Читать книгу Dryade - Aline S. Sieber - Страница 11
San Francisco, Vereinigte Staaten von Amerika, 2012
ОглавлениеNico gehörte zu den Blutsklaven, die ausersehen waren, die Gäste zu erfrischen. Das gewährte ihm in den Tagen vor dem Fest eine gewisse Schonung. Den Vampiren war es bis zu jenem Tag verboten, ihn zu verletzen oder gar Gliedmaßen auszureißen. Er wusste nicht, ob sie so etwas tatsächlich vor hatten, aber er hatte Schreie gehört, die sich sehr danach angehört hatten. Nicht einmal gewundert hatte er sich darüber, so abgestumpft war er inzwischen schon. Er war sich nicht einmal sicher, ob er noch Gefühle entwickeln konnte, die nichts mit Schmerz und Leid zu tun hatten. Sein Inneres fühlte sich vollkommen leer an, ein Hohlraum, den nichts mehr zu füllen vermochte.
Die Erinnerung an die glücklichen Tage mit seiner Familie war nur noch eine ferne Erinnerung. Er hatte das Gefühl, täglich ein bisschen mehr zu sterben. Die Glücksgefühle, an denen er zehrte, waren an Szenen wie das Spielen mit seinen Schwestern gekoppelt. Er fühlte sich allein schon dadurch dreckig, dass er sie irgendwie auf diese Weise mit hierher brachte, hatte er doch das Gefühl, sie schon allein dadurch zu entweihen. Er war zu schmutzig, um sich überhaupt an sie erinnern zu dürfen.
Er hatte sich also einigermaßen glücklich geschätzt - bis er gemeinsam mit seinen Leidensgenossen in die Fabrikhalle gebracht wurde, in der die Orgie stattfinden sollte.
Die Wände wurden von Ketten verziert, in denen Gerippe hingen. Manchen von ihnen sahen nicht einmal menschlich aus. Auf dem Boden klebten Flecken getrockneten Blutes, das gerade von niederen Dienern der vampirischen Mafia beseitigt wurde. Vor dem Fest waren die Gefangenen also vor den Blutsaugern sicher – aber währenddessen standen sie zum Töten bereit. Ein kleines, verhutzeltes Männchen kam direkt vor ihnen vorbei, einen Eimer voller Schädel vor sich her tragend. In der anderen Hand hielt es einen zweiten Eimer mit ebenso vielen Kerzenstummeln. Offensichtlich sollte das Ganze als Dekoration dienen.
Nico zuckte zurück, als der Vampir an der Kette riss, an der sie aneinander gefesselt waren. Er stolperte vorwärts, darauf bedacht, nicht zu stürzen. Die Vampire rissen jeden in Stücke, der Schwäche zeigte. Ein Stück hinter ihm konnte sich ein Mädchen nicht auf den Beinen halten. Sie stürzte zu Boden. Ganz plötzlich wurde es totenstill in der Halle. Alle Anwesenden erstarrten. In den Augen der Vampire glitzerte es mordlustig, während Köpfe im Zeitlupentempo gedreht wurden. Dann, ebenso plötzlich, gab es kein Halten mehr. Ein Kreischen wurde laut, das animalischer nicht hätte sein können. Nico blieb still stehen, auch, als das Mädchen anfing, zu schreien. Ihre Hilferufe wurden immer schriller, bis sie schließlich immer noch ungehört verstummten.
