Читать книгу Truth about Lies - Aly Martinez - Страница 9

4 Cora

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„Oh, yeah, Hugo ist offiziell weg", sagte ich in das Telefon, das ich zwischen Schulter und Ohr geklemmt hatte, während ich die Treppe zu meiner Wohnung hochging. Schwere Einkaufstüten baumelten von meinen Armen. Der dritte Stock war am sichersten, aber, Gott, es war im wahrsten Sinne des Wortes nervtötend, jede Woche die Lebensmittel über drei Stockwerke die Treppe hinauf zu schleppen.

"Gut", antwortete Catalina und hielt inne; eine unangenehme Pause entstand.

Ich wusste, was kommen würde. Das passierte jedes Mal, wenn ein Anruf mit Rufnummernunterdrückung auf meinem Handy einging. Ich hatte keine Möglichkeit, sie zu kontaktieren. Alles, was ich besaß, war eine Adresse und die Kombination zu einem Schließfach am anderen Ende der Stadt, wo ich ihre Umschläge mit Bargeld deponieren konnte.

"Du weißt, ich frage das nur ungern, aber Isabel war letzte Woche krank und..."

"Wie viel?", flüsterte ich und sah mich um, als ob jemand sie hören könnte.

Ihre Stimme war emotionsgeladen und zittrig, als sie antwortete: "Vielleicht nur zweihundert Dollar oder so. Ehrlich gesagt, was immer du entbehren kannst."

Ich würde ihr fünfhundert geben.

"Ja. Das ist kein Problem. Ich bringe es heute Abend vorbei, wenn die Mädchen ins Bett gegangen sind."

Ich konnte hören, wie sie zitternd Luft holte, und wusste, dass Tränen aus ihren rotbraunen Augen rannen. "Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll."

"Bleib am Leben. Mehr musst du nicht tun."

"Ich liebe dich, Cora."

"Ich liebe dich auch", sagte ich. Ich traute mich nicht, ihren Namen zu sagen.

Seit dem Tag, an dem sie gegen ihren Vater, Manuel Guerrero, ausgesagt hatte, war sie auf der Flucht. Und das nicht nur, weil ihre Brüder, Dante und Marcos, nie aufhören würden, nach ihr zu suchen. Ihr Ehemann, der einst mit Manuel eng befreundet war, ihn aber später als Staatsanwalt hinter Gitter brachte, war wild entschlossen, sie ebenfalls zu finden. Sollte ihre Deckung jemals auffliegen, wäre das ihr Todesurteil.

Catalina war mein einziger Rettungsanker außerhalb dieses Gebäudes. Mein Überleben hing von ihrer Fähigkeit ab, sich verborgen zu halten. Und ich würde alles tun, was nötig war, um sie von ihren Verfolgern fernzuhalten. Und das schloss ein, mein Leben zu riskieren, um ihr Geld zu bringen.

Weil sie eines Tages mein einziger Ausweg aus diesem Alptraum sein würde.

Catalina beendete das Gespräch, gerade als ich den Treppenabsatz im dritten Stock erreichte. Ich atmete tief durch und verdrängte die Emotionen, die diese Anrufe in mir weckten. Wenn ich zu lange darüber nachdachte, würden sie mich zerstören.

Im Rahmen des Krafttrainings für diesen Tag hob ich meine Hand und die gefühlten siebentausend Pfund an Tüten, um mein Handy vom Ohr zu nehmen und mit dem Fuß gegen die Tür zu treten. "Ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen!"

Sämtliche Schlösser klickten auf, dann öffnete Savannah die Tür.

Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen. "Mein Gott, stinkt das hier drin."

"Du hast mir gesagt, ich soll die Fenster nicht öffnen, während du weg bist." Savannah nahm mir die Taschen von meinen ausgestreckten Armen ab.

Sie hatte sich in den zwei Tagen, seit Chrissy rausgeworfen worden war, von ihrer besten Seite gezeigt. Und wenn man bedachte, dass das Wasser wegen der verrosteten Rohre in der Hälfte des Gebäudes abgestellt werden musste, wollte ich mich nicht beschweren. Mit dreißig Frauen, die sich zwei Badezimmer teilen mussten, und der Gefahr, dass der durch die überfluteten Fußböden und feuchten Wände entstandene Schimmel meinen Mädchen eine schwarze Lunge verpassen konnte, brauchte ich jede zusätzliche Hilfe, die ich bekam.

