Читать книгу Die Bargada / Dorf an der Grenze - Aline Valangin - Страница 5
I. Der seltsame Hof
ОглавлениеVor dem letzten, hochgelegenen Dorfe des Tales springt zwischen zwei Schluchten eine schön gerundete Anhöhe breit und frei ins Land hinaus. Sie ist von ferne und weit herum sichtbar. Die ersten Sonnenstrahlen vergolden ihre Kuppe, und sie glänzt noch im Abendschein, wenn alle andern Halden und Hügel längst im Schatten liegen. Es ist die Bargada, der schönste Bühl der ganzen Gegend.
Doch die Schluchten, die sie begrenzen, sind düstere Orte. In der ersten, der Bocca delle Torre, treten die Flühe wie riesenhafte versteinerte Burgen mit Zinnen und Türmen im Rund auseinander zu ödem Kessel. Ein Bach braust hindurch. Wo er sich staut, bevor er in kühnem Sprung als Wasserfall tosend in die Tiefe stürzt, führt eine Brücke darüber. Man nennt sie die Turmenbrücke.
In der zweiten, dem Dorfe näherliegenden Schlucht, stoßen Felsschichten schräg und so nah aufeinander, daß nur eine Spalte offen bleibt, zu eng, um eine Hand hineinzulegen. Doch müssen sich innen Räume ausweiten, denn nie verstummt da dumpfes Rauschen von strömendem Wasser. Aus der Spalte fallen Tropfen mit hellem Klang in einen flachen Steintrog, neben dem Blöcke zu einer Bank aufgeschichtet sind. Im dreieckigen Plan davor wuchern Farnkräuter, fette Vergißmeinnicht und andere Schattenpflanzen. Das Gras steht hoch. Auch allerlei Getier, das Feuchte liebt, hat hier sein Revier. Niemand stört es. Niemand würde sein Vieh dort tränken, niemand dort rasten. Der Grund ist gemieden, so einladend er aussieht und obwohl dort die Brücke beginnt, über die es dem Dorfe zugeht. In ihrem Bogen hängt mit verkralltem Gebein das Gerippe eines Fuchses. Das Tier soll vor Zeiten hier aufgeknüpft worden sein, um böses Gelichter zu bannen. Die Brücke heißt darum: Ponte della Volpe, Fuchsenbrücke. Gleich weit entfernt von beiden Tobeln, nahe der Fahrstraße, steht ein großes, in guten Ausmaßen erbautes Haus. Es schaut aus vielen Fenstern stolz nach Süden. Unter dem kassettenverzierten Vordach ist ein blau schabloniertes griechisches Muster als Fries zu sehen. Der übrige einst hellrote Anstrich ist schlecht erhalten bis auf ein gemaltes Fenster im zweiten Stock, das, der Wirklichkeit täuschend nachgeahmt, eine geschickte Hand noch erkennen läßt. Neben dem stattlichen Balkon in der Mitte der Front sind Sprüche zu erraten: «Besser beneidet als bedauert» und «Wen der Herr liebt, den züchtigt er».
Zum Haus gehören größere und kleinere Nebenbauten, Ställe und Speicher, fast alle zerfallen. Der Garten zieht sich in zwei Terrassen dem Berg entlang. Er wird gegen die Straße von einer hohen Mauer gestützt, auf der Steinvasen in klassischem Stil prangen. Einige davon sind umgestürzt oder geborsten, andere von Rosengebüsch und Geißlaub überwachsen. Oben im Garten lehnt an einem Baum ein altes Gartenhaus. Gleich dahinter beginnen sanft geneigte Wiesen. Sie steigen, allmählich steiler werdend, bis zu senkrechten Felsen an, die das ganze Gebiet nach oben verrammeln. Auch unterhalb des Hauses liegen Matten und Felder, die rasch in Gehölz, Gestrüpp und Heide übergehen, da der Abhang immer steiniger wird und in einer abfallenden Wand endet.
In frühern Zeiten, als nur Saumpfade ins Tal hinauf gingen, war die Bargada, von Felsen oben und unten, links und rechts abgeschlossen, mühsam zu erreichen gewesen, und ihre Lage hatte den Armini, die seit Gedenken ihre Besitzer waren, ein abgesondertes Leben aufgezwungen. Seit aber die neue Fahrstraße über die Brücken auf das Anwesen führte, stand der Hof in bequemer Verbindung mit dem übrigen Tal und der weitern Welt. Obgleich keine äußere Veranlassung mehr bestand, sich abseits zu halten, blieben die Armini für sich. Ebenso pflegten die Leute vom Dorf wenig Umgang mit ihnen. Das hatte seine Gründe, doch suchte man danach, waren sie verwickelt und im übrigen nicht derart, daß man frei hätte darüber sprechen wollen. Man begnügte sich, festzustellen, es sei von jeher so gewesen; das war ja Grund genug, es weiter so zu halten.
