Читать книгу Die Hegerkinder im Gamsgebirge - Alois Theodor Sonnleitner - Страница 6
Aufgeteilt.
ОглавлениеAm liebsten hätte der gute Moasen-Thomerl seine vier Mündel bei sich behalten im Haus; aber er war zu arm. Sein Handwerk nährte ihn und sein Töchterlein nur so, dass sie gerade noch satt wurden. Seitdem eine Menge Händler schöne und billige Schuhe verkauften, wie sie in den Fabriken hergestellt werden, liess selten jemand bei dem Dorfschuster ein Paar nach Mass machen. Zu flicken hatte er genug, aber das trug nicht viel ein.
Da war es für ihn die erste Sorge, die drei Knaben anderwärts unterzubringen; sie mussten aufgeteilt werden. Aber zu guten Menschen sollten sie kommen, dass sie nicht verdürben. Die beiden schulmündigen Ziehbrüder, Franzel und Bertel, mussten sich jetzt entscheiden, was sie werden sollten. Der Vormund befragte die Knaben darum und suchte Rat beim alten Oberlehrer Leitel und beim neuen Oberlehrer Wagner, aber auch bei den Forstleuten. Franzel wäre am liebsten Jäger geworden, aber er hatte auch Lust zum Schlosserhandwerk. Bertel, der ein sehr gutes Entlassungszeugnis hatte und der seinen Oberlehrer Wagner als Vorbild verehrte, bat, der Vormund möchte ihn Lehrer werden lassen.
Gern hätte dieser ihm willfahrt, aber er hatte Angst, die Mittel für das lange Studium nicht aufbringen zu können. Hiezu kam, dass der Forstmeister, der ihm für Liesel einen Erziehungsbeitrag zu erwirken versprach, sich bereit erklärte, den Bertel sofort als Forstpraktikanten anzunehmen und für dessen spätere kostenlose Unterbringung in der Aggsbacher2 Forstschule zu sorgen.
In seiner Armut unfrei, ergab sich Bertel in das von dem wohlwollenden Herrn bereitete Schicksal. Der Gedanke, dass sein Vater in treuer Pflichterfüllung dem Messerstich eines Strolches erlegen war, erfüllte ihn mit einem Ernste, der ihn älter erscheinen liess, als er war. Als Forstpraktikant wurde er dem Oberförster in Wolfsgrund3 zugeteilt und tat schon am dritten Tage nach dem Begräbnis als Aufseher Dienst beim Holzschlagen. In den Augen der Taglöhner war der junge Forstpraktikant eine Amtsperson wie jede andere. Sein Dienstkleid gab ihm das Ansehen; der graue Lodenrock mit grünen Tuchaufschlägen kleidete ihn gut; das vergoldete Eichenlaub am Kragen, der schwertartige Hirschfänger an der Seite und die alte Büchsflinte, welche er als Erbstück vom Vater übernommen hatte, sie waren Abzeichen seiner Pflichten und Rechte. Und bei seinen Dienstgängen war Treff, der Hund, den der Vater aufgezogen hatte, sein lieber Begleiter.
Der kleine Biberhaufen, in dem des Vaters verlassene Hegerei stand, gehörte in Bertels Revier; da wollte er öfter nachsehen und in der Nähe des Hauses einen blinden Schuss abgeben, damit sich kein ungebetener Besucher herantraue. Die Forstverwaltung besetzte den Asperner Hegerposten nicht wieder und beabsichtigte, das alte Haus abtragen zu lassen, weil dessen Mauerwerk gelegentlich der Überschwemmungen durch aufgesaugtes Grundwasser arg gelitten hatte. Das Gebäude war ja nicht unterkellert.
Liesel, die noch ein Jahr in die Schule zu gehen hatte, blieb beim Vormund im Haus.
Regerl war glücklich, dass die nur um zwei Jahre ältere Freundin von nun an mit ihr hausen sollte. Freilich, wenn die Liesel schulmündig wurde, dann musste sie irgendwohin in die Lehre, sie wollte ja Schneiderin werden.
Franzel und Sepperl, die zwei Pflegekinder des verstorbenen Hegers, machten dem Moasen-Thomerl mehr Sorge. Für die war vom Forstamte keine Hilfe zu erbitten; sie waren ja nicht leibliche Kinder des Forstbediensteten. Und an die Gemeinde Gaming, wohin die Kinder zuständig waren, wollte der Schuster die Kinder nicht abgeben. Dort war ja der Vater der Waisen als Wilddieb und Schnapstrinker ins Unglück gekommen. — Und der gewissenhafte Fürsorger fürchtete, die Knaben könnten auch missraten. Wusste er denn, zu wem man sie in Pflege geben würde?
