Читать книгу Truth about Lies - Aly Martinez - Страница 6

1 Cora

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Vier Jahre später...

„Scheiße!" Ich warf die Decken zurück und sprang aus dem Bett. Ein scheußliches Dröhnen ertönte vom Wecker am anderen Ende des Raumes. Ich wusste schon, warum ich ihn auf keinem der beiden nicht zusammenpassenden Nachttische stehen hatte. Die Schlummertaste zu drücken, war so ziemlich das Einzige, was ich um diese Uhrzeit hinbekam. Aber es schien, als beherrschte ich endlich die hohe Kunst, durch das Weckgeräusch zu schlafen.

"Scheiße", wiederholte ich, als ich über mein Lehrwerk für Buchhaltung stolperte. Ich erinnerte mich noch vage an den dumpfen Aufschlag, als es auf den Boden fiel, kurz nachdem ich beim Lernen eingenickt war.

Wie dumm. Wie dumm. Ich konnte es mir nicht leisten, diesen Fehler noch einmal zu machen. Was wäre, wenn...

Nein. Kein Was-wäre-wenn! Ich lebte im Heute. Nicht in der Vergangenheit. Nicht in der Zukunft. Im Heute.

Ich hob die Matratze vom Boden ab und schob das Buch mit dem Zeh darunter, wobei ich darauf achtete, dass es tief genug lag, damit die Wölbung, die es verursachte, nicht auffiel.

Danach schnappte ich mir meinen neuen türkisfarbenen Bademantel vom alten Schaukelstuhl, der mir zusätzlich als Wäschekorb für „saubere“ Wäsche diente, und zuckte mit den Achseln. Ich hätte diesen Bademantel nicht kaufen sollen; er kostete ein kleines Vermögen, obwohl er vom Discounter war. Aber ich hasste es, in etwas mehr als einem Tank Top und einem Höschen zu schlafen. Da es so viele "Notfälle" um Mitternacht gab, darunter auch solche, bei denen ich vergaß, was ich anhatte, und praktisch nackt aus meiner Wohnung rannte, hatte ich beschlossen, dass es an der Zeit war, in etwas zu investieren, das zumindest meinen Hintern bedeckte.

Ich band mein langes blondes Haar zu einem Pferdeschwanz hoch und eilte zur Schlafzimmertür. Ich brauchte beide Hände, um den widerspenstigen Riegel mit Gewalt zu öffnen und dann die Kette beiseite zu schieben. Gleichzeitig machte ich mir eine geistige Notiz, um etwas Schmiermittel zu besorgen, und fügte es den Prioritäten meiner To-Do-Liste hinzu, die so lang war, dass man sie um die Erde wickeln könnte – zwei Mal.

Mit nackten Füßen tapste ich über den abgenutzten Hartholzfußboden des kurzen Flurs. Es war nicht die absichtlich herbeigeführte Art von Abnutzung, die diese winzige Wohnung charmant und rustikal erscheinen lassen sollte, sondern eher die Art, die besagte, dass es mindestens drei Jahrzehnte her war, dass jemand diesen Bodenbelag mit etwas anderem als Verachtung behandelt hatte. Aber selbst eine Flasche Holzöl konnte keine Wunder wirken. Und in den zwölf Jahren, die ich hier lebte, hatte ich so ziemlich alles ausprobiert.

Ich hielt meinen Bademantel mit einer Hand geschlossen und klopfte an die Tür des Mädchenzimmers. Sie hassten es, einen so kleinen Raum zu teilen, aber nachdem ich dem ständigen Gezänk und Streit in den letzten sechs Wochen zugehört hatte, war ich mir sicher, dass ich es noch mehr hasste. In einer Wohnung mit zwei Schlafzimmern und achtzig Quadratmetern waren unsere Schlafmöglichkeiten begrenzt.

"Mädchen, steht auf! Ich habe verschlafen. Ihr werdet zu spät zur Schule kommen."

Schweigen. Zum Teufel, war das nicht zwei Uhr morgens gewesen, als sie noch um einen Lockenstab kämpften?

