fahre den Rechner hoch, bemühe die Suchmaschine. Tippe ein paar Schlagworte ein, die mich klüger machen, mir einen Überblick über potenzielle Berufsziele geben sollen. Ich finde einige interessante Links, lese ein paar Zeilen, drucke dann die Texte aus. Werde das später in Ruhe durcharbeiten. Nach einer halben Stunde lasse ich erschöpft die Stirn auf die Tischkante sinken. Ein paar Sit-ups werden mich wieder frisch machen.
Auf dem großen blauen Teppich vor der offenen Balkontür strecke ich mich auf dem Rücken aus.
Der Teppich ist weich und warm – das genaue Gegenteil vom Küchenboden beim gestrigen Milchbad. Die Finger vergraben sich im Flor der Maschen. Ich erlaube mir eine Pause, lasse den Rücken tiefer in den Untergrund sinken, bis er damit verschmilzt und ich die Grenze zwischen beidem nicht mehr spüren kann. ... Sit-ups .... Die Augen starren leer zur weißen Decke. Kein Muskel in meinen Gliedern ist mehr aktiv, Gefühl ist nur noch im Brustkorb, dort wo das Herz und die Lungen pumpen, flach zwar nur, aber spürbar. In mir ist es so still, dass ich draußen jeden einzelnen Tropfen aufprallen hören kann. Eine Weile liege ich so da, tue nichts, gebe mich nur dem Lärm hin, den der Regen verursacht.
Aber dann: Sit-ups. Doch mein Körper ist bereits so weit runtergefahren, dass seine einzelnen Teile nicht mehr zu mobilisieren sind, vor allem, weil der Geist so überhaupt nicht daran interessiert ist.
Der Geist. Er dreht sich um sich selbst, hat sich aufgehängt in einer Schleife der Untätigkeit. Will nichts tun, will nichts denken, hört dem Regen zu, lässt die Augen nur hin und wieder zwinkern, damit sie nicht austrocknen vom Starren.
Ein Befehl wird helfen.
STELL DIE BEINE AUF!
Es passiert nichts. Ich höre, ich starre. Es tropft nun irgendwo auf ein Blech. Hohl der Ton und deutlich lauter als die anderen, störend erst, dann vereinnahmend. Höre nur noch dieses blecherne Tropfen, mein Atem fügt sich in dessen Rhythmus ein. Habe die Kontrolle vollkommen verloren. Will jetzt aufstehen, aber weiß nicht wie.
STEH JETZT AUF!
Das beschleunigt den Atem etwas, ich spüre die Kehle wieder. Aber der Impuls reicht nicht aus, um mich zu reanimieren. Die gleiche Stimme legt noch nach:
KÜMMERE DICH UM DEINE ZUKUNFT!
Daraufhin macht das Herz einen kurzen Sprung. Ich fühle den Rücken wieder und gleichzeitig kaltes Blei in den Füßen. Abwechselnd Euphorie und lähmende Depression. Aber die Intervalle sind zu kurz, um mich zu bewegen. Wie leichte Stromstöße jagen sie in Wellen durch meinen Körper.
Eine andere Stimme meldet sich nun, spricht nicht zu mir, sondern lacht mich aus. Ihr Lachen, zusätzlich lähmend, hallt nach, macht mich wieder unsäglich träge und müde.
Eine Weile kämpft es in mir, dann gebe ich auf, bleibe einfach liegen, folge weiter dem Tropfen.
Unter das Tropfen mischt sich plötzlich ein anderes Geräusch. Tapser, Schritte, tierische Krallen auf dem Parkett. Die Angst macht mich noch starrer. Mein Körper nun aus Beton. Nicht mal die Neugier bewegt mich.
