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05 – Waschzwang

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Gähnend schließt Martha die Tür auf. Sie möchte ins Bett. Ich wünsche ihr eine gute Nacht und will in mein Zimmer gehen, da ruft sie mich zurück. Ich müsse ihr beim Umziehen helfen.

Ein wenig hilflos stehen wir in dem dämmrigen Flur, dann folge ich ihr in ihr Schlafzimmer. Sie zieht die Gardine zu, schaltet das Deckenlicht aus und die Nachttischlampe ein. Dann reicht sie mir wortlos ihr Nachthemd. Ich bemerke leise, dass wir den Part des Ausziehens nicht überspringen können. Wir beginnen mit der grobmaschigen Strickjacke, die mühelos erst vom linken Arm gleitet und sich dann einfach über den Gips ziehen lässt. Beim T-Shirt verfahren wir ähnlich, allerdings muss es über den Kopf gezogen werden. Dabei haben sich die Haare statisch aufgeladen und stehen nun in alle Richtungen vom Kopfe ab. Grob streicht Martha sie mit der linken Hand wieder glatt und ist gleichzeitig bemüht, mit dem eingegipsten Arm die Brust zu bedecken. Ich sehe Martha das erste Mal mit nacktem Oberkörper und bin peinlich berührt. Das ist intimer, als ich erwartet hätte. Sie hat kein Gramm Fett zu viel. Alles ist stramm, soweit ich das bei dem wenigen Licht beurteilen kann. Aber durch ihre Scham fühle ich mich wie ein Eindringling.

Sie fängt meinen interessierten Blick ein, zieht hastig die Schultern nach vorne und macht den Rücken rund, wie um sich zu verstecken. Dann dreht sie sich ruckartig um. Zerbrechlich wirkt er auf einmal, der sonst so aufrechte Körper. Von hinten erkennt man deutlich, trotz der Lichtverhältnisse, die grün-violetten Verfärbungen des Gewebes, die von den Prellungen herrühren und sich von der Hüfte bis zur Schulter hinaufziehen. «Jetzt den BH öffnen», sagt sie leise. Ihr innerer Widerstand ist spürbar, als ich meine Finger unter den Verschluss schiebe. Über den Rippen ist nur eine dünne Schicht weichen Fleisches. Es fühlt sich an, als seien Fleisch und Haut nicht verbunden. Wie gerne würde ich das genauer untersuchen, aber das käme wohl einem Missbrauch gleich.

Sie hat einen kleinen Busen, deshalb spüre ich keinen großen Zug nach vorne, als ich den Verschluss öffne. Zum Bett gewendet reicht sie mir das Nachthemd nach hinten und zieht dann den BH über beide Schultern. Sie will auf keinen Fall, dass ich ihre nackten Brüste sehe. Ich will das eigentlich auch nicht und dennoch interessiert es mich. Die Hose schaffe sie alleine, nur die vorderen Haare müsste ich ihr noch feststecken, dann käme sie auch im Bad allein zurecht.

Während Martha ins Bad geht, schaue ich mich von meiner Bettkante aus um. Für die nächsten Wochen schlafe ich in einer Kombination aus Gäste- und Arbeitszimmer. Dieser Raum ist anders als der Rest der Wohnung. Dichter, persönlicher. Neben der Balkontür steht ein großer Schreibtisch mit Nähmaschine, auf der gegenüberliegenden Seite ein großes Bett. Außerdem gibt es ein überfülltes Bücherregal, eine Kommode für das Nähzubehör, ein langes Pinboard, mit Entwürfen, Schnittmustern und Zeitungsausschnitten. Ein paar große gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos zeigen Szenen von der Eröffnung ihres Ateliers und die Familie. Es gibt auch ein paar Objekte, die gar nicht zu dem sonst so schlicht modernen Stil ihrer Wohnung passen: eine fast kitschig verzierte Leuchte mit keramischem Fuß auf dem Nachttisch, ein Didgeridoo und der hölzerne Schaukelstuhl ihres Vaters.

Dieser Raum ist voll von gelebtem Leben, sentimental, stolz. Hier spiegelt sich, anders, als im Rest der Wohnung, mehr von der liebenswerten, humorvollen Martha wieder als von dem nüchternen Kontrollfreak, der sie genauso ist.

Kurz nach Martha gehe ich ebenfalls ins Bett.

Ein metallisches Scheppern macht mich wach. Martha ist in der Küche. Die Sonne ist heute Morgen gleißend hell. Das Aufstehen kostet mich Kraft. Finde deine Bestimmung, brennen die Strahlen in meine Stirn, und zwar schnell. Wie ist das möglich, dass die ganze Welt weiß, was sie will, nur ich drehe mich im Kreis? Im Badezimmer lasse ich das Waschbecken mit kaltem Wasser volllaufen und tauche meinen Kopf hinein, bis mein Körper vom Sauerstoffmangel ein große Menge Adrenalin ausschüttet. Danach bin ich zumindest wach, wenn auch nicht besser gelaunt. Während wir auf dem Balkon sitzen und Kaffee trinken, zankt sich eine Gruppe Papageien in der Kastanie bei den Bisons, im Hintergrund ist außerdem Streit auf dem Pavian-Felsen vernehmbar. Ihr Gekreische erinnert mich an die Geräuschkulisse eines Gemetzels in einem Zombiefilm.

«Alma, wir müssen reden.» Ich verschlucke mich.

«Heute muss geduscht werden.»

Sie steht auf und stellt die Tassen weg. Mehr Gespräch dazu gibt es nicht. Wie gut, dass Mama ein paar Angaben zum Prozedere gemacht hat. Als Martha ins Bad kommt, hat sie den rechten Bademantelkragen feste an die Brust gedrückt und blinzelt hilflos in die grell einfallende Sonne. Sie braucht ihre Rüstung. Ich hatte ja keine Ahnung, wie leicht sich die sonst so unverwüstliche Martha aus dem Gleichgewicht bringen lässt.