"River. Savannah. Auf. Jetzt! Ich kann euch heute Morgen nicht fahren, wenn ihr den Bus verpasst." Ich klopfte lauter an ihre Tür, aber mit dreizehn und sechzehn Jahren hätten sie auch weiterschlafen können, wenn ich mit einer Abrissbirne im Miley-Cyrus-Stil in ihr Zimmer gekracht wäre. "Mädchen! Kommt schon, Mädels! Ich habe keine Zeit für so was. Steht auf und zieht euch an!" Ich rüttelte an dem Türknauf und stellte fest, dass er sich in meiner Hand drehte.

Panik stieg in mir auf und ich bekam eine Gänsehaut, als sich die Tür knarrend öffnete.

Keine Sperre. Kein Riegel. Keine Kette.

Nichts, um diese beiden unschuldigen Kinder vor den Monstern zu schützen, die um uns herum lauerten.

Mein Herz krallte sich in meine Kehle, als ich in den Raum stürzte. Der Anblick von Rivers dunklem Haar, das sich über ihr Kissen ergoss, und ihrer Wange, die kaum unter ihrer gepunkteten Bettdecke hervorlugte, verdrängte vorübergehend meine Ängste.

Die Matratze auf dem Boden neben ihrer war jedoch herzzerreißend leer.

"Wo ist sie?", rief ich und riss River die Decke weg. Sie war wie ein Burrito eingewickelt und fiel zu Boden.

"Jesus, Cora", klagte sie und rieb sich den Schlaf aus ihren großen, braunen Augen.

Ich hockte mich vor sie hin und drückte ihr mit einer Hand die Backen zusammen. Ich zwang sie, mich anzusehen und wiederholte langsam: "Wo...ist...sie?"

Ihre Augen richteten sich auf Savannahs Schlaflager, ein ähnlicher Schrecken, wie er auch mich ergriffen hatte, blitzte in ihrem Blick auf. "Ich... ich weiß es nicht."

"Ist jemand reingekommen?"

Sie schüttelte den Kopf.

"Bist du sicher?"

Sie klang eher wie ein Kind, so hatte sie sich seit Jahren nicht mehr angehört, und quietschte: "Ja. Glaubst du vielleicht, dass er..."

Sie brauchte es nicht zu sagen. Was diesen Alptraum anging, war ich ihr weit voraus.

Ich sog einen, wie ich hoffte, beruhigenden Atemzug ein und versuchte, mich auf die logischste Erklärung zu konzentrieren.

Aber wir führten kein logisches Leben. Das Schreckliche und Außergewöhnliche war viel normaler als das Gewöhnliche.

Savannah lebte seit sechs Wochen bei mir, aber es war nicht das erste Mal, dass sie sich hinausgeschlichen hatte. Und, Gott, ich betete, dass sie sich nur rausgeschlichen hatte.

"Es wird alles gut", beruhigte ich River mit einer Lüge.

Ihre langen, schwarzen Wimpern schlugen auf und ab, als sie nickte. "Sie hängt wahrscheinlich im ersten Stock rum."

Toll. Jetzt beruhigte sie mich.

Ich klopfte ihr auf die Wange und erhob mich. "Du ziehst dich an und ich werde sie suchen gehen. Pack eure beiden Lunchpakete ein. Okay?"

"Ja", flüsterte sie, statt wie üblich zu streiten.

Nach einem kurzen Halt, um die Gebäudeschlüssel aus dem feuerfesten Safe in meinem Schrank zu holen, ging ich zur Vordertür hinaus. Der kalte Beton war unangenehm unter meinen Füßen, als ich die Treppe hinunter marschierte. Ich hatte es erst in den zweiten Stock geschafft, als eines der neuen Mädchen, deren Namen ich mir noch nicht gemerkt hatte, versuchte, mich aufzuhalten.

"Cora!"

"Nicht jetzt", unterbrach ich sie.

Sie lehnte sich über das Metallgeländer, als ich hinunterrannte. "In meinem Zimmer tropft Wasser von der Decke."

Ich zuckte mit den Schultern. Das Gebäude war schon am Zerfallen so, wie es war; wir brauchten keine Flut, um den Prozess zu beschleunigen.

"Ruf Hugo an!", antwortete ich, ohne langsamer zu werden.

"Er ist damit beschäftigt, Kerris Klimaanlage zu reparieren."