Wohin will es? Die Schritte verstummen, etwas huscht nah an meinem Kopf auf dem Teppich vorbei, im Augenwinkel nehme ich kurz eine kleine Gestalt wahr. Ich will den Kopf drehen, aber es gelingt nicht, die Halswirbel sind blockiert. Dann wieder die Krallen auf dem Parkett. Das Geräusch kommt aus Richtung Balkontür. Geht es zurück? Nein, da ist noch ein zweites ... Tier! Tapser in Kopfnähe und an der Tür und dann noch mehr. Die Schritte überlagern sich. Wie viele sind es jetzt? 5, 6 oder 10? Wind kommt auf, wie ein Schwall ergießen sich die Tropfen von den Blättern alle gleichzeitig zu Boden. Ich zucke zusammen. Dann ein neues Geräusch – Papier bewegt sich durch die Luft. Nicht ein Blatt, nicht zwei – einen ganzen Stapel hat der Wind gelöst. Aber sie gleiten nicht einfach zu Boden. Sie wirbeln durch den Raum. Sie tanzen zwischen mir und dem Punkt an der Decke, an dem sich meine Augen festhalten, stören mein Starren. Die Augen flüchten ins Dunkel, schließen die Lider einfach. Schlimm genug, dass ich weiter hören muss! Knickendes, reißendes Papier, nach und nach fallen die Blätter zu Boden, mal gleiten sie noch ein Stück schleifend über das Parkett, mal schlagen sie hart mit der Kante auf. Dazu die Tapser, die Krallen, das Tierische. Etwas stößt mich am Bein an. Ich bin wie erstarrt, habe Angst, fast Panik.
«Wie sieht’s denn hier aus?» Plötzlich steht Martha im Zimmer. Ruckartig richte ich mich auf, schaue mich um. Überall Papier, einiges davon zerrissen. Ratlos schüttle ich den Kopf. Sie lacht, verlässt das Zimmer wieder und geht in die Küche. Kniend sammle ich die Blätter vom Boden auf. Auf einem Fetzen ist in großen Lettern «Kreat ...» lesbar. Kreatur oder kreativ? Mein Blick wandert zum Drucker. Was hier verstreut liegt, sind die Ausdrucke meiner Recherche eben. Der Wind muss sie aus dem Ausgabefach geweht haben. Vor dem Drucker auf dem Parkett liegen einige rosafarbene Blütenblätter, dort wo das Holz nass ist, gibt es helle Stellen durch das reflektierende Licht. Ich suche das Zimmer ab. Wo sind die Tiere?
«Was guckst du denn so verstört?» Martha reicht mir belustigt eine Tasse Tee, als ich in die Küche komme.
«Ich bin gleich nochmal weg, wollte nur kurz die Beine hochlegen», sagt sie.
«Hast du Tiere in meinem Zimmer gesehen?», frage ich leise.
Sie schaut mich ungläubig an, schüttelt lachend den Kopf.
Nachmittags sortiere ich die Ausdrucke, untersuche dabei die zerrissenen Seiten und kann auch mit noch so viel Fantasie keine Bissspuren erkennen. Aber wer hat die Seiten dann zerrissen. Ich selbst? Martha? Der Regen hat mittlerweile nachgelassen, der graue Himmel klart bereits auf. Ich setze mich in den Schaukelstuhl, beginne mit der Lektüre, so wie ich es mir vorgenommen hatte. Hin und wieder schaue ich auf, halte den Balkon im Blick. Auf die Bauchmuskelübungen werde ich heute verzichten – das scheint mir zu gefährlich.
Im Aquarium bin ich die Erste. Mittig stehe ich vor dem großen Panoramabecken, versuche die Umgebung auszublenden, mir vorzustellen, ich sei nicht hier in Köln, in einem gefliesten Innenraum, sondern irgendwo im Dschungel am Amazonas, wo die Wildheit echt ist, Zähne hat und Potenz. Aber das wilde, echte Leben scheint mir so fern, dass sich kein rechtes Bild aufbauen will. Stattdessen fokussiere ich die als bestialische Killer verschrienen Fische, die hier so unschuldig und unspektakulär durch ihr Becken gleiten, wenn sie sich überhaupt bewegen. Nach ein paar Minuten steht er hinter mir. Sein großer Körper strahlt eine unglaubliche Wärme ab. Wahrscheinlich schwitzt er ob des tropischen Klimas in diesen Wänden. Dann tritt er neben mich.