Weil für Franzel im Lobauer Revier keine Praktikantenstelle zu haben war, fügte er sich darein, das Schlosserhandwerk zu erlernen; er bastelte ja von jeher gerne. Wo aber nur geschwind eine Lehrstelle für ihn finden, nicht zu weit weg, dass der Vormund nachschauen könnte?
Sepperl, der hochaufgeschossene Jüngere, der noch ein Jahr in die Schule zu gehen hatte, erklärte einfach: „I bleib bei der Liesel.“ Da musste der Moasen-Thomerl lachen: „Mein lieber Sepperl, ich kenn dich als Friessniggel, bei mir tät’st du wohl nit satt werden!“ Der Bub tröstete sich: „So geh i halt zum Gschaider-Onkel ins Gamsgebirg.“ — „Der kann di brauchen, wohl, wohl“, versetzte der Schuster und nickte beifällig: „Der hat Küah auf der Fadenwiesen und hat mit fremden Leuten sein’ Plag. Kehren ja die Touristen bei ihm ein, die über’n Fadensteig auf ’n Schneeberg wollen. Mit Küahhalten und Heugna4, mit Hilf im Haus und Fremdenführen kannst dir bei ihm den Sterz und die Milchsuppen verdienen ausser der Schulzeit.“ So schrieb denn Liesel, die am besten mit der Feder umzugehen wusste, einen Brief an den Gschaider-Onkel in Losenheim am Schneeberg, ob er den Sepperl zu sich nehmen wollte.
Nun kamen sorgenvolle Tage für den Flickschuster.
Vom Vormundschaftsgericht, das als Testamentsvollstrecker sich um das Erbe der Waisen bekümmerte, kam eine Schätzungskommission, der auch der Bürgermeister von Aspern zugezogen wurde, und nahm das Verzeichnis der Hinterlassenschaft des verstorbenen Hegers auf. Der Moasen-Thomerl musste aufs Bezirksgericht, um als Vormund der Waisen das Angelobungsformular zu unterschreiben. Er übernahm die Pflicht, das Erbgut der Kinder zu bewahren und zu verwalten. Was er nicht in seinem kleinen Anwesen bergen konnte, musste er verkaufen und das Geld bei der Waisenkasse des Steueramtes hinterlegen.
An den Notar war ein Bericht über den Nachlass zu schicken. Da kam dem Moasen-Thomerl der Student Dressler als freiwilliger Helfer zurecht.
An einem Montag war’s, es ging schon auf Mittag; mit fröhlichem „Grüss Gott!“ trat der junge Mann in die Werkstatt des Schusters, warf seinen prall gefüllten Rucksack in einen Winkel, den Lodenhut dazu und setzte sich auf die Ledertruhe neben dem Werktisch.
„Ich muss allweil an die armen Hegerkinder denken und an Euch, lieber Meister,“ begann er; „Ihr habt Euch ein bisserl zu viel aufgeladen: die Sorg um vier Waisenkinder! Vier! — Allein zwingt Ihr’s nicht.“
Der Schuster sah dem Studenten erwartungsvoll in das vom dünnen, dunklen Vollbart umrahmte Gesicht. „Besser schon, als einer, der’s mit der Vormundschaft leicht nimmt; — wann ich nur schon eine Lehr hätt für’n Franzel — aber es müsst in der Näh sein, wo ich auf ihn schauen könnt; er is a Malefiz5-Schlankel!, der Franzel; hat dem Heger g’nug zum Auflösen ’geben. Ich mein’ allweil, er kunnt leicht sein’m Vater nachg’raten, der war soviel unbändig.“ — „Wie meinen Sie das? War er ein Raufer?“ — „Dös aa; ’s hat überhaupt ka Z’ruckhalten geben bei dem, wenn ihn was g’razt6 hat. — Ob’s ein Glasel Schnaps war oder ein Stück Wild im Gaminger Gebirg, oder ob ihn einer durch ein Wort schiach7 g’macht hat, er hat si nit zügeln können.“
„Aha, ich verstehe: in ihm waren die Begierden zu stark und die Gewissensstimme war zu schwach. Da hat er sich nicht abhalten lassen, wann er in eine Versuchung gekommen ist.“ — „Ja, so war er und so is der Franzel. Aber der Bub hat auch einen guten Kern; es wär’ schad um ihn. Drum will ich den Franzel nit aus den Augen verlieren, muss schauen, dass er sich eing’wöhnt in ein ordentlich’s Leben unter die Leut.“ — „Sie können doch nicht allweil um den Buben sein; Ihr Handwerk lässt Ihnen dazu nicht die Zeit“, wendete der Student ein; „ich weiss aber einen, der die Zeit hat und den guten Willen und das nötige Geld. Der kümmert sich weit und breit um die Waisenkinder. Ein richtiger Vater der Waisen.“ — „Wer?“ — „Es ist der Professor Hyrtl8.“ — Der Schuster schüttelte den Kopf: „Hyrtl? — kenn i nit.“ — „Ein alter Professor der Anatomie.“ — „Anatomie? Was ist denn das wieder?“ — „Das Zerschneiden von Leichnamen zum Zwecke der wissenschaftlichen Erforschung.“ — „Hm“, machte der Schuster und schüttelte seinen grauen Kopf. „Und so ein Leichenzerschneider sollt ein Herz haben für arme Waserln? I kann’s net glauben.“
