Читать книгу Das Böse in mir - Ana Dee - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеKatharina von Burgstett setzte ihre Brille ab und rieb sich die tränenden Augen, bevor sie erschöpft ihren Kopf auf den Schreibtisch bettete.
Der heutige Arbeitstag hatte ihr alles abverlangt, von den zusätzlichen Überstunden ganz zu schweigen. Das war also ihr Leben - ein Alltag zwischen Patienten, Stress, Hektik und ihrem Lehrstuhl an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von ihren Forschungsprojekten ganz zu schweigen.
Sie richtete sich auf und löste den festsitzenden Dutt. Schwarze, lockige Haare flossen wie ein Strom über ihre Schultern und umschmeichelten ihr blasses Gesicht. Ihre strahlend blauen Augen, um die sie sogar Terence Hill beneidet hätte, blickten ernst.
Seufzend erhob sie sich, zog den weißen Kittel aus, schnappte sich ihre Tasche und verließ das Büro. Ihr stand der Sinn nach einem entspannenden Wannenbad. Aber nach dem anstrengenden Dienst reichte es meist nur noch für eine kurze Dusche und anschließend kroch sie sofort ins Bett. An manchen Tagen ließ sie sogar das Essen ausfallen.
Eilig durchschritt sie den langen Flur und eine der Neonleuchten flackerte. Sie würde in der nächsten Schicht dem Hausmeister eine Info zukommen lassen, damit er die Röhren austauschte. An der Tür, welche die Flure voneinander trennte, gab sie den Sicherheitscode ein. Ein leises Summen ertönte und die Tür öffnete sich.
Während sie zum Ausgang hastete, hörte sie das laute Kreischen eines Patienten. Für Katharina gehörte diese Geräuschkulisse zum Alltag, sie nahm die Laute manchmal schon gar nicht mehr wahr. An der Rezeption winkte sie den beiden Damen vom Nachtdienst zu, öffnete die schwere Eingangstür und schlüpfte hinaus.
Die kühle Luft ließ sie tief durchatmen und sie genoss die Stille der Nacht. Der wolkenlose Himmel trumpfte mit einem Meer aus Sternen auf und sie schaute sehnsüchtig nach oben. Dann riss sie sich los und schlenderte zu ihrem BMW.
Die Fahrt zum Villenviertel Meerbusch dauerte nicht lange. Das elektrische Garagentor fuhr lautlos nach oben und der BMW glitt hinein. Laut gähnend schloss sie die Haustür auf und betrat die steril wirkende Villa. Ihre Putzfrau war eine echte Perle, kein Staubkörnchen zierte ein Möbelstück. Aber vielleicht war genau das ihr Problem?
Obwohl eine stadtbekannte Innenarchitektin alles wohnlich und geschmackvoll eingerichtet hatte, wirkten die Räume allesamt unpersönlich. Nie lag etwas herum, von einer fröhlichen Unordnung ganz zu schwiegen.
Pumps und Jacke ließ sie achtlos im Flur liegen und lief barfuß über den kühlen Granitboden im Eingangsbereich. In der Küche schenkte sie sich ein Glas Mineralwasser ein und trank es gierig in einem Zug. Dann schnupperte sie an den Töpfen, verspürte aber nicht die geringste Lust, das vorgekochte Essen aufzuwärmen.
Ein letzter Gang ins Bad, eine kurze Dusche, bevor sie sich in die Kissen kuschelte und das Licht löschte. Da lag sie nun, einsam und verloren in dem riesigen Doppelbett, starrte an die Decke und hörte ihre innere Uhr ticken.
Sie stammte aus einer angesehenen Ärztefamilie und für alle war klar, dass sie in die Fußstapfen ihrer Eltern trat. Das Staatsexamen bewältigte sie in Lichtgeschwindigkeit und zwei Doktortitel nannte sie ihr Eigen. Ja, sie konnte durchaus auf ihre Erfolge zurückblicken: Beruflich saß sie hoch zu Ross, aber ihr Privatleben ließ sehr zu wünschen übrig.
