Читать книгу Dryade - Aline S. Sieber - Страница 13
Sibirien, 2014
ОглавлениеEs hatte viele Wochen lang gedauert, bis Nicos Wunden soweit geheilt waren, dass die Brüder abreisen konnten. Obwohl Matt es nie ansprach, wurde Nico bald klar, dass sein Bruder ihn nur als zusätzliche Last betrachtete, nicht mehr als einen geliebten Angehörigen. Das tat weh. Sein Körper, der jetzt einem Halbwesen gehörte, mochte geheilt sein. Doch seine seelischen Schäden wurden in diesen Wochen nur noch größer. Als Matt seinem Bruder schließlich eine Augenklappe schenkte, die seine Gebrechen mehr hervorhob als verbarg, zerbrach die Bindung zwischen den beiden endgültig.
Das sibirische Dorf, in das sie schließlich zogen, stellte sich als Silbermine heraus. Die Bewohner nahmen Nicos Anwesenheit zur Kenntnis, mieden ihn aber dennoch wie die Pest. Mit fast zwanzig Jahren war Nico so einsam wie nie zuvor. Dabei war sein Zustand nicht einmal seine Schuld. Egal, was Matt sagte, er würde es nicht hinnehmen, selbst daran schuld zu sein.
„Was bin ich, Matt?“
Er hatte seinem Bruder die Frage gestellt, sobald er damals wieder zu sich gekommen war. Diese Wesen hatten sein Blut getrunken und ihn geschlagen. Nico wollte wissen, warum. Er befürchtete, die Antwort schon zu kennen, denn das Wort Eisdryade hallte in seinem Kopf wider, nachdem Linan es ihm gesagt hatte. Während der zahllosen Nächte, die er in der Vampirhölle schlaflos verbracht hatte, hatte es den Schmerz gelindert, zumindest ein wenig. Jetzt jedoch pochte und pulsierte es in seinem Kopf als wolle es heraus.
„Warum bin ich so?“
Matt wusste, was sein Bruder meinte. Die Antwort kam dennoch nur unwillig.
„Du bist zur Hälfte Eisdryade. Das hast du von unserer Familie vererbt bekommen.“
„Und was ist das?“
Matt wurde ungeduldig.
„Dein Element ist das Eis, Bruder. Du bist so eng mit ihm verwachsen, dass zu starke direkte Sonneneinstrahlung dich binnen Minuten tötet. Die Wandlung zum Dryaden beginnt bei jedem Heranwachsenden unserer Art mit Beginn des siebzehnten Lebensjahres. Jeder hat andere Fähigkeiten, die sich im Laufe der Jahre vollends entwickeln; ich zum Beispiel kann den Schneesturm rufen. Unsere Kräfte sind wie das Wasser vom Mond abhängig. Bei einer vollkommenen Mondfinsternis bist du also machtlos. Reicht das?“
„Aber ich bin nicht normal, oder? Nicht mehr.“
Nicolai wurde traurig. „Ich bin anders.“
Sein Bruder bestätigte es ihm. „Du bist anders. Ich kann nicht sagen, wie sehr. Trinkst du Blut?“
„Nein!“ Die Unterstellung war infam, vor allem nach dem, was ihm die Vampire angetan hatten.
„Dann ist es ja gut. Aber eins sage ich dir, Nico: Mach mich nicht für deinen Zustand verantwortlich! Du hättest damals nicht kommen müssen.“
„Natürlich musste ich! Sie haben Dad ins Krankenhaus gebracht! Du musstest es doch wissen!“
Der Halbdryade war entsetzt; sein Bruder stellte alles in Frage, woran er die vergangenen Jahre lang geglaubt hatte. Matt erwiderte kalt seinen Blick. „Es ist nicht meine Schuld. Lerne endlich, damit zu leben.“
Er drehte sich wieder weg. Dabei wusste er, dass es genau das war, was er gegenüber seinem Bruder empfand: Schuld. Er konnte Nicolai nicht einmal ansehen, ohne zu wissen, dass er dafür verantwortlich war. Aber deswegen würde er es noch lange nicht zugeben!