Die Stimmung wurde drückender, je näher die Eröffnung der Feierlichkeiten rückte. Er konnte kaum noch atmen, so schwer erschien ihm die Luft. Nico versuchte, sich einzureden, dass das nur an den Ketten lag, die ihn straff an die Wand fesselten, doch er wusste es besser. In dieser Lage fühlte er sich mehr denn je den Vampiren ausgeliefert. Auf Gedeih und Verderb. Als die Glocke geschlagen wurde, die den Beginn des Ganzen kennzeichnete, hätte er beinahe vor Angst die Augen geschlossen. Doch während seine Lider sich schon senkten, besann er sich und riss sie wieder auf. Er durfte auf keinen Fall Schwäche zeigen. Nicht vor den Vampiren, die nur darauf warteten, über ihn herzufallen und ihn ebenso in Stücke zu reißen wie das Mädchen von vorhin. Als er sich umsah, registrierte er erleichtert, dass keiner der Blutsauger ihn gerade beobachtet hatte. Dann löste sich einer aus der Masse der Hereinströmenden und kam direkt auf ihn zu. Er grinste bösartig und Nico erkannte denjenigen, der ihn überhaupt erst gefangen genommen hatte. Offensichtlich wollte der Vampir die Früchte seiner Arbeit auskosten. Ausgiebig.
„Können wir uns den Dryaden für einen kleinen Obolus eine Weile ausleihen?“
Das Oberhaupt der Vampir-Mafia lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Pärchen vor ihm. Violet und ihr dichterischer Freund. Sadismus in seiner reinsten Form. Oh, es würde ihm Spaß machen, zu sehen, wie der Dryade gebrochen zu ihm zurück kriechen würde, um Gnade winselnd… aber zuerst würde er ein wenig mit ihnen spielen.
„Warum sollte ich das erlauben? Gibt es da einen besonderen Grund?“ Er zog eine Augenbraue hoch, um noch durchtriebener zu wirken. Was ihm durchaus gelang, wie er an ihren Blicken erkannte. Der Dichter gab ihm die Antwort: „Wir kennen uns nun schon ein ganzes Jahrhundert lang und sind beinahe genauso lange schon in deinen Diensten. Da dachte wir, heute wäre eine gute Gelegenheit, das ein wenig zu feiern.“
Was ihm allerdings zusagte. Aber er war noch nicht bereit, sein Katz-und-Maus-Spiel zu beenden.
„Lasst mich nachdenken. Wie viel wärt ihr bereit, dafür zu zahlen?“
Sie übernahm das Wort. „Zweitausend Dollar.“
Er überlegte kurz. „Verdoppelt das, und er gehört für zwei Stunden ganz euch. Schließlich arbeitet ihr ja für mich. Aber ihr müsst ihn am Leben lassen.“ Der Blick, den der Dichter seiner Freundin zuwarf, bestätigte ihn in seiner Meinung. Die beiden hatten mit einer weitaus höheren Summe gerechnet. Vielleicht hätte er mehr verlangen sollen? Aber jetzt war es zu spät. Ein Handel war, einmal ausgesprochen, nicht umkehrbar.
Nico konnte den Kopf kaum noch heben, so viel Gift pulsierte durch die zahlreichen Bisse in seinem Blut. Dadurch erblickte er das Vampirpärchen erst, als sie knapp vor ihm standen. Die Frau hob einen Schlüssel und öffnete damit seine Ketten. Dann hob ihn der Mann herunter und legte ihn sich über die Schulter. Die Menge teilte sich vor ihnen, als sie ihn weg trugen. Das Zimmer, auf das sie zusteuerten, stand den Gästen Zeit ihrer Anwesenheit zur Verfügung. Ihm wurde mulmig. Als die Vampirin dann seine schwachen Barrieren durchbrach, um in seinen Kopf einzudringen, fühlte er nichts mehr. Sie übernahm die Kontrolle.
„Da ist verdammt viel Gift in seinem Körper. Was erklärt, warum er sich nicht bewegt."
Ihr Begleiter nickte und setzte Nico ab. „Das sollten wir mindern. Sonst haben wir nicht halb so viel Spaß"
Violet durchforstete seinen Körper, wühlte erbarmungslos Erinnerungen auf, die er hatte vergessen wollen. Dann brachte sie ihn dazu, mehr Adrenalin auszuschütten, um die Wirkung des Giftes einzudämmen, das der Dryade nicht verarbeiten konnte. Da er bereits nackt war, bereitete ihr das weitere Vorgehen keinerlei Schwierigkeiten. Sie wandte sich an Philippe.