Frustriert rollte sie sich auf die andere Seite. Ja, mit sechsunddreißig Jahren war es nicht mehr so leicht, einen passenden Prinzen zu ergattern. Erotische Abenteuer, gerade bei ihrem schneewittchenhaften Aussehen, waren immer möglich. Aber die meisten ihrer männlichen Kollegen trugen einen Ehering. Männer aus anderen beruflichen Bereichen zeigten wenig Verständnis für ihren aufreibenden Job und fühlten sich bereits nach kurzer Zeit stark vernachlässigt.
Es dauerte meist nicht sehr lange, bis ihre jeweiligen Lebenspartner dazu neigten, sich die fehlende Selbstbestätigung woanders zu holen. Sie konnte die zahlreichen Affären ihrer Exfreunde schon gar nicht mehr zählen.
Dabei sehnte sie sich nach einer Familie, wollte jeden Abend das gemeinsame Kind ins Bett bringen und mit ihrem Ehemann über seine herumliegenden Socken streiten. Sie träumte von ketchupverschmierten Kindershirts, von heißen Nächten, aber auch kühlen Tagen, wo sie Halt in ihrer kleinen Familie fand.
Eine einzelne Träne perlte über ihre Wange und tropfte auf das Kopfkissen. Vielleicht sollte sie doch bei der Singlebörse Akademiker mit Niveau vorbeischauen, dachte sie verbittert. Während die Großstadt langsam zum Leben erwachte, übermannte Katharina der Schlaf.
Kurz vor zwölf holte sie der Wecker aus einer Tiefschlafphase und müde zog sie sich die Bettdecke über ihren Kopf. „Ich will noch nicht aufstehen“, murmelte sie trotzig. Fünf Minuten gönnte sie sich noch, dann schwang sie ihre Beine aus dem Bett und schlurfte ins Bad.
Maria, die Haushälterin grüßte leise und fragte nach Katharinas Wünschen: „Möchten Sie einen starken Kaffee? Dazu Toast oder frische Brötchen?“
„Ich hätte gern Toast und einen starken Kaffee, so wie immer. Danke, Maria.“
Nach der kurzen Morgentoilette, setzte sie sich an den Küchentisch und ließ sich von ihrer Haushälterin bedienen. Maria, eine rundliche Spanierin um die sechzig, bemutterte sie fürsorglich und hatte immer ein offenes Ohr. Beide pflegten eine innige, vertrauensvolle Beziehung zueinander. Katharinas Eltern waren beruflich stark eingespannt und sie hatte sich oft eine herzlichere Mutter an ihre Seite gewünscht.
Eigentlich wollte sie es besser machen, mit ihrer eigenen Familie. Wollte den Beruf hintenanstellen, wenn es um die Erziehung ihrer Kinder ging. Wollte für sie da sein, sie trösten, umsorgen und lieben. Stattdessen hatte sie es noch nicht einmal geschafft, eine Familie zu gründen.
Ständig erschien vor ihrem geistigen Auge eine überdimensionale Vierzig, die bedrohlich auf sie zuraste. Besorgt registrierte sie die ersten tieferen Fältchen um die Augenpartie und vereinzelte graue Haare im Schläfenbereich. Nein, sie war keine eitle Person, ganz im Gegenteil. Aber dieses verdammt laute Ticken der verflixten inneren Uhr.
Maria setzte sich ihr gegenüber. „Oh, Sie sehen so traurig aus. Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf?“, fragte sie mit ehrlicher Anteilnahme in ihrer Stimme.
„Ach Maria, Sie können sich mit ihren drei Enkeln wirklich glücklich schätzen und Sie haben meinen aufrichtigen Neid. Sie wissen ja, die innere Uhr.“
„Wenn Sie rund um die Uhr arbeiten, finden Sie nie einen passenden Mann. Sie müssen kürzer treten oder sich eine längere Pause gönnen. Sie haben genug Geld und sind nicht auf das Gehalt angewiesen. Fahren Sie in den Urlaub oder machen Sie eine Kreuzfahrt, vielleicht finden Sie dort die große Liebe.“
„Danke für Ihren Zuspruch, Maria, ich werde darüber nachdenken.“ Sie biss herzhaft in den knusprigen Toast und auch der starke Kaffee weckte ihre verschollen geglaubten Lebensgeister.
