Читать книгу Die Bargada / Dorf an der Grenze - Aline Valangin - Страница 6
II. Wohin?
ОглавлениеZur Zeit, als Tomaso auf dem Hof saß, war von der frühern großen Hausgemeinde nicht viel mehr übrig: er und seine Frau Detta, die er sich aus Italien geholt hatte, seine Schwester Giulia, viel älter als er, und seine Kinder Orsanna und Bernardo, der Sohn wieder um fünfzehn Jahre jünger als die Tochter. Zwischen den beiden waren mehrere Kinder in zartem Alter gestorben.
Mit der Verkleinerung der Familie war es im Hause stiller geworden. Der Krieg, den die weiblichen Angehörigen sich einst lieferten, war in ein stummes Sich-aus-dem-Wege-Gehen ausgelaufen. Doch hatten sich die Leidenschaften dabei nicht beschwichtigt. Unter der ruhigeren Oberfläche gärte der Unfriede zwischen der Hausmutter und ihrer Schwägerin, zwischen dieser und ihrer Nichte weiter und giftiger, weil das, was sich einst in der breiten Schicht vieler abspielen konnte, nun auf ein paar Vereinzelte beschränkt war. Die Möglichkeit, sich in Gruppen zu verbinden und in gemeinsamem Erleben Erleichterung zu finden, fiel dahin. Wollte Orsanna sich nicht zur alten Giulia schlagen, blieb diese allein, das Los der ledigen Arminifrauen zu tragen, das kein freundliches war: bedingungslos sich der fremden Meistersfrau beugen und arbeiten, nicht anders als ein Knecht. Sie bäumte sich dagegen auf, rüttelte daran wie ein Tier an den Stäben seines Käfigs. Es half ihr wenig. Die alte Ordnung der Dinge stand fest.
Auch daß Tomaso sich nicht mehr vor einer Schar Frauen zu hüten hatte, wie es seinem Vater noch beschieden gewesen war, und er es daher wagte, offen zu Detta zu stehen, verbitterte Giulia. Ihr Groll gegen die Frau des Bruders, die immer die stärkere war, der sie auch mit geheimem Tun nichts anhaben konnte, da Dettas ruhige Gemütsart sie gegen die Praktiken der Arminifrauen zu schützen schien, ihr Groll, der keinen Ausweg fand, wuchs zu einem dichten Haß aus. Doch hütete sie sich, ihn deutlich zu zeigen. Sie fürchtete ihren Bruder, der sie unsanft in ihre Schranken wies, so oft sie einen Anlauf nahm, Detta zu verdrängen und sich einen bessern Platz zu erobern. Er hatte sie aus dem großen Hause in ein Nebengebäude verwiesen, wo sie nun für sich hauste. Nur die Arbeit brachte sie mit den andern zusammen. Sie besorgte den Stall, fütterte, mistete und molk, zog die Kälber auf und machte die Butter. Da Detta sich im Haus und Garten beschäftigte und Orsanna mit dem Vater und den Taglöhnern aufs Feld zog, kamen sich die Frauen wenig ins Gehege, und es gab kaum mehr Lärm auf der Bargada.