Immerhin übten die Dörfler von ferne und scheinbar unbeteiligt eine neugierige Aufsicht über die Bargada aus, gehörte sie doch zu den auffallendsten Anwesen des Tales. Nirgends stand das Gras so fett, reifte das Korn früher und wurden die Kartoffeln größer. Im Garten prangten die Pfingstrosen zweimal so dick wie anderswo, und oben, am Gartenhaus, wuchs eine Rebe, ein echter Weinstock, der nicht nur blühte, aber dunkelblaue, süße Trauben trug, wennʼs Jahr gut war. Er galt als der höchstgelegene Weinstock im Land. Daß er gerade auf dem Boden der Armini stand, daß überhaupt alles auf diesem Boden so viel besser gedieh, als auf anderer Leute Boden, war das nicht sonderbar? Sonderbar und nicht unverdächtig. Gewiß, man hörte nicht mehr auf das Geplapper der Alten, die wissen wollten, die Frauen der Bargada – nun, es war lächerlich es nur auszusprechen – seien allerlei besonderer Künste fähig, sie wüßten kräftige Sprüche zu verwenden, um die Fruchtbarkeit ihres Bodens anzuspornen und den Herbstsegen zu erzwingen, sie verstünden es, durch geheime Mittel die Krankheit von ihrem Stall zu bannen und Hagel und Unwetter an den eigenen Feldern vorbei auf die Felder des Nachbarn zu leiten … Unsinn! Geschwätz! Über Aberglauben war man hinaus. Aber immerhin … seltsame Leute waren die Armini, von jeher, und alles taten sie anders, als es der Brauch wollte. Sie nahmen wenig Anteil an den Gemeindeangelegenheiten, sie stellten keine Taglöhner vom Ort ein, sie kauften und verkauften nichts im Dorf. Ihre Frauen holten sie sich aus andern Gegenden. Sie schickten ihre Söhne in die Fremde, nicht um ihr Brot zu verdienen, wie es die meisten jungen Männer taten, weil der Heimatboden zu karg war, um sie zu ernähren, nein, nicht aus Not, aus Überfluß schickten sie sie weg, denn sie konnten es sich leisten, ihren Söhnen ein freies Jahr zu gönnen. Sie kleideten sich anders, aßen anders und sprachen anders; kurzum, sie waren eigenartige, unvertraute Leute, und Vorsicht und Zurückhaltung schienen ihnen gegenüber am Platze.
So bewußt und stolz die Armini ihrerseits sich als Besondere und Auserwählte fühlten, so litten sie doch unter dem ablehnenden Verhalten ihrer Dorfgenossen, das einer Ausschließung nahe kam. Sie trugen ihr Los aber mit gelassener Geduld, als wäre ihnen auferlegt, eine verborgene, ihnen selbst unbekannte Schuld abzubüßen. Zudem hatten sie genug mit sich selbst zu tun, denn das Leben auf der Bargada, wenn es gut sein mochte, war doch nicht leicht.
Vielleicht kam es daher: So weit man sich zurückerinnern konnte, wurde den Armini nach vielen Töchtern erst der Sohn geboren, stets nur ein Sohn, der sittegemäß beim Tode des Vaters den Hof erbte. Die zahlreichen Frauen der Familie blieben ledig und rechtlos im Hause, wenn sie nicht wegheirateten, was aber selten geschah. So lebte der Meister als einziger Mann in einem Schwarm von Weibern, die alle, ihrer Unmündigkeit zum Trotz, nur das eine im Sinne hatten, sich die Macht über ihn und damit über den Hof anzueignen.