Maria hantierte inzwischen eifrig mit dem Wischmopp, obwohl der Fußboden glänzte. In ihrer Fantasie sah Katharina Spielzeug auf dem Boden herumliegen und schmutzige Fußabdrücke von Kinderschuhen. Bevor diese Gedanken sie seelisch noch tiefer herunterzogen, stoppte sie die Flut der Bilder in ihrem Kopf. Ihr Ego konnte in Sachen Beziehung keine weiteren Tiefschläge mehr verkraften.
„Ich bin jetzt im Arbeitszimmer“, rief sie Maria zu und lief die Treppe nach oben. Der heimische, lichtdurchflutete Arbeitsplatz war modern ausgestattet und ließ keine Wünsche offen. Sie ließ sich auf den Bürostuhl fallen und streckte ihre Beine unter dem Schreibtisch aus.
Dann fuhr sie den Rechner hoch und checkte die Emails. Werbung, Werbung und kein Ende. Pharmareferenten und Firmen bombardierten sie auch privat mit Angeboten. Genervt drückte sie auf Löschen und hätte beinahe eine Mail mit einem russischen Absender im Nirwana versenkt.
Neugierig öffnete sie die Nachricht und übersetzte das fehlerhafte Englisch. Zwei Videos befanden sich im Anhang. Sie speicherte die Mail in einem Ordner ab und beschloss, sich an ihrem freien Wochenende darum zu kümmern. Hin und wieder zog man sie bei schwierigen Patienten zu Rate. Ihren guten Ruf allerdings, den hatte sie sich hart erarbeiten müssen.
Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie sich so langsam auf den Weg ins St. Josefs Hospital begeben sollte. Erneut lag eine zwölfstündige Schicht vor ihr, aber es nützte ja nichts.
Maria klopfte leise an den Türrahmen. „Ich bin fertig, Frau von Burgstett. Eine warme Mahlzeit befindet sich auf dem Herd und das Haus ist geputzt. Ihnen einen angenehmen Arbeitstag.“
„Vielen Dank Maria, ich weiß Ihre Arbeit sehr zu schätzen.“
Sie hörte die Haustür ins Schloss fallen und war nun wieder mutterseelenallein in einer viel zu großen Villa. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie die Villa nach dem Tod ihrer Tante übernahm. Mehrmals startete er den Versuch, sie mit dem Architekten, der für den Umbau angeheuert wurde, zu verkuppeln.
Okay, sie war mit diesem gutaussehenden Charmeur im Bett gelandet, doch der wollte alles andere, nur keine Familie gründen. Diese reichen Sonnyboys hatten ein unberechenbares Gemüt und sie konnte schon froh sein, dass er sich überhaupt für eine alternde Sechsunddreißigjährige entschieden hatte - Abenteuer hin oder her.
Die meisten Püppchen dieser ewigen Junggesellen waren blond, besaßen eine voluminöse Oberweite, aufgespritzte Lippen und waren vom geistigen Niveau ziemlich einfach gestrickt: Geld und Ansehen, das reichte fürs Erste.
Jetzt sollte sie aber … Hastig griff sie nach einem Ordner und eilte die Treppe hinunter in den Flur. Schuhe, Jacke, Aktentasche, ab in die Garage und den Motor gestartet. Das Garagentor glitt nach oben und sie trat aufs Gas.
Ein herrlicher Sommertag offenbarte sich ihr und sie hätte nur zu gern dessen Vorzüge genossen. Leider verhinderte ihr täglicher Dienst, dass sie den Luxus eines Sonnenbades auf der großzügig angelegten Terrasse genießen konnte. Schichtdienst, Lehrstuhl, Forschung - alles zwängte sie ein und nahm ihr die Luft zum Atmen. Marias Worte schwirrten in ihrem Hinterkopf: Nehmen Sie sich eine Auszeit.
Eine Fahrt ans Meer wäre geradezu himmlisch - den feuchten Sand unter den nackten Sohlen zu spüren, die endlose Weite genießen und den tosenden Wellen zu lauschen. Warum, in Gottes Namen, gönnte sie sich eigentlich keine Auszeit? Weil ihr Leben bis obenhin mit Arbeit vollgestopft war?