„Was ist mit ihnen passiert? Unserer Familie, meine ich. Werden wir zu ihnen gehen?“ Er sehnte sich so schmerzlich danach, sie wiederzusehen, hoffte so sehr, dass sie ihn nicht auch wie einen Ausgestoßenen behandeln würden - so, wie Matt es tat.
„Sie sind alle tot. Du und ich sind die einzigen Überlebenden.“
Nico wurde noch kälter als ohnehin schon. Seine Welt zerbrach in tausend Stücke. Ihr Aufkommen auf dem Boden hörte sich in seinen Ohren an wie zersplitternde Hoffnung. Sein Magen zog sich so schmerzhaft zusammen, dass er kaum sprechen konnte.
„Aber – alle? Selbst Olga und Wera? Konstantin?“ Seine Schwestern waren erst vier gewesen, sein kleiner Bruder elf. Sie hatten doch so gern miteinander gespielt, hatten auch mit ihm gespielt. Und seine Mutter hatte sie beschützt. Er wusste, dass sie es sogar dann noch getan hatte, als sein Vater nicht mehr da gewesen war. Es konnte doch nicht sein, dass sie plötzlich alle nicht mehr da sein sollten?
„Jeder von ihnen ist tot.“
„Warum? Wie?“
Mattheus explodierte.
„Hör verdammt noch mal auf, immer nach dem Warum zu fragen! Du bist neunzehn nicht neun!“, schrie er ihn an. Nico wich verängstigt ein Stück zurück. Matt wurde klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er zwang sich, die Stimme wieder zu senken. Sein Bruder hatte fast drei Jahre in Gefangenschaft verbracht. Und egal, was er gesagt hatte, es war nicht Nicos Schuld. Genauso wenig wie das Massaker an ihrer Familie. Es tat Matt einfach schrecklich weh, zu sehen, wie sehr die Vampire seinen Bruder zerstört hatten. Er erinnerte sich noch immer an den freundlichen, zu Scherzen aufgelegten, unschuldigen Sechzehnjährigen, den er als Letztes gesehen hatte. Dieser neue Nico, beziehungsweise jener Rest, den die Vampire von ihm übrig gelassen hatten..Er konnte sich einfach nicht überwinden, diesen Nico anzunehmen, die vampirische Hälfte zu akzeptieren, die sein Bruder jetzt in sich trug. Denn damit würde er akzeptieren, dass sein Bruder nie wieder so werden würde, wie er einmal gewesen war.
Allerdings hatte sein Bruder ein Recht darauf, zu erfahren, wie seine Familie gestorben war.
„Einige Vampire haben unser Versteck aufgespürt und alle getötet. Ich hatte nur Glück, weil ich dich zu diesem Zeitpunkt gesucht habe.“ Er hob die Hand, um sie auf die Schulter seines Bruders zu legen, doch der zuckte zurück.
„Ich werde dich nicht schlagen, Nico. Es tut mir leid.“
Regungslos blieb der Jüngere, wo er war. Er zog sich aber auch nicht zurück, als Matt näher kam und ihn an sich zog. Nicolai mochte zwanzig und erwachsen sein, doch er hatte gerade die schlimmste Zeit seines Lebens hinter sich gebracht. Matt strich in einem Anfall von Zärtlichkeit über den rabenschwarzen Kopf seines Bruders. Der erwiderte die Umarmung nun. Auch, wenn Nico schon mehr als einen Meter achtzig maß, war Matt an die zwei Meter groß.
„Wir fangen irgendwo neu an, das verspreche ich dir.“
Damals hatte er das noch geglaubt. Erst nach monatelanger Suche wurde auch Nico klar, das Matt sein Versprechen nicht halten konnte.
Es war November, als es passierte. Die Vampire führten ihren endlosen Krieg gegen die Werwesen in eine neue Runde. Es dauerte nicht lange, bis die Dryaden sich geeinigt hatten, Nico aus ihrer Mitte auszustoßen, befürchteten sie doch, er könne sie ausspionieren.