«Also, zuallererst: Den Hocker brauchen wir nur beim Haarewaschen. Den kannst du also gleich wieder wegbringen.» Sie bemüht sich um Souveränität, klettert vorsichtig, aber zielstrebig über den Badewannenrand. «Gleich verpackst du den Gipsarm, streifst mir den Waschhandschuh über und gibst mir Duschgel hinein. Danach ziehst du den Duschvorhang zu und bleibst mit dem Duschgel in Reichweite, falls ich mehr davon brauche.»

Kopfnickend stehe ich vor ihr, die in der Wanne deutlich größer ist als ich. Also klettere ich ebenfalls hinein, um ihr das Nachthemd über den Kopf zu streifen.

Zu meiner Überraschung trägt sie keinen Slip. Sie ist jetzt splitternackt und fixiert meine Augen so eindringlich, dass ich den Blick nicht wandern lassen kann. Sie hält meine Augen mit ihren fest. Dann dreht sie mir, wie gestern Abend, wieder ruckartig den Rücken zu.

Reflexartig greife ich nach ihrem intakten Arm, um sie zu sichern. Die Hämatome auf ihrem Körper schillern im Tageslicht beängstigend in den unterschiedlichsten Nuancen. Mit einem strengen Blick macht sie sich los. «Danke, das geht schon.»

Ich steige aus der Wanne, befestige die Plastiktüte über dem Gips und den Waschhandschuh an der linken Hand. Wir schweigen. Für Martha vollkommen untypisch, aber so nackt, wie sie ist, fehlt ihr die Munition. Ich sehe, wie sie die Pobacken zusammenkneift. Dann werde ich es eben versuchen.

«Mit der Plastiktüte und dem Waschhandschuh siehst du von hinten aus wie eine Winkerkrabbe.» Mein anschließendes Kichern ist reine Hilflosigkeit und tut mir im selben Moment auch schon leid.

Das war zu viel. Martha legt die linke, behandschuhte Hand schützend auf ihren Po, das Duschgel tropft heraus, aber ich sage besser nichts. «Nicht witzig, überhaupt nicht witzig.» Dann greift sie selbst nach dem Duschvorhang und zieht ihn geräuschvoll zu. Sie duscht.

Ich höre, wie das Wasser auf die Plastiktüte prasselt, mahne sie zur Vorsicht, die Tüte sei nicht hermetisch dicht.

Ja, ja, sie brauche jetzt noch mehr Duschgel. Zehn Minuten später und ohne ein weiteres Wort stellt sie das Wasser ab.

Sie fordert das Handtuch. Von hinten lege ich es ihr über die Schultern und rubble dann Rücken, Arme und Beine vorsichtig ab. Den Rest könne sie alleine, ich müsse sie nur einwickeln und den Zipfel festklemmen. Auf meine Hand gestützt steigt sie aus der Wanne und verschwindet in ihrem Schlafzimmer. Die Kleider, die sie heute tragen will, sind einfach anzuziehen, da muss ich nicht viel helfen. Als ich auf ihren Wunsch den Raum betrete, trägt sie bereits Hosen – wieder mit Gummizug – und der BH hängt schon über den Schultern, muss nur noch geschlossen werden.

Um Viertel vor neun sind wir beide geduscht und angezogen und essen Vollkornbrot mit Quark, Marmelade und Apfelscheiben. «Operation Morgentoilette erfolgreich abgeschlossen.» Dazu mache ich eine militärische Handbewegung.

Eine Welle geht von unten nach oben durch ihren Körper und endet mit einem gepressten Pfeifton aus ihrem Mund. Dazu ein ohnmächtiger Blick gen Himmel. Wir sind nicht mehr Martha und Alma. Wir sind jetzt etwas anderes – das habe ich wohl verstanden. Denn ich habe sie schwach gesehen, verwundbar. Die Stimmung ist bedrückt. Ich hoffe inständig, dass sie sich an die Waschprozedur noch gewöhnt, sonst muss ich damit rechnen, dass sie mich an dem Tag, an dem sie ihr den Gips abnehmen, kaltblütig erschießt – um sich des Zeugen ihrer Unzulänglichkeit für immer zu entledigen. Eine Gänsehaut breitet sich über meinem Rücken aus. Ja, das würde ich ihr tatsächlich zutrauen. Später gehen wir meine Aufgaben durch. Welche Wäsche wann und wie gewaschen werden muss. Putz-, Gieß- und Einkaufsintervalle etc. Für Freitagabend kündigt sie eine Vernissage an. Zeitgenössische Fotografie im Belgischen Viertel. Sie erklärt mir etwas zum Künstler und zum Galeristen, einem alten Freund. Boden gut machen, zur alten Größe zurückfinden. Gut so. Ich höre interessiert zu.

Nach dem Frühstück erledige ich meine Aufgaben. Den Rest des Tages hätte ich frei, erklärt sie mit gönnerhafter Geste. Ich solle nur bis halb zwölf zu Hause sein, damit sie in ihr Nachthemd komme. Halb zwölf also spätestens. Um sechs schließt der Zoo. Und danach?

Danach könnte ich die Straßen rund um Daniels Wohnung ablaufen, in der Hoffnung, ihn zufällig zu treffen. Und was würde ich machen, wenn ich ihn tatsächlich träfe? Mich winden wie ein Wurm, nach Worten suchend, um zu erklären, dass es wirklich dem reinen Zufall geschuldet sei, dass ich gerade in diesem Moment hier durch seine Straße liefe. Dass ich zu feige sei, ihn anzurufen, weil ich Angst hätte, mich zu blamieren, wenn ich tatsächlich für ihn zeichnen würde, und dass ich eigentlich sowieso nur eines wolle, nämlich wild mit ihm durch die Kissen seines Bettes toben und mich zu Schweinereien verführen lassen.

«Alma?», Martha fuchtelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum. «Alles in Ordnung?» Ihr Lachen übergehend erkläre ich, am Nachmittag Perspektiven für die Zukunft erarbeiten zu wollen. Aber vorher würde ich eine Runde im Zoo drehen.