Geschickt manövrierte sie ihren BMW auf den engen Stellplatz des St. Josefs Hospitals und eilte mit schnellen Schritten in ihr Büro. Der diensthabende Stationsleiter scharrte bereits mit den Hufen.
„Der kleine Tim möchte seinen Spaziergang nicht antreten. Er will unbedingt, dass Sie ihn begleiten.“
„Das ist doch aber nicht mein Aufgabenbereich, Andreas. Ich kann doch nicht auf sämtliche Sonderwünsche aller Patienten eingehen. Nachher muss ich auch noch in die Forensik. Das Gutachten für die drogenabhängige Frau Wagner muss in Kürze beim Staatsanwalt vorliegen.“
„Machen Sie eine Ausnahme, bitte.“ Andreas warf ihr einen treuherzigen Blick zu.
„Wo finde ich Tim?“
„Er schläft im Aufenthaltsraum am Tisch.“
Sie schnalzte kurz mit der Zunge, machte auf dem Absatz kehrt und lief den Flur entlang. Tim hatte seinen Oberkörper auf den Tisch gelegt und schlief tatsächlich tief und fest. Ihm wurden vor zwei Tagen Beruhigungsmittel verabreicht, da sich sein Zustand verschlimmert hatte.
Der zehnjährige, autistische Junge war ihr sehr ans Herz gewachsen. Obwohl er in seiner eigenen Welt lebte, ließ er Katharina manchmal hinein und öffnete sich. Sein dunkelblonder Strubbelkopf und die zierliche Gestalt weckten ihre Mutterinstinkte. Am liebsten hätte sie den Jungen vom Fleck weg adoptiert.
Seine Mutter war mit dem verschlossenen Jungen total überfordert. Ihr fiel es schwer zu begreifen, warum Tim nicht mit ihr kommunizieren wollte oder konnte. Sie hielt ihn für einen verstockten, bösartigen Jungen und ihr rutschte mehr als einmal die Hand aus. Den Vater schien das Ganze wenig zu interessieren.
Das Jugendamt sorgte mit dem Einverständnis der Eltern dafür, dass Tim in das Hospital eingewiesen wurde und er lebte jetzt in einer gemischten Gruppe mit verschiedenen Altersstufen. Wenn ihm der Stress auf der Station zu viel wurde, dann schlug sich dieser äußerst sensible Junge ununterbrochen auf sein rechtes Ohr. Innerhalb kürzester Zeit fing es dann an zu bluten und Tim wurden ruhigstellende Mittel verabreicht.
Katharina hockte sich neben Tim und streichelte liebevoll über sein kurzes Haar. „Aufwachen, mein Kleiner. Dort draußen scheint die Sonne und du möchtest doch bestimmt im Park die Schmetterlinge beobachten. Hab ich Recht?“
Tim grunzte leise und stieß sie weg. „Komm schon, lass mich nicht warten.“ Sie erhob sich, griff Tim behutsam unter die Arme und richtete ihn auf. Dann ließ sie den Jungen sofort los, denn er mochte keinerlei Berührungen.
Gestresst fing Tim sofort damit an, mit der flachen Hand mehrmals auf sein Ohr zu schlagen. Ihre Finger schnellten nach vorn, umfassten sanft Tims Unterarm und bewusst lenkte sie seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.
„Hast du am Fenster den großen Schmetterling gesehen? Lass uns schnell nach draußen gehen, vielleicht entdecken wir ihn auf einer Blume.“
Beharrlich schob sie Tim zur Tür hinaus und bugsierte ihn zu einer Bank neben einer Blumenrabatte. Dort flatterten Kohlweißlinge um die blauen Lavendelblüten und fasziniert beobachte der Junge die Insekten.
„Du bist ein Schatz, Tim, aber ich muss wieder an die Arbeit.“ Mit wehendem Kittel hastete sie zurück in ihr Büro.
Familie Schulze wartete bereits ungeduldig, das konnte sie deutlich von den Mienen der Eltern ablesen. Deren Tochter Jessica, ihre Patientin, hockte auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch, schnaufte wie ein Walross und wiegte ihren Oberkörper vor und zurück.
Die geistige und körperliche Förderung ihres einzigen Kindes lag dem Ehepaar sehr am Herzen. Für die Eltern stand Außerfrage, ihr geliebtes Mädchen einfach abzuschieben und mit tiefem Bedauern dachte Katharina an Tim.
