Читать книгу Der Wal - Ally Klein - Страница 8
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Er rutschte beinahe aus, als er den Hügel hinunterlief. Der Kies, den man vor Monaten auf den Asphalt geschüttet hatte, um dem Glatteis entgegenzuwirken, bedeckte noch spärlich die Straße und stellte eine neue Gefahr dar, vor allem wenn die Füße wie von selbst den Abhang hinuntermarschierten. Saul fing sich zwar, aber lief von da an mit einer anderen Aufmerksamkeit, auch wenn er die Geschwindigkeit seines Gangs kaum kontrollieren konnte. Je weiter er nach unten kam, desto schneller bewegten sich die Füße voran, in unaufhaltsamen Schritten stieg er hinab und näherte sich der Ortsmitte. Kaum war er unten, verlangsamte er seinen Marsch, die Steinchen rollten unter ihm davon, er hörte ihr sachtes Aufschlagen auf den Straßenbelag. Bald waren auch die letzten unter ihnen zum Erliegen gekommen, und ganz plötzlich wurde es still um ihn.
Erst als er an die Tür herantrat, wurden Geräusche hörbar – dumpfe Stimmen, Klirren der Gläser. Er legte seine Hand auf das Holz, spürte die seichten Rillen, die sich darauf wie dürre Adern entlangzogen, drückte dagegen, aber es geschah nichts. Die Feuchtigkeit, seit Wochen in der Luft, hatte sich ins Holz eingeschlichen, hatte sich darin breitgemacht und den einfachen Zutritt zur Schankwirtschaft verbarrikadiert. Wäre es nicht der Rahmen, der sie im Griff hielt, wäre die Tür wahrscheinlich weiter angeschwollen, aus dem Viereckigen heraus, wäre immer mehr mutiert, bis zur Unerkennbarkeit, hätte sich von ihrem Zweck gelöst. Aber Saul war hartnäckig geblieben, er drückte fest dagegen, stieß sie mit der Schulter auf und schleuderte sie damit aus der Einzäunung.
Kaum flog sie auf, hafteten einige wenige Blicke auf ihm, flüchtig, um den Neuzugang zu registrieren. Schon wandten sich die paar Köpfe ab und widmeten sich wieder ihrer ursprünglichen Beschäftigung.
Wie üblich blickte Saul als Erstes nach links zu den Vierernischen entlang der Fensterfront, wo er immer saß, erspähte sofort eine freie, die letzte in dieser Viererreihe, steuerte sie an und setzte sich mit dem Rücken zur Wand, sodass er den Überblick über die komplette Wirtschaft behielt. Er lehnte sich gegen den Tisch, beugte sich vor und sah sich um. Kaum wanderten seine Augen über den Tresen, stand der Wirt neben ihm, nickte ihm zur Begrüßung zu und brachte ihm ein Bier. Saul umfasste den verschwitzten Krug, der sofort nach dem Abstellen einen unebenen Ring in den Deckel eingemorscht hatte, und fuhr sich den Rand an den Mund.
Er konnte den Weg des ersten Schlucks genau nachverfolgen, bis dieser im Magen angekommen war. Die Kälte breitete sich in seiner Brust kurz aus, Saul krümmte sich in seinem Mantel zusammen, zog sich wie in einen Panzer zurück. Die Schulternähte, die schon sowieso über dem Oberarmansatz hervorstanden, ragten nun wie Hörner in die Seiten, er versank in diesem Filzkörper, nur der Kopf schaute wie ein lästiges Glied hervor, das nicht zum Ganzen gehören wollte.
Der Krug war nur noch zu einem Drittel gefüllt, und Saul hielt ihn mit beiden Händen auf dem Tisch umfasst. Darüber gebeugt und in sich versunken, hingen ihm die Haare ins Glas, während das Schaummuster an den Wänden immer mehr eintrocknete. Durch die willkürlichen Ornamente starrte er auf den bernsteinfarbenen Inhalt, die Augenbrauen zusammengezogen, die Unterlippe schlaff, glänzte noch von dem letzten Schluck. Saul zog sie ein, nahm den Krug am Henkel und kippte den Rest des Biers hinunter. Das Schaumwölkchen rutschte die glatte Glaswand entlang, kam auf dem Boden auf und glitt ins Flüssige auseinander.
»Ein Zufall war’s und nichts als Zufall.«
»Niemals, es war geplant.«
Der Hinterkopf vor ihm, ein kurzgeschorener, spaltete sich in zwei Stimmen, fiel in zwei Timbres auseinander, die sich gegenseitig widersprachen.
»Wer plant denn so was?«
»Jemand, der einen guten Sinn für Humor hat.«
»Das ist nicht lustig, das ist morbide!«
»Gut, morbiden Sinn für Humor.«
»Du hältst das für witzig?«
»Ich hab gelacht.«
»Die ganzen Leute … die Alten, sie hätten doch vor Schreck umfallen, hätten einen Herzinfarkt kriegen können, einfach so, vor Schock, hast du daran gedacht?«
»Dann hätte man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wo sonst, wenn nicht in einem Bestattungsinstitut krepieren?« Die Stimme hinter dem Hinterkopf lachte.
