Читать книгу Der Wal - Ally Klein - Страница 4
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Mitten in der Nacht hatte der Regen abrupt aufgehört, als hätte man ihm den Hahn abgedreht. Saul öffnete die Augen, das schlagartige Verstummen hatte ihn geweckt. Er setzte sich auf, stellte die Füße auf den Boden – die Kälte schlug in die nackten Sohlen. Vom oberen Rahmen des kleinen Fensters ihm gegenüber schlitterten die verbliebenen Tropfen in Schleifen über die Scheibe. Saul nahm das Wasserglas vom Nachttisch, trank es leer. Er stand auf, holte sich Socken, schlüpfte in die Stiefel, ohne sie zuzubinden, warf sich den Mantel über und zog an der Tür zur Terrasse.
Durch die Feuchtigkeit hatte sich das Holz im Rahmen ausgedehnt, die Tür steckte fest, Saul riss sie mit einem unerwartet großen Kraftaufwand auf, sodass sie vibrierte, und trat über die Schwelle.
Kaum war er draußen, folgte jedem Atemzug ein dampfender Hauch. Jeder seiner wenigen Schritte zum Drahtsessel wurde von einem knarzenden Ton in den Dielen begleitet. Er ließ sich nieder und lehnte den Rücken gegen das weiße Drahtgeflecht. Die Kälte schockte seine Beine, alle Härchen stellten sich sofort auf. Er rieb sich die Oberarme, klemmte die Hände in die Armbeugen, um wenigstens die Finger warm zu halten, warf den Kopf zurück und atmete in einer Wolke aus.
Die überwinterten Grashalme, mit dicken Wassertropfen beladen, hielten deren Gewicht nicht stand, beugten sich bis zum Anschlag. Hin und wieder rutschten die schweren Wasserläufe ihre Buckel hinunter, verschwanden in der klammen Erde. Das Gewicht losgeworden, rappelten sich die Grasspitzen dennoch nicht mehr auf, faulten in den feuchtkalten Boden hinein.
Die Büsche um das Grundstück herum hatten sich aufgefächert, ihre dünnen, spitzen Zweige, die feinen Fühler in alle Richtungen gespreizt und waren erstarrt. Der größte der Bäume, die Platane, reckte sein krummes Astwerk wie Antennen zum Himmel, harrte, horchte in dessen einsame Weiten hinein. In einer Grabesstille warteten sie alle darauf, dass etwas passierte, warteten den ganzen Winter, dass ihre Verlassenheit bemerkt und erhört wurde, warteten und hofften, vergeblich.
Wie in einer Zeitstarre stand alles reglos da, in der Sekunde erschlagen. Überallhin hatte sich die Dunkelheit ausgeschwärmt. Schweigend saß sie im Gewirr der Sträucher, im fädigen Gewirr der Ruten, saß im hart getrockneten Laub, in jede Leerstelle, jeden Spalt hatte sie sich eingeschlichen. Alles hatte sie sich einverleibt, saß da und lauerte, starrte aus ihrer Leere, mit ihren tausend Augen, die dunkle Materie, die alles in sich eingemummt hatte.
Nur auf der Wäscheleine, mitten auf der Wiese zwischen zwei Pfählen gespannt, rutschten verstohlen die Tropfen in die Mitte des locker angebrachten Seils, hingen einen Moment lang mit ihrem gesamten Gewicht dran, und sobald der Nachschub kam, fielen sie geräuschlos auf die Erde.
Saul saß auf seinem Stuhl, starrte unverwandt auf die einzige Zeitigkeit, die sich in diese Starre eingeschleust hatte, und beobachtete einen Tropfen nach dem anderen, deren Abgleiten in immer größeren Abständen geschah. Langsam stahl sich auch das Licht zwischen die eisenfarbene Masse des Himmels ein und zerteilte sie in Wolken. Aus den Bäumen, wo die Dunkelheit gerade noch alles totgeschwiegen hatte, begann es zu zwitschern. Der Tag kündigte sich an.