Kurz und knapp schilderte Katharina weitere Möglichkeiten für Jessica und das Ehepaar saugte die Informationen auf wie ein Schwamm. Jessica hingegen war mit der Situation völlig überfordert. Die lauten Schreie der Patienten im Flurbereich irritierten und verunsicherten sie zutiefst. Hektisch sprang sie auf, hüpfte durch den engen Raum und drehte sich Kreis.
Nach etwa fünf Minuten hatte das siebzehnjährige, mollige Mädchen ihre überschüssige Energie abgebaut, setzte sich wieder auf den Stuhl und wiegte sich im gewohnten Rhythmus. Katharina bewunderte Jessicas Eltern, mit welcher Ruhe und Gelassenheit sie die Tochter gewähren ließen. Da hatte sie schon ganz andere Fälle erlebt. Nach einer halben Stunde war das Gespräch beendet und alle Beteiligten atmeten auf.
Jetzt stand der Termin mit Frau Wagner in der Forensik auf dem Programm. Obwohl Katharinas Fach- und Forschungsgebiet sämtliche Formen des Autismus beinhaltete, betreute sie auch andere Fachbereiche. Die Psychologie hatte sie schon immer fasziniert, vor allen Dingen, welche Wirrungen ein menschlicher Geist nehmen konnte.
Während sie sich rasch eine Tasse Kaffee gönnte, dachte sie mit Unbehagen daran zurück, unter welch Grausamkeiten diesen kranken Menschen teilweise zu leiden hatten: Im dritten Reich ohne Rücksicht auf Verluste gnadenlos euthanasiert, verstörenden Elektroschocktherapien ausgesetzt und vom Exorzismus ganz zu schweigen. In vielen Heimen wie Vieh gehalten, vegetierten diese armen Seelen bis zum Lebensende vor sich hin. Die Rechte und Bedürfnisse dieser Menschen wurden mit Füßen getreten, teilweise auch heute noch.
So, jetzt musste sie sich aber sputen. Erneut eilte sie über die Flure, schloss Türen auf und wieder zu. Obwohl die staatlichen Gelder an allen Ecken und Enden fehlten, waren die Patienten trotzdem gut untergebracht. Helle, recht freundliche Zimmer, warmes Essen und eine Betreuung rund um die Uhr, soweit möglich. Einzig die Gitter vor den Fenstern störten die Idylle und nahmen den Räumen das Heimelige.
Der Fachkräftemangel machte allen zu schaffen, aber das stand auf einem anderen Blatt.
Sie schloss die Tür zur Forensik auf und schritt auch hier an den Einzelzimmern mit den Monitoren vorbei. Hier befanden sich Patienten, die als besonders aggressiv galten. Rund um die Uhr wurden sie überwacht und die Zimmertüren blieben verschlossen.
Frau Wagner saß schon vor dem Sprechzimmer und wirkte sehr nervös. Im Drogenrausch hatte sie auf ihren Lebensgefährten eingestochen und sollte nach einer langen Therapie entlassen werden. Täglich machte sie von ihrem Freigang Gebrauch, um sich wieder an die Welt vor den Toren der Psychiatrie zu gewöhnen.
Katharina führte mit ihr ein längeres Abschlussgespräch. Es war gar nicht so leicht, für diese Patienten. Für die erste Zeit mussten sie bei Freuden oder der Familie unterkommen, um sich dann eine Wohnung und später auch Arbeit zu suchen. Es würde schwer werden und die meisten Patienten griffen bereits während dieser Zeit erneut zu den Drogen.
Nach erfolgtem Gespräch eilte sie zurück in ihren Fachbereich. Zwei Neuaufnahmen, weitere Gespräche und Untersuchungen standen auf dem Programm. Nur mit einem straffen Zeitplan war die tägliche Arbeit zu bewältigen. Ausgebildete Pflegekräfte fehlten an allen Stellen. Viele Mitarbeiter hielten der psychische Belastung nicht stand und wanderten ab.