Ende August ist es noch warm, wenn die Sonne scheint, aber im Schatten spürt man, dass das Warme an sich langsam verschwindet. Am späten Vormittag bin ich wieder bei den Marabus. Sie tun nichts. Genau wie ich. Das kann ich heute nicht ertragen und gehe deshalb zügig weiter. Ich nehme die Querverbindung vorbei am Nashorn und dem ehemaligen Elefantenhaus, vorbei an den Flamingos und den Bären.

Bei den Erdmännchen bleibe ich wieder stehen. Zwei Jungtiere prügeln sich, beißen und zerren einander an Ohren und Beinen, überschlagen sich und rollen die abschüssige Wiese herunter bis zu der halbhohen Mauer, an der ich stehe. Ein weiterer Jugendlicher kommt dazu. In diesem Moment lassen die anderen beiden voneinander ab und stürzen sich auf den Neuen. Dann wechselt das Opfer erneut.

Sie haben Spaß. Artgerechtes Vergnügen und das in einer Zwangsgemeinschaft hinter Gittern. Erstaunlich. Kann es ihnen in freier Wildbahn besser gehen? Nein. Es sei denn, der kindliche Spieltrieb, der der Vorbereitung auf Jagd und Revierkämpfe im Erwachsenenalter dient, mündete später in einer großen Depression, weil weder das eine noch das andere ernsthaft ausgeübt werden kann.

Aber heißt es nicht, man könne nicht vermissen, was man nicht kennt?

Falsch, ich weiß es besser, kenne die Depression, die sich einschleicht, weil nicht kommt, worauf man hofft. Dabei geht es nicht um etwas Konkretes. Vielmehr ist es ein Gefühl, das sich nicht einstellen will. Das Gefühl, das Richtige zu tun.

Und so ist sie mir ein ständiger Begleiter, die Unzufriedenheit, hat sich lähmend und beschwerend auf meine Schultern gelegt. Nur im Zug, da war für einen Moment alles anders.

Aber was kümmert die Evolution schon die Frustration des Einzelnen? Nichts.

Evolution kommt von lateinisch evolvere «entwickeln». Den einen dient der Spaß als Motor, den anderen die Unzufriedenheit. Ich gehöre zur zweiten Gruppe. Leider.

Dennoch, ich sollte froh darüber sein, sonst bliebe ich wohl bis zur Rente in meiner kleinen Bankfiliale, würde das Leben verpassen.

Erdmännchen

Der Tierpfleger öffnet die Tür zur Freianlage der Erdmännchen. Wenn er kommt, scharen sich die kleinen Räuber in sicherer Entfernung zusammen, bis er die Futternäpfe gefüllt hat. Dann stürzen sie sich auf die toten Küken und Mäuse. Aber diesmal ist es anders. Ein Erdmännchen kommt direkt auf ihn zu, umkreist seine Füße, sodass er befürchtet, es mit seinen schweren Arbeitsschuhen zu verletzen. Er versucht, es vorsichtig mit dem Fuß zur Seite zu schieben, damit er die Tür hinter sich schließen kann, ohne dass es ihm entwischt. Aber so, wie es scheint, will es gar nicht raus.

«Kannst du bitte ein Netz hier drüber spannen?» Der Tierpfleger sieht sich irritiert um, traut seinen Ohren nicht. Woher kamen die Worte? Spielt ihm die Fantasie gerade einen Streich? Mit offenem Mund starrt er auf das kleine Tier, dass sich ungewohnt mutig direkt vor seiner Schuhspitze auf die Hinterbeine stellt.

«Kannst du bitte ein Netz hier drüber spannen!», wiederholt das Erdmännchen. Jetzt ist er sicher, dass die Stimme aus dem kleinen Körper vor ihm kommt. Der Tierpfleger schaut sich um, prüft, ob er von irgendjemandem beobachtet wird. Zu seiner Überraschung ist niemand in der Nähe, kein Besucher, kein anderer Pfleger. Trotzdem zögert er, ob er dem Tier antworten soll. Er spricht immer mit ihnen – aber normalerweise ist er sich auch sicher, dass sie ihm nichts entgegnen.

«Warum?», fragt er schließlich neugierig.

«Damit die Krähen hier nicht landen und besonders nicht die Raubvögel.»

Der Tierpfleger lächelt, stützt sich auf seine Schaufel.

«Aber ohne Netz ist es natürlicher und ihr rennt mehr, um die einen zu vertreiben, bzw. vor den anderen zu fliehen. Das hält euch in der Gefangenschaft fit.»

Das Erdmännchen schaut den Tierpfleger ungläubig an.

«Woran merkt man, dass man gefangen ist?»

Der Tierpfleger schüttelt seinen Kopf, weiß nicht, ob er dem Tier antworten soll. Das alles kommt ihm viel zu verrückt vor.

«Ihr seid gefangen, weil euer Bewegungsraum durch die Mauer rund um diese Wiese eingeschränkt ist, weil ich euch das Futter bringe, anstatt dass ihr es selber fangt, und weil ihr hier eigentlich keine natürlichen Feinde habt. Ein einfaches Beispiel: Du kannst nicht dort rüber zu den Kamelen laufen. Du musst hier bleiben, wegen der Mauer.»

«Aber ich will gar nicht zu den Kamelen.»

«Es geht nicht darum, was du willst, sondern um das, was du theoretisch könntest.»

Das Erdmännchen zögert und fragt dann: «Und du? Machst du alles, was du theoretisch könntest?» Die Frage ist weniger provokativ, als sie im ersten Moment zu sein scheint, denn das Erdmännchen legt interessiert den Kopf schief. Der Tierpfleger schaut peinlich berührt an sich herab. Sein T-Shirt ist im Bauchbereich stark gespannt. Er geht einen Schritt zurück, tritt mit seinem Schuh sachte gegen einen Stein, der aus dem festgetretenen Lehmboden herausragt.

«Was ist denn nun?» Das Erdmännchen verkürzt den Abstand zwischen ihnen wieder.