Da entnahm der Student seiner Brieftasche ein Schreiben und öffnete es. Ein Lichtbild kam zum Vorschein. Das zeigte er dem Schuster: „Da hab ich seine Photographie. Die hab ich von ihm bekommen zum Andenken. Wohl hätt ich ihn auch ohne dieses Bild mein Lebtag nicht vergessen. Hat er doch für mich acht Semester lang die Kollegiengelder9 gezahlt und dazu einen Verköstigungsbeitrag zu einer Zeit, wo ich noch nicht genug Nachhilfeunterricht geben konnte, um mich durchzubringen. Schaun Sie sich den Hyrtl einmal an: Die Augen! Die Augen! Da leuchtet Güte und starker Wille heraus! Und die paar Falteln in seinem Gesichte, die kommen vom Lachen her. — Der gute Hyrtl lacht gern und macht oft einen feinen Witz, dass auch andre lachen.“
„Bei seinem traurigen G’schäft?“ fragte der Schuster. — „Der wär traurig gewesen, wenn er nicht Leichen sezieren10 hätt’ dürfen. Es hat eine Zeit gegeben, wo es den Ärzten verboten war, an menschlichen Leichnamen zu studieren. Da haben sie keine Ahnung gehabt, wie es im menschlichen Leib ausschaut, wie die Knochen aneinandergefügt sind, wie die Adern und die Nerven verlaufen, wie das Herz und die Nieren, die Lungen und die übrigen Eingeweide gebaut und eingelagert sind. Und wenn sie helfen wollten, haben sie manchen falschen Schnitt getan; in der guten alten Zeit sind Tausende von Menschen nur darum an Wunden und inneren Krankheiten gestorben, weil die Ärzte das Wichtigste nicht gewusst haben, nämlich, wie der wunderbare innere Bau des Menschenleibes beschaffen ist.“ — Der Schuster nickte; es leuchtete ihm ein. „Hyrtl hat vierzig Jahre seines Lebens damit verbracht, Ärzten und Studenten, die Ärzte werden wollten, genauen Unterricht zu geben über das Innere des menschlichen Leibes. Er hat aber auch einzelne Organe, ich meine damit Lebenswerkzeuge, wie Gehirn, Herz, Nieren, Augen, Ohren, so gut vor dem Verderben bewahrt, dass sie immer wieder von den Studierenden angeschaut werden konnten. Er hat die Organe durch Einlegen in fäulniswidrige Flüssigkeiten oder durch Einspritzungen ‚präpariert‘. Und alles hat er so säuberlich hergerichtet, dass seine anatomischen Präparate wegen ihrer Reinheit und Genauigkeit bewundert und verlangt wurden. Die hat er an alle Museen und Universitäten der Welt verkauft. Und sie sind ihm noch besser gezahlt worden als seine anatomischen Lehrbücher; die hat er nicht nur deutsch, sondern auch lateinisch geschrieben, damit sie von den Gelehrten anderer Völker studiert werden konnten. Und ihm zulieb sind Studierende aus Amerika, aus Ägypten, China und Japan nach Wien gekommen und haben sich als seine Hörer an der Wiener Universität aufnehmen lassen. Tausende von Ärzten in allen Erdteilen verdanken es unserem Hyrtl, dass sie wissen, wie sie den Kranken helfen sollen. Gar nicht ausdenken kann man’s, wieviel Millionen Menschen in allen Erdteilen das Leben ist gerettet worden von Hyrtl-Schülern. Dafür aber ist ihm auch schon zu seinen Lebzeiten ein marmornes Denkmal gesetzt worden im Laubengang der Wiener Universität.“ — „So einer ist das!“ rief der Schuster aus, „also ein ganz Grosser!“ — „Ja, ein ganz grosser Helfer. — Hyrtl ist nicht nur der berühmteste Anatom der neuen Zeit, er ist einer der warmherzigsten Menschen überhaupt. Das wissen wir armen Studenten, denen er die Studienkosten, Wohnung und Nahrung zahlt, das wissen auch die Waisenkinder, für die er sorgt wie ein Vater. Er ist einer, der nicht nur Gutes tun will, sondern auch kann. Durch seine Arbeit ist er ein vielfacher Millionär11 geworden und lebt dabei so bescheiden wie unsereiner. Da hat er viel Geld übrig für andre.