»Ich fass es nicht!«
»Oh, hab dich nicht so. Ist ja nichts passiert. Wenn was passiert wäre, wäre es überall in den Zeitungen, es ist aber nichts passiert, alle sind anscheinend wieder gesund und munter aus dem Saal marschiert.«
»Das war doch ein Glücksfall!«
»Übertreib nicht.«
»Ich fass es nicht! Du kommst zu einer Beerdigung, siehst den Toten gerade noch im Sarg liegen, aufgebahrt, und schon steht er vor dir! Einfach so! Gerade noch im Sarg und dann plötzlich vor dir! Du drehst dich um – Leiche, schaust wieder geradeaus – Geist! Ich wär selbst vor Schock erstarrt, mir wär das Herz stehen geblieben!«
»War ja kein Geist. War der Bruder, der vor denen stand.«
»Ja das wissen die anderen doch nicht! Die wissen doch nicht, dass der da, der vor ihnen steht, der Bruder ist! Der Tote hat doch niemandem erzählt, dass er einen Zwilling hat, den er zu seiner Beerdigung eingeladen hat, ohne dem Dorf Bescheid zu sagen! Niemand wusste davon! … Du lachst? Das ist krank! Das ist grausam! Das ist ein kaltblütiges Experiment, ein herzloser Scherz, wenn es einer war. Das muss ein Versehen gewesen sein, nein, ich glaube nicht, dass es beabsichtigt war, das ist zynisch, das ist boshaft! Ich kann nicht glauben, dass du darüber lachen kannst! Hör auf!
Das ist Grausamkeit, reine Grausamkeit! Reine Grausamkeit von ihm, reine Grausamkeit von dir! Du lachst? Das grenzt an Psychopathie, so etwas witzig zu finden! Das ist auch Sadismus vom Verstorbenen, Leute da für eine absurde Situation zu benutzen, für einen Scherz, mit ihren Gefühlen, ihrer Gesundheit zu spielen … Warum tut man so was? Das ist doch alles kein Spiel, das ist nicht witzig! Hör auf zu lachen, hör endlich auf damit!«
Der Hinterkopf schlug mit der Faust gegen die Tischplatte, sprang auf, steckte eine Hand in seine Hosentasche, warf einen zerknüllten Geldschein auf den Tisch, quetschte sich aus der Sitznische und eilte davon.
Sauls Atem stockte für eine Sekunde.
Sie saß da, saß vor ihm, ihre Augen trafen sich, als sie, von ihrem Gegenüber verlassen, in aller Ruhe an ihrem Bier nippte. Die zweite Stimme war die ihre, sie hatte ihr Gesicht angenommen, ihren Körper, hatte sich ihr angekörpert, das bekannte Gesicht, das er vor zwei Wochen noch in der Morgendämmerung angebrüllt hatte, das stille, lautlose Gesicht, das seinen stummen Schrei ausgehalten hatte. Sie sah ihn an, das Lachen steckte ihr noch in den Mundwinkeln, steckte noch in ihren Augen, und sie hielt still. Sauls Blick, wie eingerastet, haftete auf ihr. Er starrte sie an, während ihr das Lachen immer mehr aus dem Gesicht wich. Sie blickte zur Seite, schielte nach hinten, ob sein Blick jemand anderem galt als ihr, drehte den Kopf wieder zu ihm und sah ihn an.
»Kannst ja doch reden.« Seine Stimme presste sich durch die unbewegten Lippen.
Sie kniff die Augen zusammen und erwiderte nichts. Die Finger wanderten vom Krughenkel zum Tisch, abwechselnd klopfte sie mit ihnen gegen das Holz, eine Fingerkuppe nach der anderen schlug einen Rhythmus, ihr Blick blieb auf Saul haften.
Er nahm seinen Krug und kippte den Bierrest hinunter, sie tat es ihm gleich.
Während er seine Augen endlich von ihr abwandte und sie über die Wirtschaft wandern ließ, musterte sie ihn. Dann drehte sie ihren Kopf zur Theke, suchte den Blick des Wirts, hob ihre Hand und, sobald er sie registrierte, machte sie aus fünf Fingern zwei. Nur wenig später brachte er zwei Bier, stellte beide bei ihr ab und ging davon.
Q erhob sich, nahm die beiden Krüge in die Hand, trat an Sauls Tisch.
»Ist das jetzt dein Zeichen der Versöhnung?«, brummte er.
Sie quetschte sich in die Nische und ließ sich auf die Bank ihm gegenüber fallen. Schweigend sah sie ihn an, schüttelte unmerklich den Kopf.