«Theoretisch bin ich frei und könnte alles tun, aber praktisch nicht. Im Grunde bin ich nicht mal theoretisch frei. Ein Drittel meines Tages bin ich verpflichtet, mich einer, sagen wir mal, höheren Gewalt zu fügen, um Geld zu verdienen, was mich in dem zweiten Drittel meiner täglichen Zeit stark einschränkt, und im letzten Drittel muss ich schlafen, damit ich im ersten zur Zufriedenheit funktioniere. Aber ...», und das sagt der Tierpfleger mit hörbarem Stolz in der Stimme, «... wenn ich wollte, könnte ich frei sein. Auch wenn das auf Kosten meines Komforts und wahrscheinlich auch meiner Lebenserwartung ginge.»

«Du lebst also freiwillig in Gefangenschaft, weil das komfortabel ist, aber wir sollen kein Netz bekommen, weil uns zu viel Komfort nicht guttut. Habe ich das so korrekt zusammengefasst?»

«Ja», antwortet der Tierpfleger knapp.

«Könntest du uns denn theoretisch das Netz besorgen?»

«Nein, wenn ich bei euch bin, befinde ich mich in der höheren Gewalt und die will das nicht. Außerdem wäre es nicht richtig, wie ich ja gerade schon erklärt habe.»

«Es wäre also falsch, uns das Leben zu vereinfachen?»

«In diesem Fall schon. Und wir versuchen, das Richtige zu tun. Meistens auf jeden Fall, wenn das nicht zu … zu umständlich ist.»

Der Tierpfleger greift sich mit beiden Händen an den Kopf, lässt die Schaufel einfach los. Er fühlt einen stechenden Schmerz in den Schläfen, der vom Aufprall des Schaufelstils noch verstärkt wird. Blind dreht er sich zur Tür, tastet nach dem Schlüssel, den er stecken gelassen hat, nachdem er von innen verriegelt hatte. Er muss hier raus. Hastig bewegt er sich durch die Schleuse auf den Wirtschaftsweg, sackt dort am Zaun in sich zusammen.

Morgen wird er nicht kommen. Aber am Tag darauf sieht man ihn wieder bei den Erdmännchen. Während er die Anlage reinigt, hört er von nun an Musik. Norah Jones. Ihre Stimme beruhigt ihn.

Ich spüre, wie sich mein Gehirn vom Wassermangel zusammenzieht, und mache mich, quer durch die Anlage, auf den Heimweg. Es muss die Neugier sein, die mich, trotz Durst, einen kurzen Abstecher zu den Marabus machen lässt. Der seltsam vereinnahmende Blick, die grau-metallischen Augen. Ich will ihn noch mal sehen. Und dann entdecke ich ihn zu meiner eigenen Überraschung tatsächlich. Heute steht er auf der anderen Seite, bei den Bisons. Mit ein wenig Abstand bleibe ich schräg hinter ihm stehen. Er ist auffallend groß und athletisch. Über der grauen Cargo-Hose trägt er ein marine-blaues T-Shirt. Er hat weder einen Bauch noch einen krummen Rücken. Dafür, dass er, wie Martha, um die Siebzig sein dürfte, ist er erstaunlich gut in Schuss. Auf den Handlauf gestützt steht er bei den Wildrindern, den Blick offenbar nach oben gerichtet, da sich im Nacken unter den kurzen, grauen Haaren eine Hautfalte abzeichnet. Ich blicke ebenfalls hinauf und stelle überrascht fest, dass einem Balkon im Haus dahinter sein Interesse gelten könnte. Unserem vielleicht.

Mich beschleicht eine Beklommenheit, die sich auch nicht auflöst, als ein Rabe sich unter lautem Geschrei aus der Kastanie vor uns erhebt. Oder hat er ihn beobachtet, den schwarzen Pechvogel, falsch, den pechschwarzen Vogel? Der Mann dreht sich um, findet mich mit fragendem Blick. Er lacht.

«Was machen Sie schon wieder hier?», fragt er herausfordernd. Dabei steht er mit überkreuzten Füßen gelassen an das Geländer gelehnt.

«Nichts», sage ich schnell. «Und Sie?»

Er antwortet, ohne zu überlegen. «Leider nur die Zeit totschlagen.»

Der Weg vom Haupteingang zur Wohnung kommt mir endlos vor. Durst, Hunger, Füße. Es ist schon später Nachmittag. Ich habe fast noch nichts gegessen. Zu Hause von Martha keine Spur. Im Zeitalter der Handys muss man keine Absprachen mehr treffen oder Nachrichten hinterlassen, wenn man geht. Wenn man dringend wissen will, wo der andere ist, kann man anrufen und wenn man nicht anruft, muss man es offensichtlich auch nicht so dringend wissen.

Sie wäre kein glückliches Zootier, würde die Freiheit mehr vermissen, als den Komfort schätzen. Bei Mama und mir bin ich mir da nicht so sicher.

Es ist heiß geworden und die Hitze liebt er nicht gerade. Ganz im Gegenteil. Über die Jahre hat er sich an die unwirtliche Kälte der Bergwelt gewöhnt. Heute liebt er sie, die Kälte, das Raue, die Naturgewalten. In den schattigen Mauern des Eulenklosters sucht Albert nach Abkühlung und wundert sich über seine eigenen Gedanken. Die Kälte lieben – das kommt sogar ihm selbst ein wenig eigenbrötlerisch vor. Mit einer Frau an seiner Seite würde er den Begriff Liebe wahrscheinlich anders verwenden.

Das heisere Ruf eines Waldrapps, der sich direkt vor ihm auf die halbhohe Mauer gewagt hat, holt ihn ins Hier und Jetzt zurück. Das Tier weicht ängstlich zurück, als er vor ihm in die Knie geht, um es genau zu betrachten.

«Bursche, du siehst ja zum Fürchten aus!» Das Tier neigt skeptisch den federlosen Kopf, der ebenso rötlich-weiß gefärbt ist, wie der gebogene Schnabel. Seine gelb-roten Augen wirken entzündet, der schwarze Federkranz, der am Hinterkopf beginnt, komplettiert die gruftihafte Erscheinung. Der Mann lacht. «Aber der jungen Dame bei den Marabus würdest du sicher gefallen.»