„Lass ihn uns zerstören, ja? Tu es für mich,“ setzte sie augenklimpernd hinzu. Philippe lächelte und trat hinter den Jungen, den sie hatte hinknien lassen. Mentaler und physischer Zwang waren nur zwei ihrer zahlreichen Talente. Sie genoss es, sie alle zur Befriedigung ihrer pervertierten Bedürfnisse auszuschöpfen…
Violet zog die Augenbrauen hoch, als sie das magische Potential des Dryaden entdeckte. Er war noch zu jung, um es nutzen zu können, soviel wusste sie bereits. Achselzuckend entkleidete sie sich und ihr Partner tat es ihr gleich. Er würde sich nicht wehren, keine Chance. Bei den Unmengen an Vampirgift, die sich in seinem Blut befanden, war es ohnehin wahrscheinlicher, dass er ihnen unter den Händen wegstarb. Kein Wunder, dass sein Preis so niedrig gewesen war. Dieser betrügerische Mafiosi musste gewusst haben, wie es um ihn stand.
Das machte sie nur noch wütender. Mehr Wut, die sie irgendwo auslassen musste…
Sie brachte ihn dazu, zu kommen, während Philippe ihn von hinten nahm. Als sie genug davon hatten, legten sie ihn auf den Boden, während sie ihr heißes Geschlecht an seinen Mund presste und ihn dann anwies, zu arbeiten. Es war umso befriedigender, dass sein Verstand noch vollkommen intakt war. Er war vollständig bei Bewusstsein, und er hasste sich selbst dafür.
Nachdem sie genug davon hatten, ihn sexuell zu erniedrigen, begannen sie, ihn zu foltern.
Die Knochen des Dryaden waren weitaus instabiler als die ihren. Es kam ihr vor, als würde sie Zahnstocher entzwei brechen. Sie tranken immer wieder von seinem Blut und ergötzten sich an den Schmerzen, die sie ihm zufügten. Die Kette, die ihn als Sklaven auswies, war ihnen dabei nützlich wie kaum etwas anderes. Sie hinderte ihn daran, vor Schmerz das Bewusstsein zu verlieren, bis der Zwang beinahe übermächtig wurde. Dann zwang sie ihn, aufzustehen und seine gebrochenen Knochen zu belasten. Plötzlich war es ihr unmöglich, den Dryaden zu erreichen. Seine Beine gaben unter ihm nach und er fiel zu Boden. Auch, als sie nach seinem Bewusstsein forschte, war da nichts mehr.
Nico sah durch seine halbgeschlossenen Augenlider, wie die Vampirin näher kam und ihren Mund an seinen Hals presste. Ihr Gefährte bearbeite mit der einen Hand das Geschlecht des Jungen so hart, dass es wehtat, während auch er die Zähne in das blutige Fleisch schlug. Der Dryade war nicht mehr fähig, sich zu rühren, so viel Gift pulste bereits durch seine Adern. Ein ersticktes Stöhnen kam aus seinem Mund.
Die winzige Bewusstseinslücke, die seine instinktive Reaktion ausgelöst hatte, gab der Vampirin wieder Zugang zu seinem Bewusstsein. Jedes Mal, wenn er wieder kurz vor der Ohnmacht stand, schlugen sie ihn, um ihn zurückzuhalten. Er stöhnte leise. Er glitt unaufhaltsam in die Dunkelheit, bis ihn nicht einmal mehr der stärkste Schlag davon abgehalten hätte.
Violet ließ von ihm ab und auch Phillip erhob sich. Sie küsste ihn auf den noch immer blutverschmierten Mund, bevor sie sie noch einmal ausgiebig liebten, um den Abend zu vervollkommnen. Dann zogen sie sich wieder an und verließen beide mit federnden Schritten den Partyraum, mit dem Wunsch, die soeben aufgenommene Energie gewinnbringend wieder abzubauen. Sie würden heute Nacht noch eine Menge Spaß haben, so viel war sicher.