"Vergiss die Klimaanlage. Sofern Hugo dieses Gebäude nicht mit seinen bloßen Händen aufrecht hält, hat eine Überschwemmung Vorrang vor allem anderen."

"Richtig", höhnte sie und verschwand.

In meiner Eile, in den ersten Stock zu kommen, nahm ich eine Kurve zu eng und rammte mir das Geländer in die Seite. Selbst mit der Bräune, die ich dank einer Frühlingshitzewelle hatte, würde das einen höllisch blauen Fleck hinterlassen. Aber Schmerzen waren für mich nichts Neues. Blutergüsse leider auch nicht.

"Cora!", rief Brittany, als ich an ihrer offenen Wohnungstür vorbeistürmte.

"Nicht jetzt!", antwortete ich.

Sie joggte, um mit mir Schritt zu halten. "Ava ist noch nicht zu Hause."

Ich starrte zu der Wohnung am Ende des Flurs. "Dieser reiche lateinamerikanische Typ hat sie über Nacht mitgenommen.“

"Was!", schrie sie. "Warum hat sie mir nichts gesagt?"

Ich rollte mit den Augen. "Äh, weil der erwähnte reiche Typ dich vor ein paar Wochen über Nacht mitgenommen hatte und nicht noch einmal nach dir gefragt hat, als er Marcos gestern Abend eine E-Mail schickte.“

"Diese verdammte Schlampe!"

Ich blickte über meine Schulter und sah, wie sie stock-steif mit geschürzten Lippen in der Mitte des Außenflurs stand.

Hervorragend.

"Darüber reden wir später", sagte ich und hämmerte mit den Fäusten an die Tür von Apartment 108. Der Geruch von Gras, der aus der Ritze am Boden wehte, gab mir einen Hoffnungsschimmer. "Chrissy, mach auf!" Ich fummelte an meinem Schlüsselbund auf der Suche nach dem richtigen Schlüssel.

Angela stolzierte aus ihrer Wohnung nebenan heraus und lehnte sich mit der Schulter an den Türpfosten. Sie war immer noch vollständig bekleidet, mit einem kaum vorhandenen Rock und einem bauchfreien Top.

"Alles in Ordnung, Cora?", fragte sie.

Ich klopfte erneut an Chrissys Tür, richtete meine Frage aber an Angela. "Hast du Savannah gesehen?"

"Nein, aber ich bin erst vor ein paar Minuten nach Hause gekommen." Ihre prallen, roten Lippen verzogen sich zu einem strahlenden Lächeln. "Ich war gestern Abend wahnsinnig beschäftigt."

Sie wartete auf anerkennende Worte. Etwas, das ich ihr gewöhnlich freiwillig gab, egal wie sehr es mich anwiderte. Aber ich war einfach nicht fähig dazu, während ich mitten in einem Nervenzusammenbruch steckte.

Nachdem ich endlich den richtigen Schlüssel gefunden hatte, schloss ich die Tür auf und stürmte hinein. Na ja, fast wäre ich hineingestürmt. Die Tür verfing sich am Kettenschloss, so dass ich mit dem Gesicht in das Holz knallte.

"Verdammte Scheiße...", rief ich aus und hob meine Hand zum Gesicht. Blut tropfte aus meiner Nase. Ohne nachzudenken, wischte ich es am Ärmel meines nagelneuen Bademantels ab.

Fan-fucking-tastisch!

Blutend und jetzt wütender als vorher, schrie ich durch die Ritze: "Chrissy! Mach die verdammte Tür auf!"

Ihr fleckiges Gesicht zeigt sich in dem engen Spalt. "Verdammt noch mal, kann ein Mädchen nicht etwas Frieden finden und... Oh, hey, Cora", schnurrte sie herablassend und enthüllte zwei Reihen gelber Zähne, als sie lächelte.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten an meinen Seiten, und der Wunsch, ihr eine davon ins Gesicht zu knallen, übermannte mich beinahe. "Ist Savannah bei dir?"

Sie hob einen Joint an ihre Lippen, nahm einen Zug und antwortete dann in einer Rauchwolke: "Was ist mit deiner Nase passiert?“

"Ich bin nicht in der Stimmung für deinen Blödsinn, Chris. Ist sie bei dir?"