Der Mann richtet sich wieder auf. Es hatte immer wieder Frauen in seinem Leben gegeben, aber eben keine, die ihn so fasziniert hatte, wie die erste. Langsam geht er hinüber zur Voliere der Schneeeule, die regungslos auf ihrem Ast sitzt und starr durch ihn hindurchschaut. Ihr Gesicht scheint aus geometrischen Formen aufgebaut. Eine perfekte Komposition mit einer dominanten Mittelachse in Form eines schwarzen Stirnstrichs, der in dem kleinen gelben Schnabel ausläuft.

Sie war auch perfekt gewesen. Aber hätte sie sich nicht von ihm abgewendet, wäre sein Leben ganz anders verlaufen. Ihr Verlust hat ihn angetrieben, hat einen Mut in ihm freigesetzt, den er mit ihr nie in der Lage gewesen wäre aufzubringen. Ohne sie hatte er nichts mehr zu verlieren. Er kann ihr dankbar sein.

Ja, manchmal ist er einsam, aber zugegebenermaßen hat er das selbst so gewählt. Die Bergwelt aus Schnee, Eis und Fels, die dunklen Wälder, die glasklaren Seen und natürlich die alles vereinnahmende Stille, die es nur dort oben gibt – das alles war er nie bereit zu opfern, nur um eine Frau an sich zu binden.

Zufrieden verlässt er das Eulenkloster und kurz danach auch den Zoo. Für heute hat er genug.

Spaghetti mit Tomatensauce. Dazu lasse ich mir von der 100sten Wiederholung «Big Bang Theory» das Gehirn waschen.

Erbärmlich. Ich bin 25 Jahre alt, ohne Job und sitze bei wolkenlosem Himmel in einer Großstadt alleine auf dem Sofa und gucke TV. Ich kontrolliere meine Zehennägel, bemerke, dass Sockenflusen in den Ecken festhängen, und mein weißes T-Shirt ist voll von Saucenspritzern. Nicht nur erbärmlich, auch noch peinlich. Was will man von so jemandem? Nichts. Vor meinem inneren Auge erscheint Daniel im Türrahmen, schön, sauber, zielstrebig. Lächelnd kommt er zu mir herüber, zieht mir das schmutzige T-Shirt aus, öffnet meinen BH und befühlt meine Brüste. Dann lacht er und dreht sich weg.

Der Wecker holt mich früh aus dem Schlaf. Heute fällt mir das Aufstehen leichter. Im Bikini laufe ich ins Bad, positioniere dort mein Handy und die Miniboxen. Ich lege die Antirutsch-Matte in die Wanne und stelle den Hocker darauf. Aus einem schwarzen Müllsack bastle ich eine Art Cape, indem ich die Seitennähte öffne und ein großes Loch in Kopfgröße mittig hineinschneide. Dann gieße ich mir ein Glas Sekt ein und stelle ein zweites auf die Fensterbank im Bad. Ich gehe auf den Balkon und leere das Glas in einem Zug. Ekelhaft. Wenige Minuten später höre ich Geräusche in Marthas Zimmer. Ich warte. Lautlos taucht sie im Türrahmen der Küche auf.

«Guten Morgen! Haare gewaschen!»

«Du bist noch schlimmer als deine Mutter.»

Martha will mit schmerzverzerrtem Gesicht gleich wieder kehrt­machen, aber ich halte sie an der Schulter fest.

«Martha, vertrau mir. Ich habe alle Vorkehrungen getroffen, damit wir das beide würdevoll über die Bühne bringen können.»

Der Sekt auf nüchternem Magen zeigt sofort Wirkung. Ich bin mutig, fast aufgedreht. Martha folgt mir ins Bad, beobachtet skeptisch, wie ich meine Sonnenbrille aufsetze. Aus den Miniboxen ertönt nun Reggae-Musik. Ich tanze, Martha lacht. Belustigt schüttelt sie den Kopf, als ich ihr das Sektglas reiche.

Auch sie leert es in einem Zug. Ihre Reaktion macht mir Mut. Lächelnd helfe ich ihr aus dem Nachthemd. Anschließend streife ich ihr vorsichtig den Müllsack über den Kopf. Bob Marley singt dazu. Als sie auf dem Hocker sitzt, seufzt sie laut, lässt die Schulter fallen. Ich steige hinter ihr in die Wanne, shampooniere ihre Haare, massiere die Kopfhaut ein wenig. Nachdem der Schaum ausgewaschen ist, fängt sie von sich aus an, das Cape abzustreifen, um zu duschen. Als sie das Bad, eingewickelt in ein Handtuch, verlässt, greift sie kurz meine Hand, drückt sie feste. «Bis die Flasche leer ist, machen wir es weiter mit Alkohol, danach versuchen wir es ohne.»

Später auf dem Balkon klemmt sich Martha eine nasse Haarsträhne hinter das Ohr, trinkt einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie sortiert die Brotkrümel mit dem Zeigefinger auf ihrem Frühstücksteller, erklärt, dass sie jetzt ein paar Erledigungen zu machen habe, und fragt, ob wir gegen eins essen könnten.

Ich nicke stumm, stehe auf und beginne artig mit meinen Aufgaben. Staubsaugen, Müll runterbringen, Betten machen, Bad putzen, Mittagessen kochen. Nach jeder Tat lässt sich ein ehrlicher Haken an die To-do-Liste machen, spüre ich zunehmend körperliche Erschöpfung und Befriedigung. Ursache, Wirkung. Klar, einfach.

Eine Tüte Milch rutscht mir in der Küche aus der Hand. Der Anblick des weißen Sees, der sich auf dem Boden bildet, beendet den Autopiloten.

