Читать книгу Der Wal - Ally Klein - Страница 3
ОглавлениеSaul
Das wird Saul gesehen haben
Die braunen Blätter, gerippte verdorrte Röllchen, umringten die Buche. Im Wind rotierten sie um den Baum, mit jedem Zug trug er sie davon, vertrieb sie von ihrer Ruhestelle, verrückte den Ort, den die Erdanziehung ihnen in diesem lebensverneinenden Winter zugewiesen hatte, den Ort, an dem sie ihre letzte Stätte hätten finden sollen, aber der Wind gewährte ihnen diese Ruhe nicht, gönnte ihnen ihren reglosen Tod nicht, den langsamen Übergang zu Aas, die stete Verwesung zu Humus. Jedes Mal blies er sie hoch und ließ sie wieder an einer anderen Stelle langsam absinken. Sie kreisten in der Luft, lebensleer und teilnahmslos, und sobald der Wind sich weiter nach oben verzog und sich auf die lichte Krone stürzte, ließen sie sich ihren nächsten Fleck vom Zufall zuteilen.
Der Wind geisterte durch die Leere zwischen den Ästen, so dick und schwer, dass sie seinen Stößen nicht nachgaben, riss das eine oder andere verbliebene Blatt ab, das seit Monaten ausgetrocknet an einem Härchen hing und bloß auf gut Glück am Baum haftete, und trug es mit einem Zug fort.
Es wurde kurz still, aber schon regte sich etwas. In dem Laubhaufen raschelte es, wühlte sich etwas nach oben, aus den Schichten an toten Blättern, aus den birnförmigen Blättergewinden schlüpften Spatzen hervor, hüpften aus den trompetenartigen Gehäusen, zwei, drei, vermehrten sich in Sekundenschnelle, aus den braunen, trockenen Hülsen sprangen braune, quirlige Vögel hervor, sprangen auf der Wiese umher, alle in verschiedene Richtungen, manche flogen davon.
Die Bank war morsch vom feuchten Winter. Das aufgeweichte Holz löste sich ab, sobald man seinen Rücken dagegen lehnte, und die Splitter verfingen sich im Gewebe der Kleidung. Der Lack hatte sich längst abgeschrubbt, nur an den Außenseiten der Bank sah man noch, dass sie einst grün gestrichen war. Der Abstand zwischen den einzelnen Brettern war immer breiter geworden, die Bank magerte sich ab, vergreiste, stöhnte unter eines Gewicht.
Kaum hatte Saul sich hingesetzt, drang die klamme Kälte im Nu durch seine Hose. Er packte sein Brot aus, ein zwischen zwei Scheiben eingequetschtes dickes Stück Käse, das einen säuerlichen Geruch ausstieß, hielt es mit beiden Händen zwischen den kantigen, aufgerissenen Fingern vor sein Gesicht, zwischen den hornhäutigen Kuppen, zu denen kein Gefühl, kein Gefühl der Welt vordrang, er umfasste den Pumpernickel in einer klauenartigen Geste, lehnte sich nach vorne, fuhr sich die Schnitte vor den Mund und biss hinein. Eine große, parabelartige Leerstelle zeichnete sich ab, Saul kaute schweigend vor sich hin, sein Unterkiefer malmte das Brot breiig, er hielt inne und schluckte es in einem Brocken hinunter.
Gerade als er das Essen wieder an seinen Mund fuhr, fixierten sie ihn – zwei gelbe Augen mit einem senkrechten schwarzen Schlitz in der Mitte. Er erwischte sie, noch bevor er wieder hineinbeißen konnte. Mit offenem Mund, im Biss verharrt, stierte er zurück, auf das rote Tier, das sich leise an ihn herangepirscht haben musste, stierte angestrengt mit seinen runden schwarzen Pupillen in diese schmalen Spalte, wie in Bernstein gemeißelt, Portale in den Kopf einer fremden Wahrnehmung, einer unbekannten Welt. Saul versuchte hineinzusehen, sein Gegenüber zu lesen, den nächsten Schritt vorherzusehen, so lange, bis er die Anstrengung nicht aufrechterhalten konnte. Die eigenen Gesichtszüge lockerten sich endlich, eine Ruhe breitete sich über sein Gesicht aus. Er blickte und hörte auf zu sehen, er blickte und sah nicht mehr, schaute bloß, schaute vor sich hin, schaute selbstvergessen, schaute vergessen in die Augen des anderen, bis sich dieser zu einem ersten Schritt traute. Das rotfellige Tier trat vorsichtig näher, die rechte Vorderpfote veranlasste die anderen dazu, ihrem Schritt zu folgen, ein Stück dichter an Saul heran, den Kopf leicht gebückt, die schwarze ledrige Nase schnüffelnd, blieb stehen, die Blicke beider hafteten noch aufeinander. Saul öffnete langsam die Brotscheiben, löste das dicke Stück Käse heraus und warf es dem Tier vors Maul. Der scharfe Geruch strömte nach oben. Davon wie angezogen, senkte der Fuchs den Kopf, zögernd, die Augen immer noch auf Sauls geheftet, senkte ihn immer tiefer, schnupperte an dem stinkenden Brocken, hielt inne, blickte hinauf, dann schnappte er sich den Käse und schoss davon.