«Dieser Institution Zoo will ich Ihretwegen eine Chance geben. Überzeugen Sie mich. Was ist gut daran?»
Ohne ihn anzusehen, antworte ich: «Zootiere sind Botschafter. Artenschutz ohne Zoos wäre zu abstrakt, um eine große Anhängerschaft zu gewinnen. Hier können Sie sehen und riechen, was schützenswert ist und weshalb es sich lohnt, ein paar Euro mehr für zertifizierte Tropenhölzer auszugeben.»
Er schweigt. Sein Nachdenken über meine Worte produziert zusätzliche Wärme.
«Und darüber hinaus wird einem im Zoo so wunderbar der Spiegel vorgehalten. Ich behaupte, die meisten Menschen, mich eingeschlossen, leben nicht weniger gefangen, sind nur medizinisch und kulinarisch schlechter versorgt. So ein Zoo ist im Grunde ein recht bequemes Lebensmodell.»
«Erstaunlich, Ihre gestrige Unentschlossenheit scheint bei diesem Thema geradezu verflogen. Ich möchte auch etwas dazu sagen, aber können wir bitte erst das Gebäude verlassen? Hier ist es für mich viel zu heiß.»
Mit spitzen Fingern zieht er sein klebendes T-Shirt von der Brust ab. An der frischen Luft setzt er erneut an.
«Folgendes Szenario: ein Wasserloch in Afrika. Trinken ist Lebensgefahr. Aber die Tiere kommen nicht darum herum. Wenn das Zebra seine Schnauze ins Wasser taucht, ist es jedoch dem Tod näher als dem Überleben. Es ist bloßer Zufall, dass das Krokodil, dicht unter der Wasseroberfläche ruhend, gerade gesättigt ist und sich nicht in seinem Kopf verbeißt … oder den des Nachbarn wählt. Glauben Sie, stünde das Zebra vor der Wahl, Freiheit und Überlebenskampf oder tägliche Wiederholungsschleife in fremdem Klima und Zwangsgemeinschaft auf begrenzter Fläche – bzw. kurz: 5 Jahre Grenzerfahrung oder 20 Jahre Langeweile. Wofür würde es sich entscheide?»
Ich lache siegessicher.
«Als Mensch kann ich natürlich nur aus menschlicher Perspektive antworten: Variante zwei. Oder wie oft sind Sie schon dem Tod von der Schippe gesprungen und haben sich danach aufs nächste Mal gefreut? » Mein Gesicht glüht.
Er sieht mich fasziniert an. «Sie machen das wirklich gut. Aber ...»
«Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche, aber angesichts unseres Alters sollte ich eigentlich Ihre Position vertreten und Sie meine, richtig?»
«Richtig. Vielleicht können wir uns auf Folgendes einigen: Freiheit ist auch nur ein abstrakter Begriff, ein theoretisches Ideal. Trotzdem, wagen Sie sich mal ans Wasserloch.»
«Ich soll also meinen Kopf in einen Raubtierschlund halten? Wie ich sehe, liegt Ihnen mein Wohl am Herzen.» Ich lache laut, bereue meine herausfordernde Albernheit sogleich wieder.
«Das tut es tatsächlich. Deshalb wünsche ich mir für Sie, dass Sie sich die stinkenden Vögel, die Ihnen offenbar am Herzen liegen, mal da anschauen, wo sie hingehören, nämlich in Afrika.»
Bis zum Freitag vergehen meine Tage immer nach demselben Prinzip. Hausarbeit, gemeinsames Mittagessen, Zoo. Meine einzigen sozialen Kontakte sind morgens und mittags Martha und der alte Mann.
Von Daniel kommt nichts. Ich dachte, er würde mich finden. Ein törichter Gedanke. Was uns verbindet, ist eine kurze Begegnung im Zug, weiter nichts. Wahrscheinlich hat er mich längst vergessen, würde mich nicht mal wiedererkennen, wenn wir uns tatsächlich nochmal über den Weg liefen.