„Seid Ihr sicher, dass er noch lebt?“ Der Gnom sah zweifelnd zu dem Vampir herauf, der ihn begleitet hatte, nachdem seine Artgenossen den Jungen nicht ordnungsgemäß wiedergebracht hatten. Immerhin, ihre zweistündige Frist hatten sie eingehalten.
Der junge Dryade lag blutüberströmt da, weder Atem noch Puls waren erkennbar. Seine Glieder standen in seltsamen Winkeln ab.
„Ich kann sein Herz schlagen hören.“
Mit einem Grummeln griff der Gnom nach dem reglosen Körper und zerrte ihn auf eine Art Schubkarre. Die Vampire, die dem bedauernswerten Geschöpf das angetan hatte, befanden sich jetzt sicherlich in einer Art Delirium.
Nico brauchte mehrere Wochen, um sich von der brutalen Behandlung Violets und ihres Freundes zu erholen. Am Anfang war er den Großteil des Tages ohnmächtig, aber als es schließlich ein wenig besser wurde, verlor er vor Schmerz fast den Verstand. Seine Knochen heilten nur langsam, vor allem, wegen des ungeheuren Blutverlusts. Da selbst die Vampire offenbar eingesehen hatten, dass sie eine ihrer wichtigsten Blutquellen verlieren würden, wenn sie ihn auch weiterhin benutzten, ließ man ihn eine Zeit lang in Ruhe. Dafür verfrachteten sie ihn sogar in eine Kammer, die nur ein paar Schritte von der entfernt lag, die sonst sein Gefängnis war, aber offensichtlich eine Art Lazarett darstellte. Ein paar andere Nicht-Vampire waren ebenfalls hier untergebracht, sie alle trugen die Handschrift von unmenschlicher Grausamkeit. Es gab sogar einen Patienten mit nur noch einem Bein, womit sich die schaurige Theorie der abgerissenen Gliedmaßen in der schlechtesten Weise bewahrheitete.
Als Nico wieder einmal zwischenzeitlich das Bewusstsein wiedererlangte, stupste ihn etwas seitlich an. Als er mühsam den Kopf drehte, sah er in die schräg stehenden Augen eines Mädchens. Auch bei ihr waren mehrere Gliedmaßen gebrochen, unter anderem beide Beine.
„Hallo, ich bin Linan. Wer bist du?“ Ein leicht rollender Akzent schwang in ihrer Stimme mit, der seinem eigenen ein wenig ähnelte.
„Nico.“
„Und was bist du? Oh, warte, lass mich raten!“
Sie musterte ihn von oben bis unten. Schwarze Haare, weiße Haut. Augen, die so groß und schwarz waren, dass sie unwillkürlich von ihnen gefesselt wurde. Ein schmaler, blauer Rand und das kaum sichtbare Weiß der Augäpfel… Eins seiner Augen war zugeschwollen von dem Schlag, der ihm dorthin verpasst worden war.
„Du bist ein Dryade, nicht wahr? Ein Eisdryade?“
„Wahrscheinlich, ja.“
„Du weißt es nicht?“ Ihr seltsamer Akzent war plötzlich fast verschwunden und sie sah ihn ernst an.
„Woher kommst du?“
„Weißrussland.“
„Aber wenn du aus Weißrussland kommst, musst du ein Eisdryade sein. Andere Wesen gibt es dort oben nicht. Du bist aber nicht sehr gesprächig, oder? “
„Nein. In der Regel nicht. Aber ich kann ja mal eine Ausnahme machen.“
Er wurde gleich darauf von einem Hustenanfall geschüttelt. Seine gebrochenen Rippen schmerzten fürchterlich.