Schon im voraus, um des Knaben Gunst schon, stritten sie sich. Sie lockten ihn mit Schleckereien, mit aufreizenden Geschichten und Spielen, sie halfen ihm seine kleinern und größern Unarten vor dem Vater verstecken und nahmen ihm jede Arbeit ab. Es mußte an der guten Art der Arminisöhne und an ihrer angebornen Klugheit liegen, daß sie ungeachtet solcher Verziehung rechte Männer wurden und sogar eher zu früh als zu spät ein gesetztes Wesen annahmen. Sie sahen ein, Heil war für sie nur zu erhoffen, wenn sie sich das ganze Weibervolk vom Leibe hielten und es alles, was nicht klare Männersache war, unter sich ausmachen ließen. Sie fristeten inmitten der Röcke ein einsames, mehr vorsichtiges als unternehmendes Leben, bemüht, sich selbst zu genügen und ihr Urteil für sich zu behalten. Dabei fanden sie Muße, sich ihre Gedanken über die Zeiten, den Weltlauf, über das Woher und Wohin zu machen. Fromm waren sie nicht. Sie gingen wenig zur Kirche und nahmen den Besuch des Pfarrers freundlichgleichgültig hin. Doch besaßen sie alle Sinn für nachdenkliche Worte und Sprüche, die sie sich merkten und nach denen sie sich gerne richteten. So hing das 4. Gebot in klarer Antiqua unter Glas in der Schlafkammer der Eltern, neben dem Himmelbett mit den weißen Vorhängen: Ehre Vater und Mutter, auf daß es dir wohlergehe auf Erden! Alle Arminisöhne hatten daran die Buchstaben lesen gelernt, lange bevor ihnen die Forderung, die der Spruch enthält, aufging. Später bestimmte er ihr Verhalten. Es war kein Beispiel in der Familie bekannt, daß je ein Sohn gegen dieses Gebot gehandelt hätte. Sie standen zu ihren Eltern in ehrfürchtigem Verhältnis und beugten sich, auch in vorgerückterem Alter, ihrem Willen.
Ganz im Gegensatz zu der stillen Art der Männer stand die vorlaute, leidenschaftliche der Frauen. Als besäßen sie die Lust am Werk, die dem Meister fehlte, doppelt und dreifach, und die Kraft dazu, sie auszukosten, gab es keine Verrichtung, vor der sie zurückgeschreckt wären oder die sie nicht so gut wie ein Knecht verstanden und ausgeführt hätten. Ihre Tatkraft kannte keine Grenzen. Sie kämpften um die Arbeit in Feld und Wald, im Stall und im Hause wie um ein hohes Gut. Jede suchte sich ein Tätigkeitsgebiet zu erobern. Gelang es ihr mit List oder Gewalt, dann verteidigte sie ihr Reich scharf gegen die andern, wußte es geschickt zu erweitern und gab es, bei zunehmendem Alter, nur ungern einer jüngeren ab, denn jedes dieser Gebiete, kostete es auch Schweiß und Mühe, bot doch die beste Gelegenheit, dem Meister wert zu werden, Einfluß auf ihn zu gewinnen und schließlich – wer weiß –, die Rivalin zur Seite zu schieben und die Herrschaft über den ganzen Hof an sich zu bringen. So weit kam es aber nie. Verstand es die eine, sich eine Vorzugsstellung zu erringen, fielen die andern sogleich unbarmherzig über sie her, und kein Mittel war verpönt, um die gemeinsam Verhaßte zu entthronen. Aus Furcht, diese oder jene könnte unvermutet in die Höhe kommen, arbeiteten sie auch zu Zeiten, wo nichts dergleichen anzunehmen war, gegeneinander. Es blieb nicht dabei, daß sie sich zuleide werkten und das Dasein erschwerten, so sehr sie konnten, den Mann mit allerlei Listen gegen die Gefährliche aufhetzten, und, wenn dies mißlang, sich offen balgten, das Haus mit Geschrei erfüllten, wobei Geschirr und Ware zu Schaden kamen, die Kinder erschrocken flüchteten und auch der Mann, wollte er nicht in das Unwesen gezerrt werden und Prügel ernten, sich in den Stall verzog, bis der Sturm vorüber war. Dabei blieb es nicht, und es war nicht das Schlimmste. Streit und Zank gibt es in allen Häusern, talab und talauf. Was das Leben der Frauen auf der Bargada in besonderer Weise entstellte, war etwas anderes, versteckt Gefährlicheres. Es war der böse Verdacht, eine jede von ihnen suche mit Mitteln, die nicht laut zu nennen waren, gegen die übrigen das erwähnte Ziel zu erreichen. Daß alle die ledigen Frauen einen eigenen Raum im Hause, oft sogar eine eigene Wohnung in einem der Nebengebäude bewohnten, diente den schlimmen Gedanken. Nach getanem Tagewerk zogen sie sich in ihre Kammern zurück. Sie saßen dort wie in einer Festung, prüften Lage und Aussichten der Gefährtinnen, berechneten ihre eigene Stärke oder Schwäche und entwarfen Pläne, nach denen günstig vorzugehen wäre. Was sie sich an ungewöhnlichem Beginnen ausdachten, um den Mann für sich einzunehmen und die Nebenbuhlerin zu besiegen, das muteten sie, da man leicht eigene Absichten dem Nächsten unterschiebt, jener selbst zu. Und etwa nicht zu Recht? Die Chronik der Bargada, von Tante zu Nichte weitergeflüstert, gab Beweis genug dafür, daß verborgene Kräfte einzufangen und dienstbar zu machen waren und daß die Arminifrauen dies verstanden. Wie man sich die Gunst des Mondes gewann in allen jenen Dingen, die sprießen oder verderben sollten, wie man erfuhr, welche Nächte und Orte dem Mutigen Vorteile boten, in den Lauf des Geschickes einzugreifen, wie Kräuter von Kräutern zu unterscheiden, wie zu mischen und herzurichten, wie die Worte zur Handlung zu wählen waren, damit Wirkung entstehe, das wußten sie alle. Darum galt es auf der Hut sein, kein Zeichen zu übersehen und mit kräftigen Gegenmitteln nicht zu sparen, ja, damit aufzutrumpfen.