Als ich an River vorbeiging, hob sie den Kopf nicht von ihrer Müslischale. Im Gegensatz zu Savannah mied River mich seit Chrissys Abreise. Oder, genauer gesagt, seit sie zum ersten Mal den riesigen Bluterguss gesehen hatte, den Marcos auf meiner Wange hinterlassen hatte.

Ich kannte das Schweigen nur zu gut – und auch, wie es enden würde.

Sie würde mich für ein paar Tage ignorieren, und dann gäbe es von mir selbstgemachte Lasagne und Knoblauchbrot. Sie würde in der Küche sitzen, während ich kochte. Sie würde nichts sagen, aber mir auch nicht mehr ausweichen. Und dann, wenn unsere Teller leer gegessen waren und wir beide fast im Koma lagen, würde sie mir die Wahrheit sagen: Wie sehr sie es hasste, wenn ich Marcos erlaubte, mich zu schlagen, um die anderen Mädchen zu beschützen.

Und dann würde ich ihr die Lüge erzählen: dass ich das nie wieder tun würde.

Wahrheit und Lüge - so kamen wir miteinander zurecht.

"Hey, Riv", rief ich ihr zu und legte die Taschen auf den Tresen. "Kannst du mir einen Gefallen tun und das Bleichmittel aus meinem Kofferraum holen? Und lass die Tür offen. Hier stinkt's."

Sie sagte kein Wort, als sie aufstand, ihre Schüssel zur Spüle trug, sie mit lautem Krachen hineinwarf und aus der Wohnung stampfte.

"Okay, gutes Gespräch!", rief ich ihr hinterher. "Das sollten wir öfter tun."

Savannah war sofort an meiner Seite und half mir beim Auspacken der Lebensmittel. "Ich werde heute Abend mit ihr reden. Sie wird sich wieder einkriegen. Ich verspreche es."

Ich lachte und stellte die Milch in den Kühlschrank. "Ich bin mir nicht sicher, ob du mit irgendjemandem reden solltest."

Sie hielt zwei Erbsendosen in meine Richtung und blitze mich wütend an, eine perfekt gezeichnete, rotbraune Augenbraue nach oben gezogen. "Was soll das bedeuten?"

Ich räumte die Sachen in den Kühlschrank. "Das heißt, wir haben noch nicht einmal über neulich gesprochen."

"Wieso? Ich sagte, es tut mir leid."

"Eine Entschuldigung reicht diesmal nicht aus", antwortete ich, während ich den Behälter mit Minz-Schokoladen-Eiscreme hinter einem Beutel gefrorenen Brokkolis versteckte, in der Hoffnung, dass das Eis später in der Nacht noch da sein würde.

"Was willst du denn noch von mir?", maulte sie.

Ich ging in die Speisekammer und versteckte die Schokokekse hinter einer Packung Rosinenmüsli, die dort seit mindestens drei Jahren lag. "Nun, zuerst möchte ich, dass du deine beschissene Art mir gegenüber ablegst."

"Ich habe keine beschissene Art!"

Ungeduldig warf ich ihr einen Blick zu, schnippte mit den Fingern und deutete auf die Erbsen.

Sie klatschte mir eine Dose nach der anderen in die Hände. "Ich weiß nicht, was du von mir hören willst... Ich dachte nicht, dass Chrissy..."

"Und genau das ist dein Problem!", sagte ich.

Ihr Körper versteifte sich.

Ich knallte die Erbsendosen auf das Regal - eine weitere Front, um meinen geheimen Keksvorrat zu verstecken - und gab ihr dann meine volle Aufmerksamkeit.

Ihre tiefgrünen Augen waren weit aufgerissen und mit Tränen gefüllt. Was untypisch für sie war. Seit dem Tag, an dem sie meine Auseinandersetzung mit Marcos miterlebt hatte, war dies das erste Mal, dass sie Emotionen zeigte.