Ihre rauchige Stimme wurde zuckersüß. "Nun, du hast mir doch gesagt, ich soll sie nicht mehr hier rumhängen lassen."

Dieses Miststück.

"Das war keine Antwort auf meine Frage.“

Ruhe zu bewahren, war meine Spezialität. Wenn man so etwas wie die Hausmutter von über dreißig berufstätigen Mädchen ist, deren Zahl von Tag zu Tag variiert, lernt man, welche Kämpfe man austragen möchte. Fehlt Geld? Du ziehst in die Schlacht. Fehlt ein Lippenstift? Du hältst dich raus. Gibt es Zickenkrieg um einen Kerl? Lass sie es ausfechten. Gibt es Zickenkrieg um einen Kerl, bei dem eine Frau ein Fleischermesser zieht und die andere Frau durch das Gebäude jagt? Lerne, wie man einer Schlampe mit einem Wasserschlauch ein Bein stellt.

Gehässigkeit war etwas, an das ich mich gewöhnt hatte. Besonders von Chrissy. Aber genau in diesem Moment war ich gefährlich nahe daran, den Vulkan, der in mir brodelte, ausbrechen zu lassen. Ich hatte keine Zeit für ihre kleinen Spielchen. Aber wenn sie spielen wollte... dann würde ich verdammt noch mal gewinnen.

"Du hast zwei Sekunden, mir zu sagen, ob sie da drin ist, bevor ich Dante anrufe."

Es war keine Drohung. Es war ein Todesurteil. Und keines, das ich leichtfertig aussprach. Aber es gab nicht viel, was ich nicht für Savannah tun würde.

Sie blinzelte, aber ihr Lächeln verschwand schnell. "Sie kam mitten in der Nacht zu mir. Was hätte ich tun sollen?"

Ich stieß die Luft aus, in einer Kombination aus Erleichterung und Wut.

"Lass mich rein", forderte ich.

"Cora, im Ernst. Ich habe nicht..."

Ich brachte sie mit einem wütenden Blick zum Schweigen. "Zwinge mich nicht, es dir noch einmal zu sagen."

Die Tür schloss sich und ich hörte das Gleiten der Kette, bevor sie aufschwang.

Ich streifte sie absichtlich mit meiner Schulter, als ich sie nach innen drängte. Gott, dieser Ort war ein Höllenloch. Keine der Wohnungen in diesem dreistöckigen Gebäude, das fünfzehn Apartments enthielt, konnte man als schön bezeichnen, aber die meisten Mädchen waren stolz auf das Wenige, das sie hatten, und verwandelten ihre Räume in etwas Bewohnbares. Chrissy allerdings nicht. Ich war mir nicht sicher, ob sie jemals die Böden gewischt hatte. Ganz zu schweigen von der Küche oder, Gott bewahre, dem Badezimmer.

Mein Magen drehte sich, als der Gestank von Marihuana und Dreck in meine Nase drang.

Und dann wurde mir aus einem anderen Grund schlecht.

Auf einem Sofa, das einst braun gewesen war, bei dem aber so viel vom Leder abgeblättert war, dass es nun größtenteils aus weißem Geflecht bestand, schlief Savannah tief und fest, umgeben von Bierdosen und Fast-Food-Verpackungen, eine Pfeife noch immer in ihrer Hand.

Diese Szene wäre für jedes Elternteil der schlimmste Alptraum gewesen. Aber ich war nicht ihre Mutter, und ich war stolz zu sehen, dass sie keine neuen Einstichspuren hatte, sondern nur betrunken und high war. Zum Teufel, für einen Moment dachte ich daran, eine "Willkommen zu Hause"-Party zu geben, als sie aufwachte. Das hielt aber nur so lange an, bis ich ihr schwarzes Paillettenkleid wahrnahm, das so klein war, dass es kaum gleichzeitig ihre Brüste und ihren Arsch bedeckte, und die roten Stöckelschuhe, die auf dem Boden lagen.

Das Blut donnerte in meinen Ohren und ich drehte mich zu Chrissy um.

"Hast du sie auf die Straße mitgenommen?"

Sie winkte ab und drückte den Joint in einem Aschenbecher aus. "Sie sagte, sie wolle Erfahrungen aus erster Hand von einem Profi."