Auf allen Stationen herrschte eine ziemlich hohe Fluktuation, sehr zum Leidwesen der meisten Insassen, die feste Bezugspersonen benötigten. Hier war eindeutig Vater Staat gefragt …
Endlich war ihr Spätdienst vorüber und total übermüdet überquerte sie den Parkplatz. Ihre Schritte hallten durch die milde Nacht und sie freute sich auf die zwei freien Tage. Wie üblich hatte sie sich viel vorgenommen: Sauna, Joggen, Treffen mit Freunden, aber meist scheiterte es an der Umsetzung.
Abgespannt und überarbeitet lümmelte sie fast den ganzen Tag auf der Couch, las viel oder surfte im Internet. Manchmal schaffte sie es auch bis zur Terrasse und sonnte sich. Aber mehr war einfach nicht drin. Sie hasste ihren inneren Schweinehund, der seinen Trotzkopf immer wieder durchsetzte. Glücklicherweise blieb das ihren Patienten verborgen, denen sie ganz andere Dinge predigte.
Ihre Eltern hatten sie außerdem zu einer zünftigen Grillparty eingeladen, natürlich mit einem großen Anteil potentieller Junggesellen. Schon bei dem Gedanken an die gekünstelte Konversation bekam sie Magengrummeln. Immerhin konnte sie sich als Ärztin selbst krankschreiben, na wenn das kein Vorteil war.
Gähnend lenkte sie den Wagen in die Garage und lief erschöpft ins Haus. Aktentasche, Jacke und Schuhe ließ sie achtlos im Flur liegen und steuerte die Küche an. Das kalte Essen klatschte sie lieblos auf einen Teller und aß einige Bissen.
Dieser ewige Schichtdienst zehrte an ihren Kräften. Früher hatte ihr das wenig Sorgen bereitet, aber mit zunehmendem Alter … Verdammt, nicht schon wieder dieses Thema! Verärgert kniff sie ihre Lippen zusammen und stellte den halbvollen Teller auf den Tresen.
Seufzend trottete sie ins Badezimmer und putzte sich die Zähne. Morgen würde sie sich ein Bad gönnen, mit Rosenöl und ganz viel Zeit. Im Schlafzimmer ließ sie ihre Kleidung auf dem Boden liegen und kroch unter die Bettdecke. Wohlig grummelnd streckte sie sich aus und es dauerte nur wenige Minuten, bis sie eingeschlafen war.
Die Sonne stand bereits hoch am Horizont, als sie blinzelnd die Augen öffnete. Ihr Rücken tat zwar vom langen Liegen weh, aber es war einfach himmlisch, wieder einmal so richtig auszuschlafen. Das einzig Unfaire daran - ein halber freier Tag war inzwischen verstrichen.
Maria hatte ebenfalls frei und so bereitete sie sich selbst das Frühstück zu. Die Reste der gestrigen Mahlzeit warf sie weg und steckte den Teller in den Geschirrspüler. Die Kaffeemaschine summte leise vor sich hin, während sie das Rührei in der Pfanne wendete. Mit dem vollen Tablett balancierte sie ins Arbeitszimmer hinauf und stellte es neben dem Laptop ab. Während das Gerät hochfuhr, nippte sie am heißen Kaffee und löffelte das Rührei.
Bis auf reichlich Werbung blieb ihr Mailpostfach leer, sehr zu ihrem Bedauern. Ihre beste Freundin war seit kurzem frisch verliebt und meldete sich kaum noch. Sie gönnte Laura das Glück von Herzen, fühlte sich aber dadurch noch einsamer. Der anstrengende Job ließ leider wenig Freiraum und sie zog sich eindeutig zu sehr zurück. Wie sollte sie neue Bekanntschaften schließen, wenn sie sich in ihrer Villa verschanzte?
Sie erinnerte sich an die gestrige Mail aus Russland und öffnete diese erneut. Kopfschüttelnd las sie sich die Zeilen noch einmal durch und warf dann einen Blick auf das Video. Verstörende Bilder reihten sich aneinander und sie stoppte die Aufzeichnung. Der Appetit war ihr restlos vergangen, aber ein Schluck heißer Kaffee kam gerade recht.
Widerholt klickte sie auf Play und starrte die Aufnahme an. Das Video dauerte nur eine knappe Minute. Ein Kollege musste sie hier gehörig zum Narren halten, anders konnte sie sich die Umstände in nicht erklären.