Meine nackten Füße stellen sich in seine Mitte. Dann will der Körper sich hineinlegen, aber ich verbiete es. Stattdessen hole ich den Aufnehmer, nähere mich langsam damit dem Rand der Pfütze, bis ein paar Härchen die Milch berühren und sie gierig einsaugen. Warum sollte ich mich nicht hineinlegen? Es spricht nichts dagegen. Und was spricht dafür? Dass ich es will. Und gerade das soll, nein, will, ich doch trainieren, das Wollen. Laut führe ich dieses Selbstgespräch, ziehe mich dabei bis auf den Slip aus, setze mich vorsichtig in die Mitte des weißen Flecks und strecke mich langsam darin aus. Die Haare saugen sich voll, führen die Milch bis an die Kopfhaut heran. Es fröstelt mich, schlagartig wird mir kalt, die Muskulatur zieht sich am ganzen Körper zusammen. Der erste Impuls: aufstehen, den Ort verlassen. Aber ich besinne mich schnell, zwinge die Muskeln zur Entspannung. Keine halben Sachen. Ich drehe mich auf den Bauch, tauche die rechte Gesichtshälfte ins Nass, mein Körper nun schon nicht mehr ganz so empfindlich gegen die Kälte des Fliesenbodens. So liege ich einige Minuten einfach da, regungslos. Fühle mich stark und aktiv wie selten zuvor.

Erst als ich Geräusche im Treppenhaus höre, erhebe ich mich, wechsle den Slip und ziehe mich wieder an.

Beim Essen erzählt Martha, dass sie plane, mit einer Freundin im Herbst nach Malaga zu fliegen. Sie brauche Inspiration. Ein alter Stofflieferant habe sie gefragt, ob sie Lust hätte, einen Entwurf für eine Sonderedition zu machen. Der Arbeitstitel: Stoffe, die Geschichten erzählen. Zwölf verschiedene Designer, zwölf verschiedene Geschichten. Ideen habe sie wohl schon, aber noch nichts Konkretes.

Sie hat ein Talent, sie kennt es und sie nutzt es.

Die Haken auf meiner To-do-Liste verlieren augenblicklich ihren Wert. Hausarbeit: klar und einfach, Wiederholung in sisyphosscher Manier.

Lieber wäre ich der Schöpfer einer lesbaren Geschichte, umgesetzt in einem ästhetischen Muster, dessen Wiederholung man nicht wahrnimmt, obwohl sie da ist.

Die eben noch verspürte Befriedigung schwindet, wandelt sich in Neid. Sogar das Milchbad ist in der Erinnerung nur noch ein lächerlicher Versuch, besonders zu sein.

Ich muss das Thema wechseln.

«Weißt du noch, der alte Mann aus dem Zoo?»

«Ja, und?»

«Ich glaube, er beobachtet deinen Balkon.»

«Warum sollte er das tun?»

«Ich weiß es noch nicht.»

«Vielleicht interessiert er sich einfach nur für die Bisons, ein ehemaliger Tierpfleger möglicherweise.»

«Nein, das kann ich ausschließen. Er hasst den Zoo.»

«Du hast mit ihm gesprochen?»

«Ja, wir haben uns für heute Nachmittag verabredet.»

«Was?! Warum verabredest du dich mit einem fremden, alten Sack, der uns observiert?»

«Weil er interessant ist. Außerdem ist es kein alter Sack. Er dürfte zwar in deinem Alter sein, hat sich aber gut gehalten. Mindestens so wie du.»

«Mach, was du für richtig hältst.»

Bevor sie sich für den täglichen Mittagsschlaf ins Wohnzimmer zurückzieht, blickt sie mich lange und prüfend an, schließt dann die Tür hinter sich ohne ein weiteres Wort.

Auf einer Bank vor den Zebras gebe ich mich kurz darauf meiner Unzufriedenheit hin. Die Pfleger sind auf der Anlage, räumen die Haufen weg, befüllen die Futtertraufe. Für den Rest des Lebens, jeden Tag, mit Leidenschaft – angeblich sind Tierpfleger glückliche Arbeitnehmer.

Gehalt, Image, welche Leute man trifft, in welcher Stadt man lebt, vielleicht sogar in welchem Land – alles abhängig von einer Entscheidung, die man viel zu früh treffen muss und dennoch im Idealfall ein Leben lang nicht bereut.

Eine Banklehre. Im Nachhinein offensichtlich eine schlechte Idee. Eine vernünftige Entscheidung wollte ich damit treffen, schnell Geld verdienen, später noch studieren, Sprachen lernen und im Ausland arbeiten.

Ich dachte, wenn man nicht weiß, wofür man geboren ist, macht man erst mal das, wofür viele geboren sind.

Ein Pfleger schaut auf, als er hört, wie die flache Hand gegen meine Stirn klatscht.

Martha hätte intervenieren müssen. Aber sie hat den Mund gehalten. Gar nichts hat sie gesagt. Nur stumm genickt, die Augenbrauen zweifelnd hochgezogen. Damals dachte sie wohl noch, nach dem ersten Lehrjahr käme ich selbst zur Besinnung.

Eine Welle des Frustes überrollt mich. Es ist alles da, alles möglich, aber ich sehe es einfach nicht. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung lässt mich die Fingernägel in die Bank krallen, bis sie umknicken.

Die Zebras werden aus der Stallung gelassen, galoppieren zielstrebig zum frisch aufgefüllten Futter.

Ich stehe auf, muss mich endlich bewegen.