Er hat es nicht vergessen, dass er selbst als Sohn eines armen Musikanten12 von guten Menschen ist unterstützt worden, dass er nur dank der Hilfe von Wohltätern etwas Ordentliches lernen konnte. Weil er aber denen, die ihm geholfen haben, die Guttaten nicht zurückerstatten kann, tut er wieder anderen Gutes, jungen Leuten und Kindern, damit aus ihnen brauchbare Menschen werden. Und die helfen dann wieder anderen.
Wohl haben Hyrtls Augen besonders beim anstrengenden Schauen durchs Mikroskop13 arg gelitten. Dafür haben die Studenten der Medizin an den Universitäten von ihm Lernmittel, dass sie schauen können, wie der menschliche und der tierische Leib in seinen Teilen und Teilchen gebaut ist.
Im Jahre 1874 waren Hyrtls Augen infolge der vierzigjährigen Überanstrengung so geschwächt, dass er sich entschliessen musste, sein Lehramt an der Universität aufzugeben. Seitdem lebt er in Perchtoldsdorf in seinem bescheidenen Haus nah der Burgruine. In der hat er seine Bücherei untergebracht14.
Aber er lebt da nicht als Verdrossener, obwohl er dem Erblinden nahe ist. Immer darauf aus, andern zu helfen, freut er sich, dass sich viele finden, denen er helfen kann. Und weil er selber keine Kinder hat, nimmt er sich am liebsten um Kinder an, die keine Eltern haben.“
Des Schusters Augen waren gross geworden in andächtiger Bewunderung.
Er fragte bange: „Na, ja, wenn er schon so viele hat, um die er sich annimmt, ob er auch noch den Franzel wird mögen, wenn ich ihm den ans Herz leg?“
„Das besorg lieber ich“, versetzte der Student. „Ich schreib ihm. Ich mach ihm eine Freud damit, dass ich ihm ein armes Kind zuführ. So kenn ich den Hyrtl.“
Der Schuster stand von seiner Werkbank auf, kramte Papier, Feder und Tinte aus der Tischlade und nötigte den Studenten ins anstossende Zimmer: „Da haben Sie Ruh zum Schreiben, je eher, desto besser.“
Indes kamen Liesel und Regerl vom Hofe herein, jede mit einem Arm voll Kleinholz, das sie hinterm Herd an der Wand aufzuschichten begannen.
Ihnen auf dem Fusse folgte Franzel mit einem Kruge voll Milch. Er kam aus der Hegerei, wo der Sepperl als Haushüter zurückgeblieben war, bis ihn der Hiasel vom Buschenwirt ablösen würde.
Der Student hatte seinen Brief beendet, liess ihn vom Moasen-Thomerl als dem verantwortlichen Vormund mit unterschreiben und übergab ihn dem Franzel, dass er ihn zur Post trage.
Da tat der Alte einen tiefen Atemzug: „Ein Stein ist mir vom Herzen gefallen.“ — Gleich darauf aber fügte er doch wieder kleinlaut hinzu: „Kann ich mich wirklich darauf verlassen, dass er den Buben nimmt, der Hyrtl?“ — „Ja, auf den Hyrtl kann man sich verlassen; er ist immer der Gleiche. Die Leute heissen ihn den Weisen von Perchtoldsdorf. Und ‚weise‘ ist das höchste Lob, das einem Menschen werden kann. Weise sein, heisst mehr als gescheit sein. Es heisst, das Rechte kennen und wollen und unwandelbar tun.“