Ich sollte froh darüber sein. So muss ich nichts erklären, bleibe die interessante, etwas seltsame Frau mit dem guten Strich. Mehr weiß er nicht von mir und mehr ist auch nicht wissenswert.
Im Grunde fürchterlich, der Gedanke, wir könnten uns nochmal begegnen. Beim Bäcker vielleicht, oder in der U-Bahn. Irgendwann würde er wissen wollen, warum ich mich auf sein Angebot hin nicht gemeldet habe, was ich eigentlich beruflich machen würde. Nichts, müsste ich ihm antworten. Stirnrunzelnd stünde er dann vor mir, würde eine Erklärung erwarten, nicht aus Boshaftigkeit oder Überheblichkeit, sondern weil es ausschlaggebend dafür wäre, ob ich wirklich interessant bin, ob das Bild, das er sich von mir gemacht hat, nicht nur ein Bild ist, reine Dekoration, sondern dreidimensional meine Persönlichkeit durchzieht.
Schamhaft würde ich den einen Fuß über Kreuz neben den anderen stellen, so, als müsste ich dringend auf die Toilette, würde stammelnd ein paar Schlagworte von mir geben, denn in ganzen Sätzen klingt es noch schlimmer: Bankkauffrau, Kreditabteilung, ewige Wiederholung, Holzimitat für die Schreibtische, Sodbrennen durch Filterkaffee, Pause um zwölf, Langeweile, montags die Reste vom Sonntag in der Tupperware aufwärmen, dienstags zum Yoga, mittwochs Lebensmittel einkaufen, Serien gucken, freitags erschöpft sein vom ewig Gleichen, irgendwann Kopfschmerzen vom ewig Gleichen und als Steigerung davon, Kranksein vom ewig Gleichen und schließlich Kündigung wegen ewig Gleichem.
Daraufhin würde unangenehmes Schweigen folgen und dann müsste er dringend weiter, sich knapp verabschieden, um für immer zu verschwinden.
Ich kann das nicht erklären, dass es einfach nicht mehr auszuhalten war, und ich kann auch nicht erklären, warum ich überhaupt erst damit angefangen hatte.
Aber was denn, in Gottes Namen? Was war denn so schlimm?, fragen die einen, die es für töricht halten, einen gut bezahlten, sicheren Job zu kündigen.
Alles. Einfach alles. Und während man das sagt, laufen im Hintergrund die Nachrichten im Fernsehen und zeigen Bilder von verstümmelten Kriegsopfern, die mit schmutzigen Plastikflaschen Wasser aus einer braunen Pfütze schöpfen. Da muss man die Belanglosigkeiten, die man von sich gibt, schnell selbst unterbrechen, um nicht in Selbsthass zu verfallen ... Sodbrennen vom Filterkaffee.
Die andere Seite hingegen hält eine kaufmännische Lehre nicht für eine Ausbildung, sondern für eine Krankheit. Denn Banken sind böse und die eigene Horizontweite sollte es einem verbieten, Vorgaben einzuhalten, die die Reichen nur noch reicher machten und die Mittellosen klein hielten.
Mein Kopf dröhnt. Zu oft haben sich meine Gedanken schon ohne Ergebnis hierum gedreht.
Ihr wäre das nicht passiert. Falsch, ihr ist das nicht passiert. Martha ist anders, eine Ausnahmeerscheinung. Die Mutter hatte nach dem Tod des Vaters einfach still und heimlich den Hof verkauft, weil sie in die Stadt wollte, um sich die Hände nicht mehr schmutzig machen zu müssen. Innerhalb einer Woche musste Martha ihre Sachen packen, ein neues Leben in der Stadt beginnen. Ihre Pläne von einer eigenen Pferdezucht waren damit hinfällig. Aber eine wie sie wirft das nicht aus der Bahn. Zwei Tage ist sie unausstehlich, dann schüttelt sie ein neues Ziel aus dem Ärmel. Und wird erfolgreich damit. Verstaubt nicht hinter einem Berg zu langer Hosen und zu enger Röcke in einem schlecht beleuchteten Hinterzimmer, sondern schneidet, pardon, schneidert sich mit gewagten Kreationen in die Herzen der High Society von Köln.
