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Kapitel 3

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Morgen war es also soweit, der Flug war gebucht und die Koffer gepackt. Sechs Tage würde sie in Krasnojarsk bleiben, um den seltsamen Dingen auf den Grund zu gehen.

Ihr Chef hatte zwar den Urlaub genehmigt, aber keinerlei Forschungsgelder zur Verfügung gestellt. Flug und Unterbringung bezahlte sie also aus eigener Tasche. Außerdem hatte sie noch zusätzliches Equipment besorgt, um das dortige Umfeld zu dokumentieren.

David war nach wie vor wenig angetan von ihrer Idee und hatte sie mehrmals darum gebeten, besser nicht zu fahren. Auch Maria vertrat die Meinung, dass ein klassischer Urlaub mehr zu Katharinas Erholung beigetragen hätte. Aber sie war einfach zu neugierig, was es mit den Videos auf sich hatte. Ihr Wissensdurst, einmal entfacht, ließ sich nicht so leicht stillen.

Der Dienst war gleich zu Ende und sie wollte sich von Tim verabschieden. In letzter Zeit wirkte der Junge verlorener als sonst und ihr schlechtes Gewissen flammte hin und wieder auf. Aber es waren doch nur sechs Tage, beruhigte sie sich stets. Danach hatten die Patienten sie wieder.

Tim saß im Aufenthaltsraum am Fenster. Den Oberkörper auf das Fensterbrett gebeugt, schlief er wieder tief und fest. Sie ging in die Hocke und rüttelt sanft an seinem Arm. Verschlafen hob er seinen Blick und blinzelte. Mürrisch, durch die erfolgte Störung und Berührung, presste er seinen Arm dicht an den Oberkörper.

„Hallo, mein Kleiner. Ich wollte mich nur von dir verabschieden, ich verreise für ein paar Tage.“

Blitzschnell umfassten seine Finger ihr Handgelenk. „Nicht fahren, hierbleiben, bitte.“ Beinahe flehend sah er sie an.

Behutsam löste sie seinen Klammergriff. „Tim, was ist denn los? Ich komme wieder zurück, das weißt du doch. Es sind nur ein paar Tage.“

„Alles wird sich ändern … alles wird sich ändern …“ Ununterbrochen schlug er sich im Rhythmus seines Singsangs auf das Ohr.

Erschrocken fixierte sie seinen Arm. „Schhhh … Tim, beruhige dich bitte. Ich bin bald wieder zurück, fest versprochen.“

Doch Tim hörte nicht auf, gegen diese Reise zu protestieren, bis ihn ein Pfleger in seine Obhut nahm und ihm ein Beruhigungsmittel verabreichte. Katharina zerriss es das Herz, den Jungen so leiden zu sehen. Aber das Projekt erschien interessant und vielleicht konnten durch Spenden die Lebensbedingungen dieser bedauernswerten Patienten verbessert werden.

Der bevorstehende Ortswechsel kam ihr wie gerufen, denn in ihrem Leben hatte sich einiges festgefahrenen. Zwar hatte sie von einem Urlaub am Meer geträumt, aber was soll‘s. Den konnte sie später immer noch planen. Immerhin wussten jetzt alle Bescheid.

Der einzige, von dem sie sich noch nicht verabschiedet hatte, war David. Seit diesem Gespräch vor zwei Wochen waren sie sich aus dem Weg gegangen und hatten kein Wort mehr miteinander gewechselt. So, wie es ausschaute, würde wohl auch die Freundschaft an den Gefühlen füreinander zerbrechen. Sie bedauerte diesen Umstand sehr. David würde ihr fehlen, auf privater und beruflicher Ebene.

Um nicht im Streit auseinanderzugehen, begab sie sich in die forensische Abteilung und suchte ihn. Sein einst so strahlender Blick blieb dunkel.

„Hallo David. Ich fliege morgen nach Krasnojarsk und wollte mich von dir verabschieden. Hast du vielleicht noch einen Tipp für mich, worauf ich besonders achten sollte?“

„Nicht das ich wüsste“, erwiderte er kühl. „Wie du bereits weißt, halte ich von deiner Reise nicht viel, aber du musst wissen, was du tust.“

„Dann entschuldige bitte die Störung. Dir noch einen schönen Tag.“

Wütend knallte sie die Tür hinter sich zu. Das war es also, das Ende. Einfach Aus und Vorbei. Sie spürte die Tränen aufsteigen und kämpfte dagegen an. Verstohlen wischte sie sich die Augenwinkel und lief zurück auf ihre Station. Wer nicht will, der hat schon! Sollte David doch mit seiner durchgeknallten Vanessa selig werden.