Ich ergriff die Gelegenheit ihr zu sagen, was sie hören musste. "Savannah, seit du hier eingezogen bist, hast du an niemanden außer an dich gedacht. Das Rausschleichen nachts! Die Streitereien mit mir! Die ständigen Streitereien mit River! Es drehte sich alles immer nur um Savannah."

"Das ist nicht wahr! Du gibst mir für alles die Schuld. Ich wollte von vornherein nicht hierherkommen."

"Und du denkst, ich wollte hierherkommen?" Ich drehte mich um und streckte meine Arme weit aus, meine Fingerspitzen streiften auf beiden Seiten an der Theke entlang. "Glaubst du auch nur eine Sekunde lang, dass ich hier sein möchte? Wir haben Entscheidungen getroffen, Savannah. Vielleicht nicht die konkrete Entscheidung, hierher zu kommen, aber dennoch Entscheidungen, die uns zu diesem Moment geführt haben.“ Ich deutete mit einem Finger in ihre Richtung. "Du vergisst, dass ich da war, wo du jetzt bist. An dem Tag, als du zu Dante in das Auto gestiegen bist, wurden viele Entscheidungen für dich getroffen. Es waren dieselben Entscheidungen, die Nic für mich traf. Und ich stehe hier und sage dir, dass sie totalscheiße sind. Aber ich bin nicht Dante. Ich bin nicht Marcos. Ich bin nicht deine beschissenen Eltern. Und vor allem... bin ich nicht dein Feind."

Ich trat zu ihr, umrahmte mit meinen Handflächen ihr Gesicht und senkte meine Stimme. "Keiner von uns will dieses beschissene Leben, Babe. Aber das ist es, was wir haben. Und so sehr ich es auch hasse, es zuzugeben, das ist wahrscheinlich alles, was ich jemals haben werde. Aber du? Du bist sechzehn."

Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber ich schnitt ihr das Wort ab.

"Und ich sage das nicht so, als ob es etwas Schlechtes wäre. Du hast Zeit. Du kannst immer noch hier rauskommen. Und ich schwöre bei meinem Leben, dass ich mich bis zu diesem Tag um dich kümmern werde, aber du musst mit mir zusammenarbeiten. Du darfst nicht auf der Straße stehen. Du darfst dich nicht betrinken oder mit den anderen Mädchen Gras rauchen." Ich packte ihre Arme und deutete auf die vernarbten Einstichstellen. "Das wird dich rückfällig machen. Alles, was dazu nötig wäre, ist..."

Ich brach den Rest meines Vortrags ab, als unsere Haustür zugeschlagen wurde.

"Cora!" River hatte ihre Arme seitlich ausgestreckt, ihren Rücken gegen die Tür gepresst, als wolle sie verhindern, dass sich ein Rudel wilder Tiere Einlass verschaffte.

Und mit ihren nächsten Worten wurde mir klar, dass sie genau das vorhatte.

"Sie sind... hier", keuchte sie.

Sie brauchte nicht mehr zu sagen. Ich wusste, wen sie meinte, allein weil ihre Angst spürbar war. Trotzdem ließ sie mich passieren, als ich auf sie zuging.

Ich ging direkt zu dem Geländer, das den Parkplatz überblickte.

Zwei Männer, die ich nicht kannte, stiegen aus einem verbeulten roten Pick-up.

Und dann war da noch Marcos in seinem schwarzen Mercedes.

Und...

"Scheiße", zischte ich.

Dante.

Seine Besuche waren selten, vor allem tagsüber, aber hin und wieder kam er vorbei.

Ich rannte zurück in die Wohnung und bellte beide Mädchen an: "Geht! Sofort!"

Ohne zu zögern rannten sie den Flur hinab. Sie wussten, was zu tun war. Wir hatten an dem Tag, an dem Savannah eingezogen war, ausführlich darüber gesprochen.

Ich drückte meine Augen zu und umklammerte den silbernen Stern, der um meinen Hals hing. Nic hatte ihn mir gegeben, vor gefühlt einer Million Jahre. "Du musst mir helfen, Baby", flehte ich zum Himmel. "Ich brauche dich jetzt wirklich, Nic."

Wie zu erwarten war, antwortete mein toter Mann nicht. Und nach ein paar tiefen Atemzügen tat ich, was ich immer tat: Ich zog meine Hose für große Mädchen an und begann, kühl und gelassen die Lebensmittel einzuräumen, ganz so, als ob nicht der Teufel selbst gleich an meine Tür klopfen würde.