In einer dunklen Zelle, bestückt mit einer Toilettenschüssel und einem Metallbett samt Matratze, hockte ein magerer Mann. Nur mit einem dünnen OP-Hemdchen bekleidet, sprang er durch den Raum, trommelte an die Wände und schrie wie besessen. Seltsamerweise störten die Schreie des Mannes die Aufnahmequalität der Kamera.
Hin und wieder wuchtete er das Bett durch den Raum, obwohl sie manchmal das Gefühl hatte, es bewegte sich von allein. Zwischendrin hockte sich der Patient auf den Boden, um zu urinieren oder lag auf dem Bett und krampfte. Seine Stimme wechselte in verschiedene, ja fast dämonenhafte Tonlagen und verursachte mehrere unangenehme Schauer, die ihr über den Rücken jagten.
Kurz bevor das Video endete, wurde die Aufzeichnung erneut gestört. Danach schwebte der Mann schluchzend und verwirrt stammelnd in der Luft. Was für ein kranker Fake, dachte sie verärgert. Wenn diese Bilder echt wären, müsste man das Hospital auf der Stelle schließen.
Wütend tippte sie eine gepfefferte Antwort, schickte sie ab und löschte die Mail. Um auf andere Gedanken zu kommen, surfte sie noch eine Weile im Internet und überlegte tatsächlich, sich in einem Portal für Singles anzumelden. Aber der Gedanke, sich mit fremden Männern zu treffen, schreckte letztlich sie ab.
Sie dachte an unzählige Gespräche, bei denen man auf keinen gemeinsamen Nenner kam und die sich quälend in die Länge zogen. Vielleicht sollte sie doch auf der Grillparty ihrer Eltern aufkreuzen. Immerhin waren dort auch einige ihrer Kollegen anwesend und nicht nur die übriggebliebenen Junggesellen.
Sie erhob sich und schritt zur Tür. Ein leises Pling machte sie auf eine weitere Mail aufmerksam. Bestimmt wieder Werbung, dachte sie, aber die Neugier siegte. Zwei Klicks und die Seite öffnete sich. Oha, wieder Post aus Russland. Diesmal waren zwei weitere Videos angehängt.
Sollte sie sich das antun oder besser die Terrasse aufsuchen? Doch wissbegierig, wie sie nun einmal war, las sie die Zeilen und sah sich auch die Aufzeichnungen an. Verschiedene Patienten, aber ähnliche Inhalte. Kreischen, Toben, Krampfen, Schweben und Betten, die wie von Geisterhand bewegt, laut über den Boden polterten.
Magere Gestalten, unter unwürdigsten Bedingungen gehalten, versuchten diesem Grauen zu entkommen. Verzweifelt trommelten sie mit ihren Fäusten an Türen und Wände. In Einzelhaft vegetierten sie dahin und niemand kümmerte sich um sie.
Hin und hergerissen, versuchte sie die Videos zu analysieren und bezweifelte deren Echtheit. Der Text allerdings war eindringlich. Sie wurde um Hilfe gebeten, das stand außer Frage. Wollte man auf diese Weise um Hilfe und um Spendengelder bitten?
Eine zweite Meinung wäre mit Sicherheit nicht schlecht, denn bis jetzt hatte sie noch nie einen Insassen schweben sehen. Auch ihr Gewissen meldete sich zu Wort, diesen hilflosen Patienten musste geholfen werden. Vielleicht konnte sie auf der Grillparty den einen oder anderen Gönner aufspüren.
Das Videomaterial zog sie auf ihr Handy und speicherte es. David, ihren besten Freund, konnte sie vorab um Sichtung des Materials bitten, bevor sie sich zum Gespött aller machte.
Dann fischte sie ein paar Papiere aus dem Regal und verzog sich auf die Terrasse, um die nächste Vorlesung an der Uni vorzubereiten. Wohlig räkelte sie sich auf der Liege, setzte die Sonnenbrille auf und blätterte in den Unterlagen. Die Sonne und ein leichter Wind streichelten über ihre blasse Haut und schläfrig legte sie die Blätter zur Seite. Es dauerte keine fünf Minuten und sie döste ein.