Einmal, bei einem Grillfest im Garten meiner Eltern, da hat sie es ganz leise vor sich hin geflüstert, so, dass es nur die hören konnten, die es hören wollten: «Ein bisschen Kälte und Hunger hätten eurer Generation auch nicht geschadet.»
Wahrscheinlich hatte sie damit sogar recht.
Auf den letzten Metern zum Ausgang beschleunige ich den Schritt. Heute Abend findet die Vernissage statt. Ein Abend unter Leuten ist in jedem Fall erbaulicher, als erneut allein vor dem Fernseher zu enden. Rede jetzt schon vorwiegend mit mir selbst, manchmal sogar laut, wälze mich in verschütteten Lebensmitteln, vermute Tiere in meinem Zimmer und masturbiere auf ein Facebook-Profilfoto.
Marabu
Eine ältere Frau nähert sich mit ihrem Gehstock langsam dem Geländer bei den Marabus. In der Nähe steht eines der Tiere und putzt sein Gefieder. Die Frau beugt sich ein wenig unbeholfen hinüber zu dem Tier, zieht sich ihren Sommerschal vom Hals und beginnt damit, nach dem Vogel zu schlagen. Mehr überrascht als erschrocken springt dieser einige Schritte zur Seite und widmet sich dann weiter der Körperreinigung. Von der Besucherbank hört man die Enkelin rufen «Oma, mach das nicht», dann fügt sie noch hinzu, «die können beißen.»
Wie wird man so dumpf?
Ich gehe hinüber zum Geländer, dorthin, wo die alte Frau stand. «Komm her, ich tröste dich», flüstere ich dem Tier zu, damit es keinen weiteren Angriff befürchtet.
Der Vogel unterbricht sein Putzen, sieht mich an.
«Danke, nicht nötig. Lieber wäre mir, du hättest der Alten den Krückstock weggetreten.»
Er lacht. «Denk gar nicht drüber nach, das war nur ein Scherz.» Der Vogel kommt näher zu mir an den Zaun.
«Stört dich das nicht, dass man dich so behandelt?», frage ich erleichtert, dass das Tier ungerührt von der Attacke geblieben ist.
«Eigentlich nicht. Diese Leute kümmern mich wenig. Sie sind frustriert. Meistens dumm, am Rande der Gesellschaft ohne Aufgabe und Anerkennung oder es sind Kinder. Wie sie sich aufführen, ist mehr albern als traurig.»
«Bist du hier nicht auch ohne Aufgabe?», frage ich vorsichtig und Blicke an ihm vorbei auf die Anlage.
Der Vogel lacht erneut, weißer Schiss läuft an seinem Standbein hinunter. «Und ich dachte, gerade du seist ein bisschen aufmerksamer, wo du uns doch seit Tagen beobachtest. Ich bin, wie alle in diesem Zoo, Repräsentant meiner Art, damit ich die vertrete, die noch da draußen sind, damit die Leute kennenlernen, was ihnen fremd ist. Betrachte mich als Diplomaten.» Der Vogel zupft sich eine lose Feder von der Brust. «Klingt gut, ist möglicherweise aber ein wenig zu pathetisch. Kadaverbeseitigung ist nicht weniger wichtig, nur weniger sexy.» Der Marabu sieht eine Weile in mein nachdenkliches Gesicht.