Erst als Bernardo dem engsten mütterlichen Schutz entwuchs, loderte noch einmal die alte Lust an lautem Streit auf. Detta zitterte um ihren Knaben, der ihr so spät und nach so viel Kummer um andere Kinder geschenkt worden war. Sie fühlte sich so innig mit ihm verbunden, daß sie ihn am liebsten in sich beschlossen gehalten hätte. Auch Bernardo hing mit stiller Leidenschaft an seiner Mutter, ganz ihr zugekehrt. Er genoß es noch als großer Bub, von ihr herumgetragen zu werden oder still auf ihrem Schoß zu sitzen, über die runden Knöpfe ihrer Jacke fingernd seinen Kopf an ihre Brust zu pressen, die im Atmen sich ihm entgegenhob oder entsank, und den Geruch ihrer Kleider, ihrer Haare und ihrer Haut vorsichtig prüfend einzuziehen. Die besondere, ausschließende Liebe zwischen Detta und dem Kind kam für die andern fast einer Beleidigung gleich. Giulia faßte es so auf. Sie benützte die ersten Anzeichen, als dem Bub die Lust erstand, über seine Mutter hinaus mehr von der Welt zu erfahren, um ihn Detta abzulisten. Oft verschwand sie mit ihm auf Stunden, worüber Detta in Zorn geriet und sich bis zu Tätlichkeiten hinreißen ließ, wenn die Alte mit scheinheiliger Miene das Kind, das nach solchen Ausflügen auf seltsame Art ungebärdig und verstört war, wieder ablieferte. Sie behauptete, Giulia erzähle dem Kleinen furchterregende Geschichten oder nehme mit ihm Gott weiß was für Dinge vor, um ihn an sich zu fesseln. Täte sie nichts Unerlaubtes, warum wäre der Bub so verändert, wenn er von ihr nach Hause zurückkehrte? Aber auch Orsanna versuchte, den Kleinen zwischen den beiden Streitenden für sich herauszufischen und seine Zuneigung zu gewinnen. Sie tat es auf ihre Art, gab ihm verbotene Schleckereien zu essen und redete ihm ein, nur sie liebe ihn, nur von ihr könne er alles haben, was er sich wünsche. Sie erhitzte sich selbst an ihren Worten, so daß sie plötzlich das Kind an sich riß und mit Küssen fast erstickte, worüber Bernardo in Zetergeschrei ausbrach, sobald er Luft bekam, und mit den Fäusten auf die große Schwester einhämmerte, bis eine der andern Frauen ihm zu Hilfe eilte und ihn der Heftigen entriß. Der Zank hörte nicht auf. Hier nun zeigte sich, daß Tomaso, im Gegensatz zu den frühern Armini, welche nie in die Erziehung der Kinder eingriffen, es sei denn zum Strafen, gesonnen war, dem Wesen ein Ende zu setzen, indem er den Knaben den Frauen entzog und an sich band. Er nahm ihn mit zur Arbeit, unterhielt sich mit ihm in lehrhafter, etwas steifer Art und überwachte seine Spiele. Bernardo, stolz, zu den Männern gezählt zu werden, schloß sich dem Vater gerne an. So verlief der Streit, den die Frauen um den Knaben auszufechten bereits begonnen hatten, frühzeitig im Sand, und das Leben auf der Bargada ging seinen Gang weiter. Vielleicht, daß die Schulzeit des Jungen noch Anlaß zu Aufregung gab. Wie jeder Armini, hatte auch Tomaso gehofft, es werde dem Sohn glücken, ein einfaches und gutes Einvernehmen zu seinen Kameraden zu finden. Er irrte sich. Gerade Bernardo, so schien es, traf auf besondern Widerstand der Dorfjugend. Er kam oft beschmutzt, mit zerrissenen Kleidern nach Hause. Die Buben hätten sich auf ihn geworfen und so zugerichtet. Daß sie ihm offenen Kampf ansagten, war nicht das Schlimme, fand Tomaso, schlimmer war, daß sie, nach des Buben weinerlichem Bericht, hinter ihm her lachten und beschimpfende Andeutungen über sein Haus, seine Familie, seine Mutter fallen ließen, die das Kindergemüt verwirren und verletzen mußten. Es waren die alten, dummen Geschichten von Spuk und Zauberei, die nicht verstummen wollten.
Doch sah Tomaso ein, es lag auch an dem Buben selbst, daß sich das Verhältnis nicht bessern konnte. Er zeigte kein Verlangen, sich unter die andern zu mischen. Sein Sinn war nicht darauf gerichtet, mit den Buben zu spielen, sich herumzutreiben, den Mädchen aufzulauern und sie mit Schabernack zu verfolgen oder Tiere zu plagen, ein Hauptvergnügen der Schuljugend. Noch weniger lockten ihn ihre kleinen Geschäfte mit Taschenmessern, Bleistiften und Briefmarken. Höchstens, daß er Glasmarmeln eintauschte. Glasmarmeln hatten es ihm angetan. Um ein schönes Stück zu ergattern, gab er dafür, was ihm abverlangt wurde: Äpfel und Süßigkeiten, Federkasten mit Inhalt, Teile seiner Kleidung, trotzdem er deswegen Schelte zu gewärtigen hatte. Er verteilte die Glaskugeln je nach ihrem Aussehen in verschiedene Täschchen, die Detta ihm nähte: die gestreiften zusammen, die geflammten, die spiraligen, die bunten und die einfarbigen. Die schönste von allen war groß, hellbraun, halb durchsichtig. Darin schwammen goldene Funken. Bernardo hielt sie sich gerne nah vors Auge und starrte hinein, bis ihm schwindlig wurde und er glaubte, die goldenen Funken im eigenen Auge stieben zu spüren. Nie ließ er sie von jemandem anrühren.