„Ich habe sie sagen hören, dass dein Blut das schmackhafteste von uns allen ist. Wenn du nicht entkommst, werden sie dich töten. Das ist dir klar, oder?“
„Wie sollte ich denn entkommen. Es gibt niemanden, der mir helfen würde.“
„Was ist mit deiner Familie, Dryade? Die würde dich doch sicherlich freikaufen.“
„Sie wissen nicht, dass ich hier bin.“
„Oh, das ist aber traurig. Meine Familie steht bereits in Verhandlungen mit den Vampiren. Wenn sie nur genug zahlen, komme ich auch hier raus. Hexen machen das so.“
„Du bist eine Hexe?“
„Ja, was glaubst du denn, Dryade? Ich bin schon einmal kein Vampir, wäre ich ein Werwolf würdest du es merken, ich bin auch nicht wie du und einen Fischschwanz habe ich auch nicht. Es bleibt also nicht viel übrig.“ Tatsächlich blieb noch eine ganze Menge übrig, und das wusste sie.
„Entschuldige.“
„Und ich glaube, dir täte es besser, wenn du auch weiterhin den Mund hältst. Sei mir nicht böse, aber du siehst scheiße aus.“
Er versuchte ein Lächeln, stöhnte dann aber vor Schmerz, als seine Schläfen zu pochen begannen. Unter Linans prüfendem Blick wurde er ein weiteres Mal ohnmächtig.
Nico erwachte aus seinem Halbschlaf, als sein Bett sich ruckartig bewegte. Er zuckte zusammen und stöhnte vor Schmerz. Langsam öffnete er die Augen. Ein Vampir beugte sich über ihn. Er musterte gierig Nicos pochende Halsschlagader. Nur kurz schweifte sein Blick ab und streifte die Augen des Jungen.
„Ich habe schon viel zu lange gewartet. Wenn ich nicht endlich dein Blut bekomme, drehe ich durch!“
Es gab Vampire, die so viel Blut zu sich genommen hatten, dass sie davon wahnsinnig geworden waren, und einen unstillbaren Hunger nach immer größeren Mengen Blut entwickelten. Sie starben in der Regel recht schnell, weil sie unvorsichtig wurden. Nico war sich sicher, ein solches Exemplar vor sich zu haben. Sein rational denkender Verstand fiel aus, als er dem Kerl weiterhin in die Augen starrte. Die Panik brach durch, als er versuchte, sich auf irgendeine Weise zu wehren, wie auch immer…und es ihm einfach nicht gelingen wollte. Er versuchte krampfhaft, seine Hände zu heben, um den Vampir fortzustoßen, doch dann stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass seine Hände ans Bett gekettet waren. Trotzdem hob er sie, soweit es ging, um den Blutsauger von sich weg zu schieben. Als seine Handflächen den Körper des Vampirs berührten, schlug dieser ihn ins Gesicht. Sein Kopf flog herum. So sah er, dass Linan ihn beobachtete. Der Vampir beugte sich über ihn und schlug seine Zähne in Nicos Hals. Seine Augen verdrehten sich nach oben. Das Gift wirkte schnell und setzte ihn außer Gefecht.
Als er diesmal erwachte, schmerzten die Farben in seinen Augen. Das Licht war zu grell, die Geräusche zu laut. Er ertrug es kaum, dass Bettlaken auf seinem beinahe nackten Körper zu spüren. Als er die Augen wieder schließen wollte, kniete sich eine Vampirin neben sein Bett, die ihn kritisch musterte. Sie schob eine Hand unter seinen Kopf und hinderte ihn so daran, zur Seite zu kippen. Die Welt drehte sich vor seinen Augen.
Ihr blutroter Blick flog über sein Gesicht, huschte dann aber weiter zu seiner Halsschlagader.
„Er hat es überlebt. Gerade so.“ Im Hintergrund erklangen Schreie. Er hörte, wie etwas dumpf auf den Boden fiel und noch weiterrollte. Er meinte sogar zu hören, wie Blut an die Wand spritzte. Seine Augenlider waren so schwer, dass sie wieder zu fielen.
„Linan?“
Sein erster Gedanke war, dass sie gesehen haben musste, wie der Vampir sich auf ihn gestürzt hatte. Doch als er den Kopf nach links drehte, war das Bett leer.
„Sie ist tot.“, erklang es von der anderen Seite des Raumes. Nico erschauderte.