"Dante", begrüßte ich ihn Minuten später mit einem strahlenden und völlig unechten Lächeln.

Verdeckt durch seine Sonnenbrille zog sein widerwärtiger Blick über mich hinweg. Da ich große Brüste, einen flachen Bauch, einen runden Arsch und eine funktionierende Vagina hatte, gehörte ich ihm. Es war ihm egal, dass ich zu Nic gehört hatte. Das war ihm nie wichtig. Nicht an dem Tag, an dem er herausgefunden hatte, dass Nic und ich geheiratet hatten und er mir das Shirt vom Leib riss und mich dann auf die Straße schickte, wo er dachte, dass ich hingehörte. Nicht an dem Tag, an dem er mich im Beerdigungsinstitut in die Enge trieb und mir so fest in den Bauch trat, dass ich mich übergeben musste. Und ganz sicher nicht an dem fünfjährigen Todestag von Nic, als er in mein Schlafzimmer kam, high von Drogen, und mich windelweich prügelte. Es war meine Strafe dafür, dass ich seinen Bruder getötet hatte, zumindest hatte er das gesagt, als er ein paar Stunden später hinausstolperte.

Dante Guerrero war der Herr meiner Welt. Und hin und wieder tauchte er auf, um sicherzustellen, dass ich das nicht vergaß.

Ich blieb still wie eine Statue, als er eine meiner Locken griff.

"Cora. Es ist schon eine Weile her", sagte er, sein Blick auf meine Brust gerichtet. Er verzog seine Lippen zu einem Lächeln, das bei jedem anderen Mann atemberaubend wäre.

Ich bekämpfte den Drang zum Würgen. Ich trat einen Schritt zurück, mein Haar glitt ihm durch die Finger. "Das stimmt. Komm herein."

Als er eintrat, steckte er eine Hand in die Tasche seiner schwarzen Hose, mit der anderen schob er seine Ray-Ban nach oben. "Wo ist River?"

Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an, als ich meinen Blick über seine Schulter auf Marcos richtete.

Seine Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst, was für mich nichts Gutes verhieß. Ebenso wenig wie der fast unmerkliche Ruck seines Kinns, der mir befahl, Dante zu antworten.

Ich brauchte zwei Versuche, bis ich endlich die Worte sagen konnte. "Sie ist in ihrem Zimmer."

Dante zwinkerte mir zu und schlenderte davon.

Angst überkam mich, aber ich ließ es mir nicht anmerken, als ich ihm folgte. "Sie schläft wahrscheinlich."

Er ignorierte mich, als er ihre Tür erreichte. Er drehte den Griff und schwang sie auf - kein einziges Schloss hinderte ihn daran - ich wollte sterben.

Aber so war es sicherer; die Schlösser hätten ihn nur verärgert.

"Oh, hey, Dante", zwitscherte River und zog einen ihrer neongrünen Ohrstöpsel heraus.

Genau wie wir es besprochen hatten, hatte sie einen ausgebeulten Kapuzenpullover angezogen und ihr Haar zu einem unordentlichen Knoten auf dem Scheitel zusammengefasst. Ich stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, als ich sah, dass Savannahs Bett leer war.

"Du siehst scheiße aus", knurrte er.

Sie kreuzte ihre Beine an den Knöcheln und wackelte mit ihren mit schmutzigen Socken bedeckten Füßen. "Nun, wenn man in einer Villa wie dieser wohnt, braucht man nicht viel für ein Ballkleid. Außerdem sieht es nicht scheiße aus", sagte sie und warf ihm ein paar in die Luft gemalte Anführungszeichen zu - ja... verdammte Anführungszeichen, "das kostet Geld. Und wenn man dreizehn Jahre alt ist und die einzige potenzielle Einkommensquelle aus Pädophilen besteht, lernt man sehr schnell, damit zurechtzukommen, wenn man wie Scheiße aussieht."

Ich wappnete mich innerlich, als Dantes Körper vor Wut vibrierte.

"Du kleine Scheißerin..."

