Читать книгу Der Wal - Ally Klein - Страница 5

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2.

Er musste auf dem Stuhl kurz eingenickt sein. Saul öffnete die Augen, das gräuliche Tageslicht hatte jegliche Erinnerung an den Traum ausgelöscht. Er lehnte sich vor, die Glieder, in der morgendlichen Kälte steif geworden, ließen sich nur schwer bewegen. Er beugte den Kopf, buckelte seinen Rücken und spürte jedes Knötchen, das sich in den Muskeln eingenistet hatte. Es rasselte leise aus ihm, über die Dauer des Schlafs hatte sich der übliche Belag in seinen Lungen angesammelt, der dicke, zähe Film hatte seine Lungen eingepuppt, er hustete ihn ab und machte diesem lebensvernichtenden Gespinst mal wieder einen Strich durch die Rechnung.

Saul erhob sich, verließ die Terrasse und setzte einen Kaffee auf.

Der Espressokocher röchelte, lauter als das Geräusch in Sauls Rumpf, er hob frühzeitig den Deckel an, Schaum spritzte aus dem Steigrohr. Er goss den Kaffee in eine kleine Tasse und trank ihn am Herd, gedankenverloren, an die Kochzeile gelehnt. Mit dem Kaffee schnell fertig geworden, stellte er die Tasse auf die heiße Herdplatte – der braune Ring auf dem weißen Boden krustete sofort ein. Er erschrak, als seine Finger den Henkel berührten, um die Tasse in die Spüle zu stellen, sie fiel zu Boden und brach in mehrere grobe Scherben.

Der Bohrhammer drillte sich unter die Fliese. Der schwingende, in seiner Bewegung unsichtbare, aufgelöste Aufsatz stemmte die Fliese hoch, knackte sie entzwei und hinterließ eine Staubwolke, sobald sie auf dem Boden aufkam. Nach und nach fiel eine nach der anderen auf den Beton, krachte auseinander, die Wand wurde nackter, wurde immer kahler, bis sie nichts mehr bedeckte als der verschmierte, verhärtete Zementkleber mit dem Abdruck der Fliesen.

Eine Kolonne der Bruchstücke, aufeinander getürmt, zog sich entlang, eine Zeile geometrischer Körper, durch Zufall bedingter Formen, Mutationen der Mathematik. Saul stellte den Bohrer ab – abrupt kehrte Ruhe in den Raum. Der Lärm echote noch in den Ohren und vertonte so den aufgewühlten Staub, der auf dem Boden landete. Die feinen Körner surrten leise in der Luft, wimmelten herum. Saul stieß mit der Schaufel unter den Haufen, lud einen Teil auf den Schubkarren und fuhr ihn hinaus. Irgendwo draußen hörte man ihn den Schutt kippen, auf einen schon vorhandenen Berg, kippte ihn womöglich in einen Container, Schutt auf Schutt, es hallte von draußen hinein. Er betrat, von einer Staubwolke umrissen, den Raum, packte eine weitere Ladung auf den Karren und kehrte dann erneut vor Staub qualmend zurück. So ging es mehrere Male, bis er endlich mit leeren Händen wiederkam.

Saul steuerte den umgedrehten leeren Wasserkasten an, vor der Wand ihm gegenüber, setzte sich darauf und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Beton. Das Licht, das von oben fiel, erhellte sein Gesicht, blendete, sodass er die Augen schließen musste, und wärmte die Haut.

Blind kramte er die Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche, drehte sie schräg auf den Kopf, klopfte auf den Packungsboden. Mit dem Filteransatz zuerst fiel aus der spärlichen Öffnung eine Zigarette heraus, Saul löste den Kopf von der Wand, öffnete die Augen, klemmte sich das Mundstück zwischen die Lippen und hielt das Feuer ans Ende. Sobald die Zigarette zündete, ließ er sich wieder zurückfallen und atmete aus.

Die Glut fraß sich durch den trockenen Blätterschnitt und ergraute zu Asche. Der Schwanz des Dunstes verschwand beim ersten Zug in der Mundhöhle, Saul hustete auf, als der Rauch in seine Lungen drang, er beugte sich vor, hustete in die schlaffe Faust und lehnte sich wieder nach hinten.

Winzige Staubpartikel umschwirrten ihn, ahmten grob seine Silhouette nach. Sie wagten kaum, ihn zu berühren, den unantastbaren, warmen Körper. Eine trübe Materie bildete einen Kranz um ihn, ein sanfter Schimmer umhüllte seine Gestalt, ein Schwarm aus Leuchtpartikeln, die mit ihren winzigen Körpern um ihn herum stoben, von seiner Statur gefangen genommen. Manche schafften es nicht länger, sich in der Luft zu halten, senkten sich nieder, bedeckten allmählich seinen Körper, seine Schultern, ließen sich auf seine Haare hinab.

Die Zigarette aschte sich auf den kahlen Boden ab, bis die Glut am Filter scheiterte. Saul warf den Stummel auf den Haufen, den er am vorigen Tag zusammengekehrt hatte, Überbleibsel des Schutts, zu fein für die Schaufel, Zementpulver, Mörtelasche, die sich in der Ecke türmten. Er betrachtete die leeren Wände, auf die der Besitzer vor ihm diesen Zementbrei geklatscht hatte, um sie dann zu fliesen. Diesen aschfarbenen, weichen Beton hatte man mit Kacheln vollgekleistert, den seelenlosen, falben, in Farbe einer kränklichen Haut. Auf diesen Beton hatte man Gips geschmiert, seine Zartheit bekleckert und eine Kachel nach der anderen aufgedrückt. Mit seinen Händen, seinem Gewicht hatte dieser Mensch eine Fliese nach der anderen hineingeprägt, hatte sich hineingeprägt, seine Vorstellung von diesem Raum, sein Ich. Die gefliesten Wände hatten dieses Ich ausrufen sollen, jede Fliese hatte Ich! gerufen, ich, ich, ich, ich, Ich. Man hatte diesen Wänden ein Ich aufgedrängt, gegen ihre eigene Identität verstoßen, diese zurückhaltende, bescheidene Identität. Überall, in jeder Fliese, jedem Zwischenspalt, jedem Winkel hatte man dieses fremde, dem Menschen zugehörige Ich eingefangen. Man hatte alle vier Betonwände in Ich-Vierecke eingegittert, einen Käfig hatte man aus ihnen gemacht, man hatte sie in Gefangenschaft genommen, in Verwahrung eines Ichs gebracht.

Tagelang hatte Saul die Fliesen abgetragen. Jeden Zentimeter hatte er mit dem Bohrhammer bearbeitet, jede Kachel sorgfältig entfernt und die Wände ihrem ursprünglichen Zustand näher gebracht. Die Überbleibsel dieser Ich-Vereinnahmung hatten aufgetürmt auf dem Boden gelegen, alles, was vom Menschen übrig blieb, waren Häufchen seines Willens, kleine Zeilen seines Seins.

Noch bedeckten eingehärtete Zementbuckel, höckerige Kleberreste und Schmierereien aus Gips die Wände, aber langsam offenbarte sich der Beton unter ihnen. Ein ins Bläuliche abdriftender Gigant, den diese Parasiten befallen hatten.

Saul ließ sich das Gesicht vom Licht erwärmen. Eine ganze Weile saß er noch mit geschlossenen Augen gegen die Wand gelehnt. Sobald der Schein aber zu schwinden begann, erhob er sich, packte seine Sachen zusammen und verließ den Wal.

Der Wal

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