Saul, wieder alleine, legte die zwei Scheiben zusammen und biss in das trockene Brot.
Seit der Morgendämmerung hatte der Himmel die betongraue Farbe nicht abgelegt. Die Wolkenmasse war wie in Zement erstarrt. Überhaupt erinnerte der Tag seit Monaten daran, dass er bloß ein kurzer Übergang von einer Nacht zur anderen war, er war auf ein paar schummrige Stunden zusammengeschrumpft, ein knapper Zeitraum in düsterem Grau zwischen vorherrschender Dunkelheit, ein Bindeglied der Finsternis, mehr war er nicht.
Saul stand im Türrahmen und sah nach draußen. Die Wolken hingen diesmal tiefer über dem Flachland als sonst. Wie vollgestopfte Säcke, klobig und unbeweglich, bedeckten sie den Himmel, und, kaum setzte er zum Schritt an, kaum war er dabei, über die Schwelle zu treten, brach der Regen herab.
In Pfeilen beschoss er die Ortschaft. Bleierne Schäfte aus Wasser stürzten sich hinunter, stürzten sich auf die Siedlung, stürzten sich auf die Straßen, die Dächer, stürzten sich auf alle Oberflächen und zerbarsten daran. Sie zerbarsten am Asphalt, zerbarsten an Ziegeln, zerbarsten am Beton, zerschossen in tausende Spritzer, in winzigen Wasserschutt, flossen zusammen und wuchsen vereint zu einer riesigen Lawine. In einer rasenden Flut strömte das Wasser die Abhänge hinunter, riss alles mit sich, was seiner Gewalt nachgab, alles der Ortschaft Aufgetragene, alles Lose, alles, was sie schmücken sollte, jede Kreidezeichnung spülte es weg, die Lichtgirlanden, die der Regen zuvor von den Dächern, den Balkonen abgeklopft, abgeschlagen hatte. Alles, was der Mensch in seiner Vergesslichkeit, in seiner Ignoranz übrig gelassen hatte – jede Plastiktüte, jeden Zigarettenstummel, jedes Müllpartikel riss die Flut mit sich, das Wasser wallte durch die Straßen, schoss um die Ecke, keine Gasse war davor sicher, alles spülte es fort, alles war ihm ausgeliefert, es hatte über alles Dingliche, alles Körperliche, alles Atmende, alles Kriechende, alles Kämpfende triumphiert, nur Wasserfluten, überall.
Saul ahnte, was in der Ortschaft vor sich ging. Er musste ahnen, dass, wenn er sich jetzt auf den Nachhauseweg machte, den Wal verließe und in die Ortsmitte hinabstiege, ihm das Wasser dort bis zu den Fußknöcheln reichte. Er musste wissen, dass er im Nu nass würde, bis zu seinem Haus müsste er mindestens eine halbe Stunde laufen, quer durch die Siedlung. Er blieb im Türrahmen stehen und blickte hinaus. Fahle, grobkörnige Masse breitete sich vor ihm aus, stufte sich am Horizont in ein trüberes Dunkel ab und wurde über die Felder zu einem mörtelen Grau.
Er hob seine Hand an, streckte sie nach vorn aus, mit der Fläche nach oben – die dicken Regentropfen klatschten auf seine geschwollenen Fingerkuppen. Er wischte das Wasser an der Hose ab, steckte die Hand in die Jackentasche, nestelte dort herum und fischte eine Zigarettenpackung heraus. Saul klopfte auf den Boden, sodass aus der Öffnung eine Zigarette herausrutschte, er steckte sie sich zwischen die Lippen, zündete sie an, zog – ein seimiger, weißer Rauch strudelte sich in seinem Mund zusammen, verschwand sogleich im schwarzen Rachen. Die Lungen bleichten den bläulichen Dunst, nahmen ihm die Essenz, und entseelt verließ der Rauch wieder seinen Mund. Die Glut fraß den Stängel nochmal kürzer, und nochmal, fraß ihn zu grauer Asche, Saul zog den Kragen mit beiden Händen hoch, blies aus und setzte einen Schritt nach vorne.