»Ein Zeichen der Aufmerksamkeit ist es höchstens, dein Bier ist ja leer.«
Sie hob ihren Krug an und hielt ihn ihm entgegen. Saul tat es ihr gleich, zögerlich, sie stieß mit ihrem gegen seinen und nahm drei große Schlucke. Mit einer Handbewegung wischte sie sich den Schaum von den Lippen weg.
»Du bist der Neue.«
Saul blickte sie wortlos an.
»Ich frag ja nur. Will nur sichergehen.«
Auch diesen Satz ließ er unbeantwortet, sah hinunter zu seinen beiden Händen, die spröden Knöchel von dunkelroten Punkten übersät. Eine verkrustete Streu bedeckte seine Haut. Auf den hervorstehenden, runden Knochen waren tropfenförmige Reliefs verteilt, Blutrinde von Verletzungen, die er nicht wahrgenommen hatte.
»Du bist der, der den Wal angekauft hat, nicht? Diesen Bau am Rand, bei den Äckern.«
Sauls Blick wanderte zu ihr.
»Man spricht von dir, als wärst du ein Gespenst.«
Die Krone auf dem Bier, das für Saul gedacht war, hatte sich im Bernsteinfarbenen aufgelöst. Nur ein schmaler, weißer Ring aus winzigen Bläschen an der Glaswand erinnerte an ihr einstiges Bestehen.
»Kaum einer sieht dich, aber jeder weiß von dir. Sie verschweigen dich alle zwar, finden dich unheimlich, glaube ich, aber wenn sie von dir sprechen, dann so, als gäb’s dich nicht wirklich. Ich dachte ja immer, die hätten dich ausgedacht. Ich frage immer, wie ist er so, aber niemand weiß es, sagen nur, der arbeitet da im Wal, schuftet vor sich hin, aber keiner hat mit dir je ein Wort gesprochen, stimmt’s?«
Saul hatte seine Augen keinen Millimeter von ihr bewegt.
»Bist auch einfach aufgetaucht und verschwunden, da vorm Tal. Wie ein Phantom. Ist ja auch fraglich, ob das Ganze überhaupt stattgefunden hat«, entgegnete er endlich, aber Q nahm bloß einen Schluck von ihrem Bier und sprach, als hätte es seinen Einwurf nicht gegeben:
»Trink doch, worauf wartest du?«
Er musste die Haut am verhärteten Gips aufgeschürft haben, als er versucht hatte, ihn vom Beton zu entfernen. Die frischen Kratzer, deren bräunliches Rot am hellsten war, lagen nur wenige Stunden zurück. Es waren auffällige Schrammen, tiefer als sonst. Saul stierte auf seine Hände und las die Chronik des Tages an der Form, Größe und Verfärbung seiner Verletzungen ab.
»Kann ich mir das mal anschauen?«
Saul hob seinen Kopf, seine Augen wanderten wieder zu ihr.
»Kann ich?«
Er sah zu seiner Hand, sah zurück zu Q, kratzte sich ratlos am Kopf, mit derselben Hand, die sie anscheinend sehen wollte. Er streckte sie ihr zögerlich entgegen, ließ sie ein Stück über die Tischoberfläche gleiten, mit den aufgeschürften Knöcheln nach oben – aber sie sah nicht mal hinunter.
»Wie es innen aussieht. Weiß ja niemand außer dir.«
Das Bier musste ihm in den Kopf gestiegen sein. Das Kinn gesenkt, wanderten seine Augen nach oben, er sah sie ratlos an, eine Strähne rutschte ihm vors Gesicht.
Sie blickte ihm erwartungsvoll entgegen.
Saul öffnete seinen Mund, die Frage steckte ihm schon in den Augen, lag auf seiner Zunge, aber Q kam ihm zuvor:
»An die fünf-sechsmal bin ich die letzten Jahre insgesamt dran vorbeigelaufen, die ersten Male noch vor deiner Zeit hier, das ist schon so lange her, da war der Wal einfach nur ein verlassenes Gebäude, das niemand beachtet hat. Aber kürzlich, da hab ich was gehört drinnen. Und draußen war Schutt, haufenweise. Und mit jedem Mal war ein größerer Berg davor, was ist da denn alles drinnen? Höhlst du den ganzen Bau einfach aus?«, sie sah ihn an und ein Lächeln deutete sich auf ihrem Gesicht an. »Du treibst dem Wal sein Inneres wie einen Dämon aus, hab ich mir beim letzten Vorbeigehen gedacht.«
Saul sah sie an, unmerklich zeichnete sich in seinem Gesicht eine Milde ab. Er umklammerte das Bier mit einer Hand, fuhr den Krugrand an seinen Mund und ließ die fade gewordene Flüssigkeit hineinlaufen. Der Knorpel an seinem Hals sprang geräuschlos nach oben, sprang nach unten, verharrte wie ursprünglich in der Mitte, und der Krug wanderte zurück zum Tisch.