Ob nun Tränke gebraut, Friedhofblumen gesammelt und unter Betten gestreut, ob Wachsglieder geformt und durchbohrt wurden, Erfolg hatten die Praktiken nicht. Es gelang nie einer Frau, das Regiment an sich zu reißen, wie sie auch, so oder so, darum kämpfte.
In dieser Weiberwirtschaft stritten nicht, wie es den Anschein haben konnte, gleicherweise alle gegen alle. Es zeichneten sich Gruppen ab: die der Mütter und Schwiegertöchter, die der ledigen Schwestern, Tanten und Nichten. Auch darin von andern Familien verschieden, wo die Mutter meist ungern die Frau des Sohnes kommen sieht, freuten sich die Arminifrauen auf ihre Schwiegertöchter, nahmen sie freundlich auf und hätten sie gerne vor allen ausgezeichnet, wenn nicht lange Erfahrung mit den Ledigen sie gelehrt hätte, ihre Vorliebe behutsam zu verbergen. Mutter und Schwiegertochter standen aber, wenn sie sich auch offen bekriegen mochten wie die andern, in Verbindung, weil beide nicht von der Bargada waren und daher eine geheime, natürliche Partei gegen die echten Armini bildeten. Es gab Zeiten, wo auch zwischen Ledigen Eintracht herrschte, etwa zwischen einer Tante und ihrer Nichte oder zwischen zwei ältern Schwestern. Dieser Bund wurde den andern laut gepriesen und als Machtzuwachs dargestellt. Die neuen Freundinnen waren unzertrennlich. Es kam vor, daß sie in eine Kammer zogen. Man hörte sie bis spät plaudern und lachen oder nachts zusammen durchs Haus schlurfen, die schwere Haustüre öffnen und hinausgehen. Zu welchem Zweck, fragten sich mißtrauisch und ängstlich die vom ungewohnten Geräusch Geweckten. Es hieß aufpassen … Doch lange dauerten diese Freundschaften nicht. Sei es, daß die ungewohnte Menschennähe die Frauen verwirrte und verführte, der Freundin mit ihren Schubladen auch ihre Absichten, geheimsten Wünsche und Künste zu eröffnen und auszuliefern, was stets noch zu Verdruß führte, sei es, daß auch in diesen Bünden die Sucht zu herrschen keine der Partnerinnen je verließ: die Freundschaften gingen bald mit Lärm in die Brüche, und giftiger als vordem hockten die wieder Einsamen in ihren Gehäusen und sannen auf Rache, während die andern sie schadenfreudig auslachten.
So arg die Frauen im Hause einander nachstellten, nach außen gaben sie nichts von ihrem Hader preis. Mehr als das: gegen Fremde standen sie zusammen, verteidigten sich und waren bereit, füreinander zu leiden. Man sah sie ab und zu einträchtig zur Messe gehen, eine ganze Schar, schön geputzt, fast feierlich. Sie waren alle groß und knochig gebaut, von dunklem Typus. Ihre Gesichter trugen den selben Stempel: eine niedere, breite Stirn mit tiefem Haaransatz, welche hohe, sehr buschige Brauen noch niedriger erscheinen ließen. Darunter ungewöhnlich große, schwarze und nahestehende Augen. Die Nase war lang und fein gebogen, doch der Schwung artete mit den Jahren und bei zunehmender Magerkeit zur Hakennase aus. Der schmallippige Mund erhielt schon früh den zweifelhaften Schmuck eines kleinen Schnurrbartes, der sich zu grausigem Gestrüpp verdichtete, wenn die Frauen ein hohes Alter erreichten. Auffallend waren die Ohren, gut geformt, groß und blaß wie aus Papier. Sie klebten sehr nahe am Kopf, der sich in edler Kurve schmal nach hinten wölbte und stolz den schweren Knoten aus schwarzem Haar trug. Sie waren schön, die Frauen von der Bargada, sie hätten schön sein können, wäre nicht ihr Blick gewesen, der, brennend und saugend, so glänzte, daß mancher, den er traf, nach dem Zahn fingerte, der zur Abwehr gegen das böse Auge an seiner Uhrkette baumelte.