War er nicht ums Haus herum mit seinen Marmeln beschäftigt, konnte man sicher sein, ihn bäuchlings auf einer Bank oder Mauer liegend zu finden, die Ellenbogen aufgestützt und den Kopf mit dem braunen Haar über ein Buch gebeugt. Er las. Er las alles, was er fand. Sein Schulbuch wußte er auswendig. Die spärliche Schulbibliothek bot ihm nichts Neues mehr. So hatte er sich der Bücher bemächtigt, die von früher her in einem Schrank auf dem Estrich standen: vergilbte Kalender, Reisebeschreibungen, Heiligenlegenden und Wundermären. Er las sie immer wieder, andächtig. Was er nicht verstand, träumte er dazu. Neben den Geschichten enthielten viele der Bücher Bilder, die Bernardo mehr noch fesselten als der Text. Mit Ehrfurcht schlug er die bunten Seiten auf. Er kannte sie alle bis in die letzte Einzelheit, so lange und so oft hatte er sie betrachtet.
Da waren ungewöhnliche Landschaften zu sehen: Felsen, zehnmal so hoch und so gefährlich, so seltsam zu Fratzen ausgezackt wie der Grat im Norden des Dorfes, jener Grat, der eine liegende Frau mit hohem Leib und gespreizten Beinen darstellte, über deren unschickliches Benehmen er sich wunderte; wilde Meere, auf denen Menschen in kleinen zerbrechlichen Booten den Walfisch jagten, das Riesenungetüm aus der Bibel, das Jonas verschluckte; der verlorene Sohn, der aus Schweinetrögen aß, aussah wie ein Taglöhner und dann doch, auf einer andern Seite des Buches, sich wunderbarerweise wieder nach Hause fand, wo er herzlich aufgenommen wurde; Urwälder, in denen die ersten Christen, fast nackt, gegen gewaltige Bärinnen kämpften, als leuchtendes Beispiel von Mut und Glaube. Doch auch das Konterfei des Mondes war zu betrachten. Daß man es eben wisse, der Mond war keine freundliche Frau, er war eine Kugel, über und über blatternnarbig wie das Gesicht Cechs, jenes Taglöhners, den die Sonne zu Tode gestochen hatte, daß er am Abend leblos im Grase lag, worüber man nie fertig wurde, nachzudenken, denn was war es eigentlich: tot? Die blatterige Kugel war häßlich, und Bernardo überschlug die Seite gerne. Es gab ja andere, ganz andere Bilder. In einem mit Blumenkränzen verzierten Rund saß eine schöne Frau mit langem, goldenem Haar an einem Brunnentrog, in den Figuren eingeschnitten waren halb Fisch, halb Mädchen. Sie umwanden sich und quollen durcheinander wie Schlangen. Die Frau aber streckte ihre Hand ins Wasser und schaute Bernardo lächelnd und etwas wehmütig an. Wie er das Bild auch hielt, die Frau sah ihn an. Sogar wenn er es an die Wand lehnte und sich davon entfernte, nach rechts oder nach links auswich, sah ihn die Frau an. Dies zu erproben, war ein erregendes Spiel, und er spielte es, bis ihm das Herz im Halse klopfte.
Doch gab es ein noch schöneres Bild, das allerschönste, auf dem nur eine einzige riesige Blume gemalt war, die ihr Inneres, wie es Bernardo vorkam, fast schamlos preisgab: samtene Bahnen von glitzernden Kanten umrandet, durchsichtige Wändchen, schimmernde Höhlen, farbig leuchtende Grotten, seltsam gewundene, glattglänzende Zugänge zu der Mitte, wo im Kranz, zwischen langen Fäden, eine kleine, knorpelige Kapsel lag. Und diese Blume duftete. Das war das Aufregende. Es entstieg ihr ein süßlicher Modergeruch, der an Moos oder faulendes Holz erinnerte, vielleicht auch an den Geruch der Erde im Frühling, wenn es taut und der Mist auf den Feldern dampft. Bernardo genoß den Duft mit aufgeblähten Nasenflügeln und geschlossenen Augen.