Zorn kam blitzschnell in mir hoch. "Aus erster Hand? Willst du mich verarschen? Aus erster Hand wäre gewesen, wenn sie dir hätte zusehen dürfen, wie du auf deinem Hintern sitzt und auf Marcos wartest, dass er dir endlich eine SMS mit einem Job zuschickt. Du hast seit über zehn Jahren nicht mehr an einer Ecke gearbeitet."

Sie starrte mich wütend an. "Nein. Aber damit haben wir alle angefangen. Sie wird es nicht anders machen."

Ich trat nahe an sie heran und brüllte: "Sie ist sechzehn! Sie sollte in der Schule sein, nicht auf der Straße arbeiten!"

Sie schaute zur Seite und verdrehte die Augen, ihre Lippen zuckten humorvoll. "Dann, Prinzessin Cora, gibt es gute Neuigkeiten: Sie stand nur an einer Ecke. Sie hat dort verdammt noch mal nicht gearbeitet."

Mein Körper begann zu zittern. Die Prügel, die ich einstecken musste, als Marcos herausfand, dass ich Savannah aus Dantes Haus geschmuggelt hatte, war mit das Schlimmste gewesen, was ich je einstecken musste. Aber in den sechs Wochen, die sie mir die Hölle heiß gemacht hatte, hatte ich es nie bereut. Ich hatte zwei Jahre Zeit, um das Unmögliche zu ermöglichen und ein Mädchen, das nicht mehr zu retten war, zu retten. Und ich wollte verdammt sein, wenn ich zulassen würde, dass Chrissy sie in die Flammen der Hölle führte nur aus dem Grund, dass geteiltes Leid halbes Leid bedeutete.

"Wie oft muss ich dir noch sagen, dass sie tabu ist?"

"Und wer hat entschieden, dass sie tabu ist? Ganz sicher nicht sie. Sie schleicht jede verdammte Nacht hierher und bettelt darum, zur Arbeit gehen zu dürfen. Sie gehört in die erste Etage, Cora, nicht in deinen Elfenbeinturm in der dritten."

Das dachten alle Mädchen. Sie nahmen an, dass ich nicht die gleichen Kämpfe austragen musste wie sie. Nein. Ich musste nicht auf den Strich gehen, um meine Miete zu bezahlen, aber ich war genauso sehr eine Sklavin der Guerreros wie sie.

Obwohl sie nicht ganz falsch lag. In vielerlei Hinsicht war ich eine Prinzessin. Aber nur, weil ich einen direkten Draht zum König hatte. Und das hatte mich einiges gekostet. Sogar sehr viel. Aber für Savannah...

Ohne dem herausfordernden Blick von Chrissy auszuweichen, rief ich zur offenen Tür hinaus: "Hey, Angela!"

"Ja, Cor", antwortete sie sofort und bewies damit, dass unsere Auseinandersetzung zum Tratsch des Tages werden würde.

"Tu mir den Gefallen und hilf Savannah hoch in mein Apartment."

"Ja, kein Problem", zwitscherte sie, begierig auf die Gelegenheit zu helfen.

Ich warf Chrissy ein letztes Lächeln zu - und ich meine wirklich ein letztes Lächeln – und verließ ihre Wohnung, leichter, als ich mich seit Wochen gefühlt hatte.

Ich hatte es nicht mehr als zwei Schritte geschafft, bis jemand meinen Namen rief.

"Cora, da tropft Wasser durch meine Decke."

Und jemand anderes. "Cora, Hugo geht nicht an sein Handy."

Unnnnd jemand anderes: "Cora, ich will, dass Ava, diese verlogene Schlampe, meine Wohnung verlässt!"

"Cora..."

"Cora..."

"Cora..."

Es nahm kein Ende.

Ich schloss die Augen und machte mich auf den Weg die Treppe hinauf, wobei ich mental die Prioritäten für die morgendliche Liste der Dramen setzte. Es war immer die gleiche Rangfolge: Lebensbedrohliche, bautechnische und zwischenmenschliche Probleme. Da das Leben von niemandem unmittelbar in Gefahr war, stand die Überschwemmung an erster Stelle.

Mit einem Seufzer fragte ich die Gruppe: "Wo ist Hugo?“

Drei Stimmen antworteten unisono: "Bei Kerri."