Zumal Matt immer größeren Einfluss gewann und zu einem ihrer Führer wurde. Die restlichen Dryaden suchten sich einen Tag aus, an dem Matt mit Jagen an der Reihe war, um sich Nico vorzuknöpfen. Der Halbvampir kam seinen Aufgaben nach wie jeder andere auch, aber seine bloße Anwesenheit verstörte die anderen. Selbst die Luft wurde in seiner Gegenwart merklich kühler und in seiner Stimme schien Eis zu klirren. Die Augenklappe verschreckte die Kinder.
Diesmal hatten sie vor, ihn wirklich zu töten. Zwar wurde Nico noch gebeten, mitzukommen, und wehrte sich auch nicht, als sie ihm Ketten anlegten, doch als die Masse ihn in Richtung der Höhlen zerrte, sträubte er sich. Er versuchte, das Dorfoberhaupt zu fragen, doch Aaron tat so, als höre er ihn nicht.
„Wo bringt ihr mich hin? Was wollt ihr?“ Er erhielt keine Antwort.
Nico versuchte, sich loszureißen. Er zerrte an den Kettenglieder, um der Dunkelheit zu entgehen. Nein! Die schweigende Menge begleitete ihn tiefer und tiefer in den Berg, wo sie ihn anketteten und zurückließen. Ihn hier verhungern zu lassen war ein grausamer Tod, und auch einer, der lange dauern würde, doch das wussten sie nicht. Nico sah zu, wie sie die Höhlen wieder verließen und bereute, mit ihnen gegangen zu sein.
Die Dryaden schützten nur ihre Art. Mischwesen wie er waren ihnen ein Gräuel. Nicos schwarze Haare verschmolzen mit der Finsternis, als die Fackeln seinem Blickfeld entschwanden.
Er war allein.
Die Finsternis um ihn herum schien ihn zu ersticken wie die Vampire es mehrmals versucht hatten. Es fühlte sich so an, als würden sie darin lauern, nur darauf wartend, dass er sich eine Blöße gab, um ihn in Stücke zu reißen.
Nico erinnerte sich daran, dass auch die Kammern, in denen sie die Leichen und Todgeweihten gelagert hatten, immer pechschwarz gewesen waren.
Der Schmerz begann als Kribbeln in den Fingerspitzen und erfasste seinen ganzen Körper. Sie hatten ihn tatsächlich zurückgelassen, abgelegt wie ein nutzloses Spielzeug. Er meinte plötzlich, die rotglühenden Augen der Vampire in der Dunkelheit auf sich gerichtet zu spüren. Spürte, wie aus dem Nichts Finger nach ihm griffen, roch frisches Blut in der modrigen Höhle. Nico konnte es nicht länger ertragen. Er kniff die Augen zu und riss sie nur eine Sekunde später wieder auf. Schlechte Idee. So sah er ihre Gesichter vor sich, die weißen Zähne zum Angriff gebleckt. Er öffnete den Mund, eigentlich nur, um Luft zu holen. Heraus kam ein Schrei. Er konnte nicht aufhören, hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Erst, als er keine Stimme mehr hatte, versiegte das Geräusch. Die Stille selbst klang atemlos. Die Ketten um seine Arme und Beine verstärkten den Eindruck noch. Er war gefangen, hilflos ausgeliefert. Sie hatten extra abgewartet, bis sein Bruder abwesend war, um ihn hier verhungern zu lassen. Wenn er Glück hatte, war er bei Matts Rückkehr noch am Leben. Und sein Bruder wollte ihn hier rausholen.... Er dachte an seinen Vater. Der hätte ihm geholfen. Weil er ihn geliebt hatte. So wie der Rest seiner Familie. So, wie es Matt offenbar nicht länger möglich war. Der nächste Schrei brandete in ihm auf, sammelte sich hinter seinen Lidern und brannte sich seinen Weg nach draußen. Es war kaum noch etwas zu hören.
Es sollte einige Tage dauern, bis sein Bruder von der Jagd zurückkehrte, und noch länger, bis der die Dorfbewohner überzeugt hatte, Nico wieder in die Freiheit zu entlassen.
Es gab nicht viele Dinge, für die der Halbdryade seinem Bruder im Rückblick dankbar war, aber dieses war eines davon.