Kaum war er unter dem Regen, hing die Zigarette lappig von seinen Lippen. Er brach den Filter ab, steckte ihn sich in die Jackentasche, zerdrückte den feuchten Tabak und warf ihn auf den Boden, wo der gekräuselte Schnitt sofort von den Fluten fortgerissen wurde. Das Wasser rann ihm das Gesicht hinunter, den Nacken, kurz vor der Ortsmitte ging es durch die Kleidung, der Stoff hatte sich komplett vollgesaugt. Es tropfte ihm von den Ärmelenden, von den Hosenenden, tropfte vom Jackenbund, lief ihm in Strömen über die Haare. Mühsam schleppte er diese triefende Last voran. Der Regen drängte sich ihm in den Mund, sodass er ihn ausspucken musste, drängte sich ihm in die Augen, Saul konnte kaum geradeaus sehen. Das Wasser hatte ihn aufschwemmen lassen, hatte ihn aufgeweicht, er hätte sich jeden Moment auflösen, in matschige Klumpen zerfallen können. Saul schleppte sich vorwärts, jeder Schritt platschte durch die Ströme, die den Abhang hinunterrollten. Nach der Ortsmitte stampfte er den Hügel hinauf, den es in einer einzigen Woge hinunterspülte, lehnte sich vor, während der Anstieg ihn immer mehr in die Knie zwang. Er beugte sich vor, die Fersen berührten kaum noch den Boden, die Knie wurden mit jedem Schritt hinauf mehr gespitzt. Er stützte sich darauf, die Schritte wurden kürzer, wurden schwerer. Außer Atem, sodass man sogar durch den Regen das Rasseln in seinen Lungen hörte, schnappte er nach Luft, blieb endlich stehen und richtete sich auf. Jedes Mal, wenn er Luft holte, blähte sich der Rücken auf, die Schultern gingen hoch und senkten sich, die Schulterblätter drückten bei jedem Atemzug gegen den robusten Stoff der Jacke. Der Regen beschoss seinen Körper, schlug auf den vollgesaugten Filz ein. Die Haare klebten am Hinterkopf, es rann ihm die Wölbung hinab über den Nacken in den Kragen, die Kleidung haftete auf der Haut.
Oben an der Gabelung, wo der Asphalt aufhörte und Schutt den weiteren Pfad markierte, stand Saul, mit dem Rücken zum Ort, und verharrte. Endlich, langsam und nur nach und nach drehte er seinen Kopf, drehte ihn allmählich zur Seite, immer weiter, sodass das Kinn den Kragen der linken Schulter streifte, der Oberkörper drehte sich mit, schrittweise hob sich der Blick. Noch sahen die Augen nach unten, aber je weiter sich der Kopf nach hinten bewegte, hoben sich die Lider, die Pupillen wanderten nach oben, wanderten immer weiter nach links, Saul drehte sich langsam um, während die Fußspitzen immer noch in Richtung der Anhöhe zeigten, er drehte seinen Kopf immer weiter, den Rumpf, die Pupillen wanderten nach oben, bis sie die Mitte des Augapfels erreichten, und da stoppten sie.
Sie fixierten einen Punkt, diesen einen Punkt, aus dem Saul beobachtet wurde, diesen einen Punkt, der ihm folgte, diese Augen, die jeden seiner Schritte nachvollzogen, jede seiner Bewegungen überwachten, er fixierte sie, stierte in sie hinein. Der Regen strömte über sein Gesicht. Das Wasser rann ihm um die Lider, tröpfelte von den Wimpern hinab, lief über die Wangen. Saul blinzelte nicht, er heftete seinen Blick, stand reglos da, entschlossen, er schaute nicht, schaute diesmal nicht, sondern sah. Erwischt, ertappt hatte er diese Augen, die ihm so unmerklich zu folgen schienen, er sah sie direkt an. Belauert hatten sie ihn, beschattet, unbemerkt hatten sie ihm nachgeschnüffelt. Sie waren überall dabei, waren bei seiner Begegnung mit dem Tier dabei, waren da, als er sich die Zigarette angezündet hatte, anwesend, als er über die Ortschaft schritt und sich vom Regen vollquellen ließ. Sie waren ihm überallhin gefolgt und würden ihm von nun an weiter folgen, heimlich und im Verborgenen, dachten sie, aber Saul wusste um sie. Er sah sie an, durchbohrte sie mit seinem Blick, den schwarzen Iris.
Er nickte unmerklich, drehte langsam seinen Kopf wieder nach vorn, wandte sich um, hielt noch kurz inne und bog nach links ab, den Kieselweg hinauf.
Der feine Schotter prägte sich in den Schlamm unter seinen Sohlen ein, drückte sich in den Dreck und wurde mit jedem seiner Schritte fortgetragen. Saul ging den Hügel hinauf, je höher er stieg, desto mehr schrumpfte er in die Landschaft hinein. Immer kleiner und kleiner verschwand er oben in der Einfahrt.