Jemand anderes fügte hinzu: "Obwohl ich nicht glaube, dass ich da reingehen würde, es sei denn, du möchtest Hugos haarigen Hintern aus nächster Nähe sehen."

Ich erstarrte mitten im Schritt, ein Druck wie von einem Schraubstock presste meine Brust zusammen, als ich mich umdrehte. "Wie bitte?"

Es war die Neue -Verdammt, ich musste mir wirklich ihren Namen merken -, die sich an die Spitze der Meute drängte. "Cora, im Ernst? Ich weiß, ich bin noch nicht lange hier, aber keines unserer Klimageräte funktioniert. Und du glaubst wirklich, dass Hugo um sieben Uhr morgens seinen faulen Arsch hochgekriegt hat, um die von Kerri zu reparieren? Tut mir leid, ich... Ich weiß, dass meine Wohnung überschwemmt ist und so weiter, aber ich werde mir einen Satz Flossen und ein Paar Kiemen wachsen lassen, bevor ich vor diesem fetten, verschwitzten Schwein auf die Knie gehe.“

Ich war neunundzwanzig Jahre alt und seit vierzehn Jahren in der Sexindustrie tätig. Nichts sollte mich mehr schockieren. Schon gar nicht ein Mann, der eine Frau manipulierte, um sich einen blasen zu lassen. Das war eine Selbstverständlichkeit. Trotzdem fragte ich: "Warum zum Teufel solltest du vor ihm auf die Knie gehen?“

Sie warf einen Blick zu den anderen Mädchen. "Äh... weil es der einzige Weg ist, wie du ihn dazu bringen kannst, etwas zu reparieren."

Ich blinzelte, völlig schockiert.

Sie alle blinzelten zurück, völlig schockiert, dass ich schockiert war.

Scheiße! Sie dachten, ich wüsste es. Und, schlimmer noch, dass ich es tatsächlich zugelassen hatte.

Mir wurde schlecht und mein Kopf begann zu pochen.

Jeden Tag.

Jede Nacht.

Das war mein Leben.

Der Stress, die Verantwortung, das Versagen.

Die Last, alles für alle zu sein, war erstickend. Der verzweifelte Wunsch, aufzugeben, verspottete mich mit jedem Sonnenaufgang. Aber dies war kein Leben, vor dem ich einfach davonlaufen konnte.

Vertrau mir. Ich hatte es versucht.

Meinen Nasenrücken kneifend, starrte ich auf den betonierten Durchgang und flehte um Hilfe, die niemals kommen würde.

Zumindest nicht für mich.

"Cora?"

Ich schreckte auf und sah River auf der Treppe stehen, einen Becher Kaffee in meine Richtung gestreckt.

"Wasser tropft aus der Wand in unserer Küche. Ich habe bereits einige Handtücher hingelegt. Aber vielleicht könntest du Hugo bald nach oben schicken."

Ich suchte in ihren Augen nach einem Hinweis, der darauf hindeutete, dass seine bevorzugte Währung ein Blowjob war. Glücklicherweise fand ich keinen.

Ich hatte getan, was ich konnte, um sicherzustellen, dass sie in die Schule ging, und versuchte mit allen Mitteln, sie vom Rest dieser Hölle fernzuhalten, aber sie war alles andere als unschuldig. Ihr braunes Haar war zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt, und sie trug einen Rucksack über einer stilvoll zerrissenen Jeans und ein lockeres T-Shirt mit der Aufschrift "I really don't care". Dieses junge, süße Mädchen wurde von dem aufgezogen, was die meisten Amerikaner den Abschaum der Gesellschaft nennen würden. Huren. Nutten. Prostituierte. Wie auch immer man sie momentan nannte. Aber wir waren alle nur Menschen, die in einer beschissenen Situation steckten und niemanden hatten, an den sie sich anlehnen konnten.

Außer, dass sie sich alle an mich lehnten.

Plötzlich erinnerte ich mich, warum ich täglich meine Seele opferte.

Weil ich verdammt noch mal gehofft hatte, dass sie ihre nicht opfern müssten.