„Was?“
„Sie hat versucht, abzuhauen, nachdem der Blutsauger dich attackiert hat. Ist ihr nicht gut bekommen.“
Nico schloss wieder die Augen. Linan war also tot. Er hatte sie als so etwas wie seine Freundin betrachtet. Außerdem war sie die einzige gewesen, die ihm möglicherweise mehr über sein Wesen erzählen hätte können. Tot. Als er das Wort dachte, fügte sein Unterbewusstsein einen weiteren Satz hinzu: Das wirst du auch bald sein.
Leider war die Erholungspause auf der Krankenstation viel zu kurz. Sobald er wieder länger bei Bewusstsein blieb und genug Blut produzierte, holten die Vampire ihn wieder ab, um ihn erneut in die Kammer zu stecken, in der er auch zuvor schon gefangen gehalten worden war. Sie zerrten ihn aus dem Bett und trieben ihn dort hin, als wäre er nicht besser als ein Tier.
„Bist du wahnsinnig?!“
Nico hörte den Ausruf des fremden Vampirs nur noch undeutlich. Er zitterte vor Blutverlust, während der, der bisher über ihm gekniet und sein Blut gesaugt hatte, sich aufrichtete. Die Hand des Jungen zuckte kurz, als der andere die offene Wunde berührte, die einmal sein Bauch gewesen war.
„Du bringst ihn um.“
„Seit wann stört dich das?“
„Seit ich entdeckt habe, dass das Blut von Eisdryaden derart nahrhaft ist. Tu was du willst, aber lass ihn am Leben.“
Noch bevor ihm endgültig die Sinne schwanden, spürte er den Geschmack von Blut im Mund. Eisdryade? Dann hatte Linan Recht..
„Nein!“, murmelte er.
Der Vampir brachte ihn zum Schlucken, dann wurde es schwarz.
„Darf ich dir helfen?“
Ein weiterer Vampir war vor ihm niedergekniet. Der hier sah zwar jünger aus, aber er war nichtsdestotrotz ein Vampir. Nico wich zurück. Wieder wurde ihm schlecht. Der andere drehte kurz den Kopf, um sich zu vergewissern, dass da niemand mehr war.
„Sch. Ganz ruhig. Ich tu dir nichts.“
Dann wiederholte er noch einmal seine Frage, langsam diesmal.
„Darf ich dir helfen?“
Das hier war ein Vampir, ein Vampir, der ihn höchstwahrscheinlich schlagen würde – oder Schlimmeres – wenn er das Angebot annahm…Aber er hatte solche Schmerzen. Er konnte nicht mehr klar denken, sich nicht bewegen, ohne dass er vor Schmerz zu wimmern begann…
Nico nickte ein klein wenig.
Schlimmer konnte es nicht mehr werden, selbst wenn das hier eine neue Masche war, die sie an ihm ausprobieren wollten. Der Vampir rückte zu ihm hin und legte ihm die Hände auf.
„Wie heißt du?“
„Nicolai Sierewski.“
„Sierewski? Sibirien, richtig? Ich werde versuchen, deine Familie zu verständigen. Wo kann ich die finden?“
Nico schwieg. Auch, wenn der Vampir ihm jetzt half, war es möglich, dass er das nur tat, um an seine Familie heranzukommen, und das würde er auf keinen Fall zulassen. Der Vampir warf ihm einen undeutbaren Blick zu, den Nicolai als Bedauern interpretierte. Erstaunlicherweise hörte der Vampir nicht auf mit dem was er tat, sondern fuhr fort.
„Ich bin Henry. Geht es dir jetzt besser?“
Nico überprüfte, ob das der Fall war und stellte überrascht fest, dass es stimmte. Seit dem Vorfall mit Violet war das das erste Mal, dass er keine Schmerzen hatte. Er nickte.
Der Vampir sah ihm noch einmal kurz in die Augen, nickte, stand dann auf und verschwand. Er würde Hilfe holen.