Es tat Tomaso leid, den Sohn von derlei gefangen zu sehen, ja es verdroß ihn, daß er offensichtlich faul war, da es ihm nichts ausmachte zu lesen, wo doch ringsherum vieles zu tun blieb. Wenn er keine Zeit in gemeinsamem jugendlichem Treiben verlieren wollte, war es doch unrecht, daß er sie mit dem viel unnützeren Bücherkram verlor. Schon lange fehlten Arbeitskräfte auf der Bargada. Die drei Frauen konnten die Arbeit nicht mehr bewältigen, die ihnen zufiel. Das Gut ging nicht recht vorwärts; wenn man genau sein wollte, ging es damit zurück. Weniger Kühe im Stall, kleinere Misthaufen, mageres Gras, mäßiger Erlös; eines griff ins andere. Dazu schien es Tomaso, die Sommer seien weniger warm als früher, alles wachse langsamer und reife später. Da hieß es, sich an die Arbeit halten und nicht träumen, sollte der Hof nicht herunterkommen. Er machte Bernardo Vorstellungen. Der Junge, um dem Vater zu Gefallen zu sein, legte sich ins Zeug, doch jeder sah, er war vielleicht mit dem Willen, aber nicht mit dem Herzen dabei.
Als Bernardo aus der Schule kam, war es für den Alten keine Frage, daß der Sohn ihm mehr als bisher bei der Arbeit auf dem Hof zu helfen habe, um nach und nach in den Gang der Geschäfte hineinzuwachsen und ihn abzulösen. Es hieß auch schon im geheimen an eine Frau für ihn denken, denn nie ist es zu früh, nach der richtigen Frau für den einzigen Sohn Umschau zu halten.
Bis jetzt hatten die Armini ihre Frauen stets draußen geholt. Nie verband sich einer der Sippe mit einem Mädchen aus dem Dorf. Man trug es ihnen als unberechtigten Stolz nach, und Tomaso fragte sich, ob die fremden Frauen der tiefste Grund für ihre Ausschließung sein mochten. Doch in Gedanken hier angekommen, konnte er die Sache umkehren und sagen, weil die Dorfleute nichts von den Bewohnern der Bargada wissen wollten, seien die Armini angewiesen, ihre Frauen aus der Fremde zu holen. Die Dinge waren nicht so einfach. Für seinen Sohn wünschte er, wie dem auch sei, es möge glücken, ein Mädchen vom Ort zu gewinnen, um mit dem Brauche auch den Bann zu brechen, der auf ihnen lag.
Da war die blonde Alda Spertini, ein schönes Mädchen, das dem Sohn gefallen und dem Hof als spätere Meisterin wohl anstehen dürfte. Tomaso wußte, was sie einst zu erwarten hatte: nichts als Schulden. Er kannte die Wiesen ihres Vaters. Sie lagen jenseits der Fuchsenbrücke so, daß er sie gut mit den seinen, ohne viel Zeit für den Weg zu verlieren, besorgen konnte. Spertini suchte Geld, um sich aus den Händen eines Wucherers zu befreien. Er, Tomaso, hatte Geld. Man könnte sehen, dies und das gleichzeitig zum Klappen zu bringen: die Felder und das Mädchen an die Bargada, das Geld an den Alten.
Aus diesem lange und sorgfältig ausgeheckten Plan wurde nichts, und zwar war Bernardo allein schuld, daß er sich zerschlug. Er erklärte eines Tages dem Vater, er wolle fort. Hier bleibe er nicht mehr. Kein Mensch rede mit ihm, man benehme sich im Dorf, wenn er erscheine, als sei er räudig. Die Mädchen kehrten ihm den Rücken und kicherten, sogar die Alda. Er habe genug. Er gehe.
«Wohin?» fragte der Vater, schmerzlich erstaunt.
«Wohin, wohin! Irgendwohin!» erwiderte der Sohn. «Überall wird es besser sein als hier.» Daß Bernardo unter der Absonderung litt, war Tomaso verständlich. Hatte er nicht sein Leben lang darunter gelitten, sich dagegen aufgelehnt und gehadert, bis er sich damit abfand? Aber daß der Bub fort wollte, fort von der Bargada, vom Haus, den Wiesen, dem Vieh, der Arbeit … das verstand er nicht.