Nachdem ich tief eingeatmet hatte, was nicht nur meine brennenden Lungen entspannte, sondern auch meine Entschlossenheit stärkte, nahm ich ihr den Kaffee aus der Hand und teilte ihr mit, dass Savannah in Ordnung sei.

"Ich habe es gehört." Ihr Blick schweifte über meine Schulter zu den Frauen, die bereits auseinander gingen. Ihre Probleme waren größtenteils noch immer ungelöst, aber in den meisten Fällen war das der Zustand, der bei ihnen ständig vorherrschte.

Ich deutete mit dem Kinn zur Treppe. "Komm schon. Ich begleite dich nach unten."

Sie zog eine dunkle Augenbraue hoch. "Was ist mit der Küche?"

"Oh, bitte. Es wird mindestens fünf Minuten dauern, bis Hugo seinen Arsch die Treppe hochgehievt hat. Die Zeit habe ich."

Sie visierte mit gespitzten Lippen ihre schwarzen Chucks an und machte sich auf den Weg zur Treppe. "Warum blutest du?"

Ich berührte meine Nase mit der freien Hand. Wenigstens war das Blut schon angetrocknet. "Willst du die Wahrheit oder eine Lüge hören?"

"Die Wahrheit."

"Ich rannte gegen die Tür. Aber hättest du eine Lüge verlangt, hätte ich gesagt, dass ich einen Ellbogen in die Nase bekam, als ich Chrissy zu Boden rang, kurz bevor ich sie in Fesseln legte und dann ihr Haar als Wischmopp benutzte, um ihre ekelhafte Wohnung zu reinigen.“

Sie lachte leise, als wir Seite an Seite zur Vorderseite des Backsteingebäudes gingen. Wir blieben am Ende der Hauswand stehen, der unsere Hölle vom Rest der Welt trennte. Als sie ihren Kopf nach hinten kippte, um meinen Blick zu erhaschen, stockte ihr Lächeln. Ich konnte fast die Angst sehen, die über die sanften Kurven ihres olivfarbenen Teints kroch.

"Hey", beruhigte ich und drückte ihre Schulter. "Was ist los?"

"Du weißt, dass Chrissy nicht aufhören wird", flüsterte sie.

"Die anderen, die lassen sich von Savannah nichts gefallen. Aber Chrissy..."

Der Schraubstock in meiner Brust drohte mir die Rippen zu brechen. Sie sollte sich keine Sorgen um Leute wie Chrissy machen müssen. Aber das war ihre Realität, unabhängig davon, wie sehr ich es hasste.

"Ich werde mich darum kümmern."

Ihr Gesicht verblasste. "Bitte ruf nicht Marcos an."

Ich rollte mit den Augen. "Entspann dich. Ich habe nichts über Marcos gesagt."

Ihre großen Rehaugen suchten mein Gesicht nach einer Lüge ab. Sie würde sie nicht finden, aber sie war definitiv da, geschickt unter der Oberfläche versteckt, direkt neben dem Berg meiner Ängste und meines Bedauerns.

Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an mich, leider nicht annähernd lang genug – für keinen von uns. Aber das war alles, was ich ihr geben konnte. "Geh! Verschwinde von hier, bevor du den Bus verpasst. Ich kümmere mich um Chrissy. Du kümmerst dich um Geometrie."

"Coooora", mahnte sie warnend.

"Riiiiver", machte ich sie nach und gab ihr einen sanften Schubs in Richtung des schmutzigen Parkplatzes.

Sie ging rückwärts und hielt ihre braunen Augen auf meine blauen gerichtet. "Du wirst hier sein, wenn ich nach Hause komme, oder?"

Ich spöttelte: "Bin ich das nicht immer?"

"Jedenfalls bis jetzt", murmelte sie.

Schuld brannte wie ein Inferno in meiner Brust, aber ich lächelte durch den Schmerz hindurch. "Ich sehe dich um drei Uhr."

Sie starrte mich an.

Ich starrte zurück.

Eine Million Worte wurden in diesem Moment der Stille gesprochen: Versprechen, Bitten, Entschuldigungen, Erklärungen und alles dazwischen.

All das war die absolute Wahrheit.

Genau aus diesem Grund rollten ihr zwei Tränen über die Wangen, als sie ihre Hand hob, sich umdrehte und zur Bushaltestelle rannte.

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