Flamingo und Gepard

Die Flamingos. Große, farbenfrohe Vögel, die zu Zehntausenden in Kolonien leben und mit ihrem Seihschnabel Plankton und sonstige Nahrungspartikel aus dem flachen Wasser filtern. Im Zoo sind es nur knapp 100 Tiere und die rote Farbe ihres Gefieders kommt von speziellen Farbstoffen, die man ihrer Nahrung zusetzt, in Ermanglung der roten Krebstiere, die sie in freier Wildbahn fressen. Im Zoo bewohnen sie eine große Wiese mit einem Teich. Egal wie lange man vor dem Zaun stehen bleibt, in der Gruppe kommt es nie zum Stillstand. Wie durch ein unsichtbares Band sind alle miteinander verbunden. Bewegt sich einer, hat das Einfluss auf den Nebenstehenden und dessen Reaktion wiederum Auswirkungen auf den Flamingo daneben. Besonders die Ranghöchsten fungieren durch das Austragen von Machtkämpfen wie gruppeninterne Motoren, die das pinkfarbene Gefüge in Bewegung halten. Synchron kommen sie in Brutstimmung und führen die Balztänze in einer Art Choreografie gemeinsam auf. Bewegt sich einer von der Wiese ins Wasser, folgen meist automatisch alle anderen. Die Vielzahl der unterschiedlichen Töne, die sie von sich geben, lässt auf einen hohen Grad an Kommunikation untereinander schließen.

Worüber unterhalten sie sich? Das Wetter, das Nahrungsangebot, dass der Tümpel stinkt oder Flamingo X sein Nest schlampig gebaut hat? Der Einzelne tut, was die Gruppe tut, und die Gruppe ist jeder Einzelne. Jeder Schritt, den sie machen, wird bestätigt oder sanktioniert durch die anderen. Sie bekommen immer Feedback, sie sind nie allein.

Und werden sie mal trübsinnig, weil man sie fluguntauglich gemacht hat und der Luftraum für sie unerreichbar geworden ist, so finden sie Trost in der Tatsache, dass sie nicht die Einzigen mit diesem Schicksal sind. Automatisch fühlen sie sich besser, spüren das enge Band zu den anderen.

Ungefähr so verhält es sich auch in einer italienischen Großfamilie auf dem Land mit begrenzten Mitteln, aber dem stillen Vertrauen darin, dass alles so ist, wie es sein muss, weil es immer so war.

Neben den Flamingos lebt der Gepard. Still und zurückgezogen hält er sich im Hintergrund. Man muss genau hinschauen, um das gut getarnte, regungslose Tier auf seinen favorisierten Ruheplätzen zu entdecken. Laufspuren auf der Wiese zeigen, er bewegt sich auf den immer gleichen Wegen. Niemand verleitet ihn dazu, vom bekannten Pfad abzuweichen. Mit niemand sind in erster Linie Beutetiere gemeint, denn die Weibchen sind in freier Wildbahn Einzelgänger und treffen nur zur Paarung auf die Männchen.

Da also das bei den Flamingos so den Alltag dominierende Sozialgefüge weitgehend fehlt, gibt es im Grunde nur den Hunger, der Bewegungsanreize gibt und immer rechtzeitig gestillt wird. Worin könnte sonst für den Gepard ein Anreiz bestehen, sich aufzuraffen, seinen Schritt auf die unglaublichen 120 km/h zu beschleunigen, zu denen er fähig ist? Weiß er überhaupt, was er kann? Weiß er, dass er der erfolgreichste Einzeljäger unter den Raubtieren ist?

Jetzt liegt er dort ausgestreckt auf der Wiese, rekelt sich in der Sonne. Er hört das schrille Geschnatter der Flamingos von nebenan, das für ihn, den stillen Savannen- und Steppenbewohner, einer unangenehmen Kakofonie gleichkommen muss.

Wie findet man heraus, zu welcher Art man gehört, wenn man es nicht spürt?

Gegen vier bin ich, wie verabredet, bei den Elefanten. Er sitzt auf einer Bank, die Beine übereinandergeschlagen und den Blick gedankenverloren geradeaus gerichtet. Ich habe das Gefühl, dass er schon länger dort sitzt und dass er auf keinen Fall wie jemand wirken will, der auf jemand anderen wartet. Ich setze mich neben ihn.

«Wollen wir einen Kaffee trinken?»

Langsam dreht er den Kopf zu mir herüber.

«Gerne», sagt er. Die Sonne blendet ihn, sodass er die Augen ein wenig zusammenkneifen muss. Es scheint, als verhindere einzig der feine, dunkle Rand um seine Iris herum, dass das Silber aus seinen Augen herausfließt und auf seine Kleidung tropft. Er steht auf, lächelnd, stellt sich nicht vor, reicht mir nicht die Hand, sondern weist mir nur höflich mit den Armen die Richtung zur nahe gelegenen Kaffeebude. Wir nennen der Dame hinter dem Tresen unsere Bestellung. Als sie die dampfenden Becher zu uns hinüber schiebt, will er bezahlen, dreht sich dann aber ruckartig zu mir herüber.

«Ich darf Sie doch einladen, oder?»

«Alles gut, vielen Dank», sage ich. Er lacht. Als ich meine Hand beruhigend auf seinen Unterarm lege, verebbt sein Lachen jäh. Dann nehme ich meinen Kaffee und schlage vor, ein wenig zu gehen, um eine Bank im Schatten zu suchen. Er nickt, sein Lächeln kehrt zurück.

«Jetzt sagen Sie schon, warum schlagen Sie die Zeit tot und das auch noch an einem Ort, den Sie verabscheuen?»

«Die Geschichte ist wahnsinnig lang. Ich würde sie langweilen.»

«Das glaube ich nicht. Außerdem lässt sich jede noch so komplexe Geschichte in drei Sätzen zusammenfassen. Versuchen Sie es. Bitte.»

«Gut. Geben Sie mir einen Moment.» Konzentriert blickt er in den halb leeren Becher. Nach einer Weile hebt er den Kopf wieder.

«Die Geschichte beginnt mit einer kurzen, aber überwältigenden Liaison mit einer wundervollen Frau. Mein größtes Glück war, sie getroffen und zu haben, und mein größtes Glück war auch, dass sie mich ...», er zögert, «... vollkommen überraschend und nicht nachvollziehbar wieder verlassen hat. Was folgte, waren, und jetzt werde ich ein bisschen theatralisch, um Sie neugierig zu machen, Schmerz, Verzweiflung, Dunkelheit, Explosionen und Zerstörung, einstürzende Hochhäuser, Lawinen, Kälte, Naturgewalten ...», seine Stimme wird weicher, «... Naturwunder, Weite, Höhe, Frieden und schließlich Zufriedenheit … und, zugegebenermaßen, mit diesem mittlerweile großen Abstand auf die Ausgangssituation, kam auch die Neugier, was wohl aus dieser eingangs erwähnten Frau geworden sein mag, die unwissentlich alles ins Rollen gebracht hat.»