Die Tür flog nur Sekunden später auf. Der Vampir stürmte herein und sah sich um. Er roch die Teleportation.
„Wer war das?“
Sein Peiniger kam näher und riss ihn hoch. Die Ketten, mit denen er neuerdings gefesselt war, klirrten. Er konnte fühlen, wie sein Knochen splitterte, als der Vampir ihm ins Gesicht schlug. Blut lief ihm übers Gesicht, der Schmerz war sofort wieder da. Es war, als wäre der Fremde nie hier gewesen. Voller Wut schleuderte der Vampir ihn gegen die Wand. Beim Geräusch splitternder Knochen wurde Nico schwarz vor Augen.
Er erwachte schreiend. Der Vampir kniete über ihm und hielte seinen Kopf fest, während er mit der freien Hand nach dem Auge des Jungen griff. Dann hatte er es gefunden und bohrte seinen Finger hinein. Der Schmerz war das Grässlichste, was Nico bisher erlebt hatte. Der Vampir riss an dem Auge. Plötzlich war da nur noch Blut. Der Vampir war nicht so gnädig, ihm zu erlauben, das Bewusstsein zu verlieren. Nico hörte ein unmenschliches Schreien, das ihm in den Ohren schmerzte. Er erkannte es nicht als sein eigenes. Erst, als er kaum noch Knochen im Leib fühlte, die nicht gebrochen waren, verschlang ihn die lindernde Schwärze.
Henry war schon zu weit weg, um die Schreie zu hören. Er materialisierte sich direkt neben Chris, das angstverzerrte Gesicht des Dryaden noch immer klar vor Augen. Der Junge hatte Todesangst gehabt. Er kam immer, wenn er in der Gegend war, in die Lagerhallen. Die Vampirmafia in San Francisco hielt Blutsklaven, seit sie existierte. Er heilte, wo er nur konnte, nur, um am nächsten Tag oder in der nächsten Woche erfahren zu müssen, dass seine Patienten gestorben waren. Er wusste, dass sie ihn irgendwann vermutlich erwischen würden und in diesem Fall blühte ihm kein besseres Schicksal als den armen Kreaturen, denen er half. Deswegen konnte er immer nur sehr unregelmäßig kommen, um keine Spuren zu hinterlassen. Aber die Wesen, die dort gefangen gehalten wurden, erlebten das schlimmste Schicksal, das er sich nur vorstellen konnte. Selbst ein Heiler war gegen die Alpträume nicht gefeit, die ihn nach einem solchen Besuch oft noch wochenlang heimsuchten.
Chris schlang von hinten die Arme um ihn.
Du hast es wenigstens versucht. Und jetzt hast du ja mich.
Henry grinste und drehte sich um, um seinen Freund auf den lächelnden Mund zu küssen. Es war noch immer ein wenig seltsam, die Gedanken eines anderen so einfach mithören zu können, aber er bekam allmählich Übung darin.
Nico merkte, dass er sich veränderte. Zunächst hatte er es der unverhofften Heilung durch den Vampir zugeschrieben, aber seit der andere Vampir ihm das Auge heraus gerissen hatte, war er viel schneller geheilt als vorher. Sehr zum Vorteil der Vampire, schließlich hatten sie so mehr Gelegenheiten, ihn zu benutzen. Es musste daran liegen, dass er sich wandelte. Etwas in der Art. Er war schließlich nicht dumm; Nico konnte spüren, wie er schneller gesund wurde. Er fühlte sich auch nicht mehr so schwach, als wäre er dem Tod für einen Moment entronnen. Was eine irrsinnige Hoffnung war, wie er wusste, weil die Vampire es ebenfalls bemerkt hatten und ihn nun nur noch besser bewachten.
Ihr Gift wirkte nicht mehr so stark auf ihn. Sehr zu seinem Leidwesen dauerte es nun länger bis er bewusstlos wurde und zog so auch seine Qual in die Länge. Und sie hatten ihm das angetan, verflucht sollten sie sein. Er ahnte, dass er auf irgendeine Weise anders als vorher auf das Gift reagierte. Sie würden ihm zwar nicht die Zeit lassen, es herauszufinden, aber entweder er entwickelte eine Art Immunität...oder das hier war die Ruhe vor dem Sturm, auf die etwas noch Schlimmeres folgen würde.