«Wohin denn, und was tun?» fragte er wieder. Der Sohn trotzte: «Fort … fort!»
«Von deinem Besitz weg?» versuchte Tomaso den Jungen zu locken.
«Was habe ich davon?» gab Bernardo zurück. «Ich will fort, etwas sehen … fort … fort!»
Er hat zuviel gelesen, dachte Tomaso bekümmert, das ist es. Wochenlang stritten sie sich, zuerst unter lauten, heftigen Worten, dann stiller und zäher, bis der Alte begriff, daß er der Schwächere war und den Jungen nicht zwingen konnte, zu bleiben.
«So geh!» schloß er ein Gespräch, das von Bernardo einsilbig und eigensinnig mit «Ich gehe!» bestritten worden war. «Aber dann geh gleich … mach Schluß!»
Bernardo wollte freudig aufspringen, doch fühlte er sich von dem schweren Ernst des Vaters eingeschüchtert. «Ich danke», murmelte er und ging in seine Kammer.
Auf dem Bett sitzend, überprüfte er nochmals seinen Plan, sann, was er anfangen sollte, um in der Fremde Arbeit zu finden. In seiner Sparbüchse war etwas Geld. Sie stellte ein Schwein dar. Er schmetterte sie auf den Boden, um sie zu zerbrechen. Zwischen den Scherben rollten einige Fünfliber hervor, kleinere Silbermünzen, Nickel und ein goldenes Vögelchen, zwanzig Franken, die einst ein Bruder der Mutter, der aus Amerika zu Besuch gekommen war, in die Sparbüchse hatte gleiten lassen. Alles zusammengerechnet, konnte er, auch wenn ihm der Vater nichts geben wollte, worüber noch zu sprechen war, die Reise nach Mailand wagen und dort ein paar Tage ausharren, bis er einen Meister gefunden haben würde. Er wollte Maler werden.
Von dem Lärm der zerschellenden Sparbüchse geweckt, rief seine Mutter aus der daneben liegenden Kammer, was los sei, warum er die Leute so erschrecke, bei nachtschlafender Zeit. Bernardo ging zu ihr hinüber. Sie lag im hohen Himmelbett mit den weißen Vorhängen. Es wollte ihn beschämen, denn er hatte die Mutter in den letzten Jahren nie liegend gesehen. Stets war sie als erste auf und ging als letzte zu Bett. Sie hielt sich die Nachtjacke am Halse zu, stützte sich auf den Arm und fragte mit leiser Stimme, noch einmal, was los sei.
«Ich gehe fort, Mutter», erklärte Bernardo, «ich habe mein Geld aus der Büchse genommen.»
Sie wußte es schon. Tomaso hatte ihr den Wunsch des Sohnes, die Bargada zu verlassen, mitgeteilt. Oft und lange war darüber zwischen ihnen und Orsanna, die sie zuzogen, hin und her beraten worden. In ihrem Herzen war es aber schon lange eine ausgemachte Sache, daß Bernardo gehen werde. Sie wünschte es ja, er käme von diesem einsamen Orte fort. Sie erinnerte sich ihrer eigenen Jugendzeit, die sie in freundlicher Gegend unter heitern Menschen verbrachte, und maß dagegen das Leben auf der Bargada. Gut genug für sie, die Alten, und für Orsanna, die ob des Alleinseins schon so wunderlich geworden war, daß sie nirgends anders mehr hinpaßte. Aber der Junge sollte nur gehen und sein Glück suchen, wenn ihr damit auch Sonne und Mond versinken mußten.