Er sieht mich erwartungsvoll an.

«Und, wie war das?»

Ich bleibe stehen, schaue in sein von wahrscheinlich den eben beschriebenen Gewalten gezeichnetes Gesicht. Ich würde ihn gerne anfassen, weiß aber, dass es das falsche Signal wäre.

«Heute habe ich nichts mehr vor, Sie können also ganz vorne mit der Geschichte beginnen und lassen Sie bitte kein Detail aus.»

Er lacht erleichtert, trinkt seinen Kaffee in einem Zug aus und sagt: «Nein, jetzt will ich erst mal von Ihnen wissen, was eine junge, hübsche und, ich vermute mal, intelligente Frau wie Sie, täglich in diesem ...», er sieht sich um, «... in diesem künstlichen Mikrokosmos zahnloser und kastrierter Wildheit macht!»

Ich seufze laut. «Meine Geschichte ist ausgesprochen kurz: Ich weiß es nicht. Eigentlich weiß ich gerade gar nichts und ich frage mich, ob ich mir wünschen soll, dass mir auch einer mal so richtig das Herz bricht», ich schaue zu Boden trete mit dem Fuß nach den imaginären Bruchstücken, «der es mit Füßen tritt und bis zum Äußersten malträtiert, damit ich später Ähnliches vorzuweisen habe wie Sie. Im Moment ...», ich lache bitter, «... und auch in den Momenten davor, passiert in meinem Leben nämlich nichts. Überhaupt gar nichts.» Beim letzten Satz trete ich feste auf, wirble damit ein wenig Staub vom Boden auf.

«Und, um endlich Ihre Frage zu beantworten, ich bin hier, weil ich Tiere mag, meine Großmutter in der Nähe wohnt und ich auch irgendwie, irgendwo meine Zeit totschlagen muss.»

Er lacht laut. «Seien Sie beruhigt, ich habe KEIN Mitleid mit Ihnen. Aber eins kann ich Ihnen versichern, hier sind Sie am falschen Ort, genau wie ich.»

«Warum nochmal kommen Sie täglich her?», frage ich nach.

«Diese Frau, von der ich gesprochen habe, wohnt auch hier in der Nähe und ich dachte, ich fliege einfach von Zürich nach Köln, klingle an ihrer Tür, sage «Hallo», sehe, was aus ihr geworden ist, und fahre zufrieden, ein für alle Mal einen Haken an diese Geschichte gemacht zu haben, zurück zum Flughafen. Aber jetzt, wo ich hier bin, weiß ich nicht mehr, ob das eine gute Idee ist. Also brauche ich Zeit, um zu überlegen.»

Kurz bevor der Zoo seine Türen schließt, verabschieden wir uns. Ich umarme ihn kurz, spüre, dass er nicht wagt, seine Arme auch um mich zu legen. Er riecht nach Sommer und einem herben Männerdeo.

«Morgen um 15:00 Uhr werden im Aquarium die Piranhas gefüttert. Das sollten Sie auf keinen Fall verpassen», sage ich mit gespieltem Ernst.

«Auf keinen Fall. Dann also bis morgen. Hat mich sehr gefreut.» Ohne sich nochmal umzudrehen, verschwindet er langsam in Richtung Hauptausgang.

Habe keine Ahnung, wo Martha ist. Auf einen ungewöhnlichen Nachmittag folgt ein überaus gewöhnlicher Abend. Mein Laptop steht dabei mahnend auf dem Wohnzimmertisch. Das Fenster einer Suchmaschine füllt den kompletten Bildschirm aus. Der Cursor flackert ungeduldig und dennoch kann ich mich nicht überwinden, irgendeinen Suchbefehl einzugeben.

Stattdessen lasse ich mich dankbar vom Fernseher ablenken. In dem Film, der gerade läuft, hat eine Frau die Wohnungstür hinter sich geschlossen, um sich dann zielsicher auf klappernden High Heels an der nächsten Ecke einen Coffee-to-go zu kaufen. Sie dürfte ca. Mitte dreißig sein. Vor einer imposanten Großstadtkulisse, ich denke, es ist New York, bahnt sie sich ihren Weg durch die Menge zu einem sanierten Fabrikgebäude aus Ziegelstein, in dem ihr großer, weißer Schreibtisch steht. Sie setzt sich, ist die Erste im Büro, wirft sinnierend einen Blick durch das große Fenster auf die Skyline. Im Hintergrund dazu eine Musik, die ihr Einzelkämpfertum, ihre strenge Arbeitsdisziplin und die durch ein fehlendes Privatleben stetig vorhandene Traurigkeit untermalt. Schmerzlich wird mir klar, mir fehlt nicht nur die richtige Aufgabe, sondern auch die Identität.

Ich klappe den Laptop zu. Lieber verweile ich noch ein paar Tage in dem einigermaßen guten Gefühl, am Anfang der Suche zu stehen, vor mir das Meer der Optionen und hinter mir der trübe Tümpel, in dem ich bisher geschwommen bin.

Ich wechsle den Kanal, will etwas sehen, das in der Lage ist, mich wirklich abzulenken, aber vergeblich. Alles ist Anspielung oder Fingerzeig … oder es geht um Liebe.

Reflexartig schaue ich auf mein Handy. Vielleicht hat er mir geschrieben, durch hartnäckiges Recherchieren irgendwie einen Weg zu mir gefunden. Ich könnte Daniel selbst anrufen, aber was sollte ich sagen? Mit jeder Stunde, die seit unserer Begegnung im Zug vergangen ist, rückt er weiter in die Ferne, verschwindet er, der Schöne, und mit ihm ich selbst, die, die an diesem Tag so überraschend schlagfertig war.

Die Sonne ist hier anders

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