"Hey", rief Marcos und schob mich aus dem Weg. "Lass die Kleine in Ruhe." Er griff in seine Gesäßtasche, zog seine Brieftasche heraus und warf River eine Handvoll Scheine zu Füßen. "Kauf dir ein paar verdammte Klamotten. Und verdammt noch mal, geh duschen!"

Sie neigte den Kopf zur Seite und fragte schnippisch: "Heißt das, dass du etwas unternehmen wirst, damit wir endlich wieder fließendes Wasser haben? Oder soll ich mit dem Geld neue Klamotten und einen Eimer zum Baden kaufen?"

Marcos starrte sie wütend an.

Dante ließ eine Reihe von Schimpfwörtern los.

Und ich biss die Zähne zusammen und sperrte sie mental für den Rest ihres Lebens in diesem Raum ein.

Völlig unbeeindruckt schenkte sie ihnen ein Lächeln, beugte sich vor, um das Geld einzusammeln, verstaute es in der Vordertasche ihres Kapuzenpullovers und steckte dann ihren Ohrstöpsel wieder hinein. Dann brüllte sie über die Musik hinweg: "Schön, euch wiederzusehen! Kommt ruhig öfter!"

"Diese kleine Schlampe!", knurrte Dante, während Marcos ihn aus dem Zimmer schob.

Meine Schultern sanken herab, als ich durch den Flur zurück ins Wohnzimmer eilte, in der Hoffnung, dass die beiden mir folgen würden.

Weg von ihr.

Weg von ihnen.

Ich blieb abrupt stehen, als ich die beiden fremden Männer sah, die auf dem abgenutzten Linoleum des so genannten Foyers standen.

Der Größere der beiden sah aus wie jeder durchschnittliche Weiße über dreißig. Braunes Haar. Unauffällige braune Augen. Er hatte eine Nase, Lippen, sogar Ohren, aber nicht ein einziges auffälliges Merkmal in seinem durchschnittlichen Gesicht. Er trug ein schlichtes weißes T-Shirt. Jeans. Und - ja, du hast es erraten - schlichte braune Arbeitsstiefel. Er war einfach, bescheiden und wirkte absolut nicht bedrohlich. Ich misstraute ihm sofort.

Der Typ neben ihm war eine ganz andere Geschichte. Er war zwar ein oder zwei Zentimeter kleiner als sein Gegenüber, aber seine kraftvolle Präsenz warf ihren Schatten weit voraus. Seine Haut war gebräunt und sein kurzes, braunes Haar war durchsetzt mit Strähnen von Mahagoni und Kastanienrot, als ob er viel in der Sonne arbeiten würde. Seine Augen waren blau, aber nicht wie das Indigo meiner Augen. Seine waren... nun, tief, tiefblau und unergründlich. Er besaß die Nase eines römischen Gladiators, vornehm und leicht krumm vom Kämpfen, sein Kiefer scharf geschnitten, mit einem Drei-Tage-Bart. Er war aus einer Million Gegensätze zusammengesetzt, die irgendwie ein brillantes Ganzes bildeten. Er trug die gleiche Uniform wie sein Partner, aber bei ihm war nichts Schlichtes an der Art und Weise, wie sie seine definierten Muskeln betonte oder die komplizierten schwarzen Tätowierungen bedeckte, die von seinen Armen bis zu seinen Handrücken reichten.

Er sah unglaublich gut aus. Hatte etwas Einschüchterndes an sich. Und war höchstwahrscheinlich als Häftling 401 bekannt.

Aber das Interessanteste von allem lag in der Tatsache, dass keiner dieser beiden Männer ein Guerrero war.

Männer durften unser Gebäude nicht betreten. Dies war eine der wenigen Regeln, denen ich zustimmte und die ich strikt durchsetzte. Ein einziger Anruf bei der Polizei - bei den echten Cops, nicht den korrupten, die Dante unter der Fuchtel hatte – würde genügen, um den größten Teil der Bewohner dieses Gebäudes in Handschellen abzuführen - mich eingeschlossen. Und für mich wäre es mein drittes Vergehen. Ich würde nie wieder außerhalb einer Gefängniszelle atmen.

"Ähm...", murmelte ich. "Wer sind Sie?"

Marcos blieb neben mir stehen, während Dante sich auf die Couch setzte und anfing, das Koks, das er aus seiner Tasche geholt hatte, in Linien zu teilen.