Bernardo stand immer noch unbeholfen vor dem Bett der Mutter. Es kam ihm in den Sinn, daß bis zu seinem zehnten Jahre sein eigenes kleines Lager hier aufgeschlagen war, und wie er oft, halb im Schlaf, die Eltern zur Ruhe gehen sah. Er hörte wieder das Klirren der Vorhangringe auf dem eisernen Stab, ein gemurmeltes Gebet, ein lautes Amen, das in Gähnen überging, dann tiefe Atemzüge des Vaters, leichtere der Mutter, etwa ein Seufzen. Er schaute nach dem Spruch an der Wand. Wie früher buckelte sich im Kerzenlicht eine Stelle der Glasscheibe, die ihn bedeckte, daß sie aussah wie ein Riesenmarmel. Die Buchstaben dahinter verzogen sich zu dunklen, verwickelten, gelbrot umrandeten Linien. Sie ergaben Zeichnungen und Bilder, die, wenn er den Kopf bewegte, ineinander übergingen: Blumen, Fangarme, Fische, Schweife, Regenbogen, Monde, was noch? Alles sah man da. Wie als Kind versuchte er, den Punkt zu finden, wo ein Bild sich in ein anderes verwandelte. Traf er ihn, hielt er ihn fest, wie eine Schaukel im Gleichgewicht. Er tastete mit großer Behutsamkeit ein Haar breit nach links: ein zottiges Tier mit fletschenden Zähnen erschien, eine Handbreit nach rechts: eine liebliche Mädchengestalt mit blondem, langem Haar.
Auch ein Erlebnis seiner Kindheit fiel ihm wieder ein. Er lag krank. Seine Eltern schliefen schon. Es war nichts zu hören im Hause als das leise Auf- und Zuklappen der Küchentüre und von Zeit zu Zeit das Gestöhne aus dem Keller hervor, von dem der Vater sagte, es zeige Wetterwechsel an. Doch die Tante Giulia wußte es besser. Es war die ururalte Bärin, die zuhinterst im Keller schlief, etwa erwachte und sich drehte, wenn sie Hunger spürte … Er begann, sich zu fürchten, und wollte nach der Mutter rufen, als die weißen Vorhänge des Bettes auseinander wallten und die Mutter – sie war aber die schöne Frau auf dem Bilde im Buch – lächelnd dazwischenstand und ihm winkte. Sofort kletterte er aus seinem Bett und ging auf sie zu. Sie schwebte zur Tür hinaus, die Treppe hinunter, an der Küche vorbei auf die Straße und dort weiter zur Fuchsenbrücke, er immer hinter ihr drein. Auf dem Plan, wo das viele Farnkraut wuchs, setzte sie sich auf die Steinbank und ließ ihre Hand ins Brünnlein tauchen. Ein Geruch von Moos war wie eine Wolke um sie herum.
Da hörte er Lärm und Geschrei, Menschen kamen auf der Straße gerannt. Sie trugen eine Laterne und riefen laut seinen Namen. Er erkannte die Eltern und hintendrein, wie Schatten, die Tante und die heulende Orsanna. Als sie ihn erreicht hatten, begann die Schelte. Der Vater drohte mit strenger Strafe, mit Schlägen, doch wußte Bernardo so beredt von der schönen Mutter zu erzählen, die ihn aufforderte, mit ihr zu gehen, daß alle still wurden. Der Vater nahm ihn auf den Arm und trug ihn in sein Bett zurück. Die Mutter brachte ein heißes Getränk und streichelte seinen Kopf, bis er einschlief.
Auch Detta gedachte in diesem Augenblick der nächtlichen Flucht des Knaben. Sie erschrak damals sehr, das Bett des Kindes leer, die Türen offen zu finden; sie suchte den Sohn im ganzen Haus, im Garten, in den angrenzenden Feldern, betend, es möge ihm nichts Schlimmes widerfahren sein. Sie sorgte sich so um den Verlorenen, daß die Freude, den Ausreißer im langen Hemd endlich auf der Straße zu finden, den eben durchlebten Gram nicht aufzuwiegen vermochte. Auch heute noch, jetzt eben, stieg das Entsetzen über das Verschwinden des Sohnes wieder in ihr auf, so frisch, als stünde das längst Vergangene erst vor ihr.
«Also, du willst uns Alte allein lassen», sagte sie schließlich. Bernardo war verwirrt. Während er so stumm vor seiner Mutter Bett stand, stieg um ihn der süßliche Moosgeruch auf, der ihn in jener fernen Kindernacht umweht und den er vergessen hatte. Er prüfte ihn mit kurzem, schnellem Atem, wie ein Hund eine Fährte schnuppernd aufnimmt. Unsinn, ich bin wohl närrisch, dachte er. Zur Mutter sagte er gemessen im Tone eines jungen Mannes, der schon etliches hinter sich hat: «Ja, ich gehe, und diesmal holt ihr mich nicht mit der Laterne heim!» Er versuchte zu spaßen, doch die Mutter weinte.