Wenn er allerdings dem unguten Bauchgefühl Glauben schenkte, dass er bei alldem hier hatte, dann musste er noch einen weiteren Faktor in Betracht ziehen. Sie ließen ihm zwar nicht besonders viel Zeit zum Nachdenken, besonders, da er sich zu Tode fürchtete, wenn er auch nur daran dachte, was als Nächstes auf ihn zukommen würde, aber in der Kürze der Zeit war er trotzdem zu einem Resultat gekommen.
Es konnte sein, dass er mit dem Blut des Vampirs auch noch etwas anderes in sich aufgenommen hatte. Etwas, das sich nun in ihm ausbreitete und wucherte wie Unkraut.
Etwas, das ihn zu einem Teil ihrer bizarren Gesellschaft machte.
Ihm graute nur noch mehr, wenn er daran dachte.
Seit sie entdeckt hatten, dass nicht nur das Blut des Dryaden ihnen Geld bringen konnte, verschacherten sie ihn stündlich. Nachdem die Besucher wieder gegangen waren, überprüften die Vampire ab und an, ob er noch lebte, und wie viel Blut er noch entbehren konnte, bevor sie den oder die nächste vorließen.
Ihm schwante, dass sie ihn irgendwann einfach tot vorfinden und dann als Sondermüll entsorgen würden. Sein Körper war allerdings schon viel zu lange ein Frack, als dass Nico sich besondere Sorgen um diesen Umstand machen konnte.
Er wünschte sich einfach nur, dass es irgendwann vorbei war…
Die Misshandlungen waren inzwischen so schlimm, dass Nico den Hauptteil des Tages in einem Dämmerzustand verbrachte. Er war zu schwach, um sich zu wehren, als sie ihm Drogen spritzten. In gewisser Weise retteten sie ihm damit das Leben, denn er war sich sicher, dass er verrückt geworden wäre, wenn sie ihn nicht betäubt hätten. Andererseits tat sein Körper so weh, dass er jedes Mal erneut gelinde Überraschung verspürte, wenn er überhaupt noch etwas fühlte. Plötzlich nahm er nicht nur einen, sondern gleich mehrere Vampire wahr, die von seinem Blut tranken.
Sie verkauften sein Blut und seinen Körper zu einem bestimmten Preis. Nur die engsten Mitglieder der mythischen Mafia bekamen den lebenspendenden Saft umsonst, während die Arschkriecher es als Belohnung erhielten. Alle anderen mussten horrende Summen dafür bezahlen.
Die Vampire kamen nicht mehr so oft. Im Gegensatz zu ihrem sonstigen Benehmen rannten sie hektisch durch die Gegend. Nico konnte ihre Schritte draußen auf dem Flur hören. Außerdem hörte er die Schreie.
Es hatte angefangen, als der Mond draußen seinen Zenit erreicht hatte. Das wusste Nico, weil er es fühlen konnte, wie er es schon immer gefühlt hatte. Vor Erschöpfung fiel sein Kopf auf die Brust. Es war unmöglich, gegen all das gewappnet zu sein. Er hatte langsam das Gefühl, als würde mit jedem Biss ein Stück seiner Seele schwinden. Die Schreie draußen kamen näher. Als die Tür aufflog wurde ihm plötzlich klar, was sie bedeuteten. Die Vampire verließen dieses Lager – und töteten alle Blutsklaven. Eine Hand packte sein Kinn und hob es an.
„Der hier lebt noch.“
Der Vampir fletschte die Zähne und biss ihn. Kurz, bevor er die Kontrolle über seinen Körper verlor – wieder einmal – hörte Nico einen anderen rufen:
„Ihn nicht!“
Die folgende Erklärung drang nicht mehr zu ihm durch.