Marcos starrte ihn angewidert an, sagte aber nichts. Er räusperte sich und schüttelte den Kopf. "Lern deine neuen Hausmeister kennen. Drew Walker und sein Bruder Penn."

Ich drehte den Kopf, um ihn anzuschauen. "Es tut mir leid. Gab es eine Seuche, die die gesamte Guerrero-Familie ausgelöscht hat und von der ich irgendwie nichts mitbekommen habe?"

"Die Anordnung kam direkt von Pop. Sieht aus, als hätte er sich mit Drew angefreundet in der Zeit, in der sie Zellengenossen waren."

Ah, ja. Ich hatte Recht: Insasse 401.

Marcos warf mir einen dunklen Blick zu. "Anscheinend haben die Walkers auf dem Bau gearbeitet. Als Pop von Hugos... unglücklichem Unfall hörte, schickte er mir die Nachricht, dass ich sie hier einsetzen soll." Er hielt inne und presste seine Kiefer mit einer Intensität zusammen, die mir Angst um seine Zähne machte. "Er sagte, er vertraue Drew wie einem Sohn."

Was in Wahrheit bedeutete, dass Manuel Guerrero, Häftling 402, diesem Drew mehr vertraute als seinen eigenen dummen Söhnen. Etwas, das ich nicht schockierend, sondern überaus amüsant fand. Ich tat alles, was ich konnte, um ein Lächeln zu unterdrücken. Genauso wenig gestattete ich mir, zu Drew und Penn zu schauen, nur für den Fall, dass ich meine Lippen doch zu einem Lächeln verziehen würde – was natürlich geschah.

"Zeig den beiden, wo das Problem liegt", befahl Marcos.

"Das Problem?", plapperte ich nach, denn im Ernst, er musste schon etwas konkreter werden. Ich hatte jede Menge Probleme.

Ein lautes Schniefen kam von der Couch, bevor Dante deutlicher wurde: "Dein verdammtes Wasserleck oder was auch immer diesen gottverdammten Ort dazu gebracht hat, wie eine Mülldeponie zu stinken." Er schnippte mit den Fingern nach den Männern und zeigte in den Flur. "Macht euren verdammten Job und findet es heraus."

Wie zwei gute kleine Lakaien gingen beide Richtung Flur.

"Es ist in der Küche", rief ich ihnen nach.

Der Große, von dem ich annahm, es sei Penn, antwortete: "So wie diese Wand aussieht, kommt da wahrscheinlich Wasser vom Badezimmer durch.

Oh, Scheiße! Scheiße!

Oh. Fuck. Scheiße.

Savannah.

Dinge, in denen ich gut war: Mathe, die Dewey-Dezimalklassifikation und Zeitmanagement.

Dinge, in denen ich nicht gut war: sechzehnjährige Mädchen vor Psychopathen zu verstecken.

Ich hatte für diesen Tag so gut ich konnte vorausgeplant. Jedes Mal, wenn Dante hier auftauchte,

ging er in Rivers Zimmer. Und er kam öfter in mein Zimmer, als ich jemals zugeben - oder mich dran erinnern wollte. Es gab keine Türen an den Schränken, und alle unsere Matratzen lagen auf dem Boden. Was bedeutete, dass es nur wenig Orte gab, wo sie sich verstecken konnte.

In all den Jahren, in denen ich in dieser Wohnung lebte, war Dante jedoch nicht ein einziges Mal zum Duschen vorbeigekommen.

Als diese beiden Arschlöcher davon überzeugt waren, das Problem hätte seinen Ursprung im Badezimmer, schoss mein guter Freund Panik durch mich hindurch. Ich lief hinter ihnen her und rief: "Das Badezimmer ist in Ordnung."

Sie gingen weiter.

Was mich nur noch nervöser machte.

"Im Ernst, es ist in Ordnung." Ich blickte über meine Schulter. Marcos war mir zum Glück nicht gefolgt.

Als wir das Badezimmer erreichten, schlug mein Herz so schnell, dass man es wahrscheinlich auf der Richterskala hätte ablesen können. Sie traten vor mir ein: erst der schlaksige Penn und dann Drew mit seinem muskelbepackten Körper.