«Ich gebe zu, ich bin mehr als froh, das Aufgabengebiet gewechselt zu haben, mit dem Kopf nicht mehr stundenlang im fauligen Aas herumwühlen zu müssen, nur, um noch etwas Verwertbares zu fressen zu finden. Hier ist es deutlich angenehmer. Aber dafür zahle ich einen hohen Preis.» Er sieht hoch, blinzelt ins Licht. «Die Sonne ist hier anders. In der Abenddämmerung färbt sie den Himmel glutrot in Afrika, taucht alles in dieses warme Licht, das selbst Todfeinde für einen Moment miteinander vereint. Dann stehen alle gemeinsam am Wasserloch, stillen friedlich ihren Durst. Das ist das Bild perfekter Harmonie, das gibt es hier nicht. Oder doch, das gibt es hier schon, nur nimmt man es nicht wahr, weil der Kontrast fehlt. Tod und Leben, Schönheit und Verderben liegen in Afrika so nah beieinander, dass es unheimlich ist. Ein Abenteuer, das es hier nicht gibt.»
Der Marabu sieht wieder zu mir, prüft, ob das, was er mir erzählt, etwas mit mir macht. «Aber auch das ist wieder zu pathetisch. Vom Frieden wird niemand satt. Wenn mir der Magen zu sehr knurrte, dann opferte ich die Harmonie auch mal vorzeitig, mischte plötzlich eine Gruppe Antilopen auf, um die Löwen daran zu erinnern, dass das, was da panisch auseinanderrennt, leichte Beute für sie ist.»
Der Marabu macht einen Schritt auf mich zu. «So etwas wolltest du nicht hören, oder?»
«Doch, alles. Erzähl mir mehr von Afrika», antworte ich.
«Afrika.» Langsam dreht er sich zur Seite, fokussiert die Pfleger, die am Stall die Fütterung vorbereiten.
«Ich kann immer noch fliegen, als Einziger. Sie stutzen mir die Flugfedern nicht, weil sie glauben, ich sei schon lange dauerhaft flugunfähig. Nachts, wenn es dunkel ist, drehe ich meine Runden. Anfangs habe ich für den Rückflug trainiert. Ich wollte zurück, einfach nach Hause. Aber den Aufbruch habe ich immer wieder verzögert. Mittlerweile ...» Er unterbricht sich. «Gleich gibt es Futter.» Aufmerksam beobachtet der Marabu das Tun der Pfleger. «Afrika ist wunderschön und grausam zugleich. Das kann man sich nicht vorstellen, wenn man nicht dort gewesen ist. Heute fühle ich mich hier wohler, sicherer.» Das Tier senkt den Kopf, tritt unruhig von einem Bein auf das andere, während es beobachtet, wie die Artgenossen sich langsam, aber zielstrebig dem Futterplatz nähern. «Irgendwann packt es mich vielleicht und dann bin ich vorbereitet und breche tatsächlich auf.» Ich spüre, wie er sich beherrscht, um den anderen nicht zu folgen. «Und du?», fragt er mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.
«Ich vielleicht auch.»
Als ich in die die Wohnung zurückkomme, fehlt von Martha jede Spur. Dabei sollte sie längst zurück sein, um sich umzuziehen, und vor allem, um mich mitzunehmen. Während ich mit einem kleinen Pinsel roten Lack über meine Nägel ziehe, werde ich wütend. Sie lässt mich einfach alleine.
Um sechs suche ich in ihrem Zimmer nach Indizien – vielleicht war sie schon hier und hat sich längst zurechtgemacht. Aber weder in ihrem Schlafzimmer noch sonst irgendwo finde ich einen Hinweis. Also warte ich weiter.
Der Nagellack taugt nichts. Er lässt sich einfach so vom Nagel schieben, dabei sollte er längst ausgehärtet sein.
Halb sieben. Zwischen den Streben des Balkongeländers spinnt eine winzige Spinne ihr Netz. Zigaretten und Bier. Wie kann sie mir das antun? In der Schublade des Küchentischs liegt immer noch die angebrochene Schachtel von vorigem Jahr. Schon beim ersten Zug wird mir übel. Das Bier direkt hinterher. Freitagabend und ich flippe aus, weil meine Oma mich versetzt. Auf dem Küchentisch liegt die Einladung. Dann mache ich mich eben alleine auf den Weg, denn hier bleiben kann ich auf keinen Fall.