Wir drei passten kaum in dieses winzige Badezimmer, aber ich drängte mich hinein und platzierte mich strategisch zwischen Drews tätowierten Muskelpaketen und der Dusche.

"Könnte hinter dem Waschbecken undicht sein und über die Wand in den zweiten und ersten Stock laufen", vermutete Penn.

Die einzige Anerkennung seines Bruders war ein Grunzen.

"Das Waschbecken!", wiederholte ich ein wenig zu laut für einen so kleinen Raum. "Gute Idee!" Wie auch immer. Solange sie nicht dachten, es käme von der Dusche.

"Könnte vom Rohr kommen, das zur Dusche führt", schlug einer von ihnen vor. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Murphy's Law zu verfluchen, um zu bemerken, welcher von beiden es war.

"Es ist nicht die Dusche!", rief ich.

Sie drehten sich beide um und sahen mich an. Penn schaute mich überrascht an. Drew voller Misstrauen.

Ich lachte unbeholfen. "Hört mal, ähm... Besteht die Möglichkeit, dass ihr in, sagen wir, einer Stunde wiederkommt? Ich muss wirklich die, ähm... Nein!"

Drew riss den Vorhang auf und enthüllte Savannah, die sich in der Wanne zu einem Ball zusammengerollt hatte. Ihre Knie waren an ihre Brust geklemmt, und ihre Augen füllten sich mit Schrecken, als ihr Blick von ihm zu mir glitt.

"Jesus, fuck", murmelte Penn.

Drew blieb stoisch ruhig.

Plötzlich wurde Dantes Stimme immer lauter, zusammen mit dem Klang seiner Schritte, die sich den Flur entlang bewegten. "Was zum Teufel schreist du da, Frau?"

Mit zitternden Händen riss ich den Vorhang zu und flüsterte: "Bitte erzählt ihm nichts von ihr.“ Ich griff nach seinem tätowierten Unterarm und blickte in seine blauen Augen. "Ich werde alles tun, was Sie wollen, wenn Sie sie nur nicht erwähnen." Ich würde mich an den Teufel verkaufen. Das eine Mal würde mich nicht umbringen. Zumindest nicht physisch.

Schon gar nicht, wenn es sie rettete.

Als er nicht antwortete, trat ich näher, bis meine Brüste seinen Arm berührten. "Drew, bitte."

Als ob ich ihn geschlagen hätte, zuckte sein muskulöser Körper zurück.

Mit einem Blick auf den Vorhang, hinter dem sich Savannah verbarg, und dann wieder zu mir zurück, wartete er schweigend auf eine Erklärung. Aber ich hatte keine zu bieten. Zumindest keine, die ich in den Sekunden, die Dante brauchen würde, um uns zu erreichen, übermitteln könnte.

"Drew", zischte ich eindringlich.

Sein Blick wanderte nicht zu meinen Brüsten, so wie ich es erwartet hatte.

Er schien auch kein Interesse an meinem Versprechen für alles zu haben. Er starrte mich nur an, allein die Schwere seines Blicks verankerte mich an Ort und Stelle. Und dann, endlich, mit einer Stimme, die ebenso faszinierend wie einschüchternd war, knurrte er: "Ich bin Penn."

Mein Mund klappte auf. Keine. Verdammte. Chance. Würde das Mr. Unauffällig zu einem Zellengenossen des alten Guerrero machen?

Ich blinzelte.

Der "angebliche" Penn Walker blinzelte zurück, und dann, gerade als Dante um die Ecke kam, entriss er mir seinen Arm, marschierte aus dem Badezimmer und rief über die Schulter: "Das Leck ist in der Küche."

Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut, weil die Erleichterung in mir explodierte. Ich war mir sicher, dass meine Hände zitterten, als Dante mich mit einem bösen Blick festnagelte, bevor er Penn folgte, aber das war mir egal.

Seit dem Tag, an dem Nic mich mit seinem Körper vor einem Kugelhagel beschützt hatte, hatte niemand etwas getan, um mir tatsächlich zu helfen.

Nicht, ohne dass ich einen Preis dafür zahlen musste.

Nicht, ohne dass ich dafür bestraft wurde.

Bis zu diesem Moment.

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