Die Kollegen auf ihrer Station wünschten ihr eine gute Reise und viel Erfolg. Bevor sie endgültig aufbrach, schaute sie noch bei Tim vorbei. Zusammengerollt wie ein Embryo, lag er im Bett und schlief er tief und fest. Liebevoll streichelte sie über sein dunkelblondes, kurzes Haar. „Mach’s gut mein Kleiner, wir sehen uns bald wieder.“

Leise schlich sie zur Tür hinaus, packte ihre Habseligkeiten in die Tasche und trat den Heimweg an.

In der Villa begrüßte Klein-Minou ihr Frauchen und strich ihr laut schnurrend um die Beine. In den letzten zwei Wochen war sie ordentlich gewachsen und fühlte sich im neuen Zuhause rundum wohl. Maria hatte sich bereit erklärt, das Tierchen während ihrer Abwesenheit zu versorgen.

Katharina konnte nicht genau sagen warum, aber der Zeitpunkt für diese Reise erschien ihr mit einem Mal doch recht unpassend. Diese leisen Zweifel hatten sich erst in letzter Zeit eingeschlichen. Aber was soll’s, jetzt war alles gebucht und bezahlt. Ein Rückzieher wäre irgendwie albern und kam nicht in Frage.

Nach einem entspannenden Wannenbad, checkte sie noch einmal das Gepäck und die Papiere. Alles vollständig. Dann schrieb sie eine lange Liste mit Dingen, die Maria beachten sollte. Unruhig tigerte sie durch die Villa und sah sich noch einmal die verstörenden Videos an. Was würde sie morgen Abend erwarten? Ob sie schon einen Blick auf die Patienten werfen durfte?

Schluss jetzt. Auf der Suche nach Ablenkung, griff sie zu einem Buch. Aber auch das Lesen brachte nicht viel, unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um die Ereignisse in der Psychiatrie. Vielleicht sorgte ja der Schlaf für die nötige Ruhe und wenige Minuten später schlüpfte sie unter die Bettdecke.

Minou tapselte durch das Zimmer, sprang aufs Bett, kringelte sich neben ihr auf dem Kopfkissen zusammen und schnurrte wie ein Weltmeister. Obwohl die Geräusche der kleinen Katze beruhigend auf sie wirkten, blieb ihr der Schlaf verwehrt. Warum nur, war ihr so unwohl zumute? Und erneut dachte sie daran, die Reise abzusagen. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf redete ohne Punkt und Komma auf sie ein, sofort alles zu canceln.

Ob ihr Unterbewusstsein das Zusammentreffen mit den Insassen scheute? Wieso tauchten mit einem Schlag all die negativen Gedanken auf? Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Irgendwann wurde es auch Minou zu bunt und sie verzog sich auf die leere Seite des Doppelbettes.

Um fünf klingelte der Wecker. Sie hatte kein Auge zugetan und spürte den sich ankündigenden Kopfschmerz deutlicher als ihr lieb war. Laut gähnend schlurfte sie ins Bad. Dunkle Augenringe und geschwollenen Lider zeugten von der schlaflosen Nacht. Minou hingegen raste vergnügt den riesigen Kratzbaum rauf und runter und freute sich des Lebens.

Zwei Tassen mit starkem Kaffee und eine Schmerztablette halfen über den morgendlichen Tiefpunkt hinweg. Anschließend kontrollierte sie alle Fenster und Türen, hob das Kätzchen auf den Arm, knuddelte und herzte Minou ein letztes Mal. Dann hupte das Taxi und sie brach eilig auf.

Der Berufsverkehr hielt sich in Grenzen und sie erreichten pünktlich den Flughafen. Sie checkte ein und spürte das leichte Zittern ihrer Hände. Neugier und eine spürbare Angst machten sich breit. An Bord angelte sie ein Lehrbuch aus der Tasche und frischte ihr Fachwissen auf.

Als die Maschine startete, wurde ihr endgültig bewusst, dass es kein Zurück mehr gab. Wie ein Echo hallten die Tims Worte in ihren Ohren: „Alles wird sich ändern … alles wird sich ändern …“

Sie gab der Stewardess ein Zeichen und verlangte einen Tomatensaft. Ihre Mundhöhle fühlte sich wie eine Wüste an, fehlte nur noch, dass zwischen ihren Zähnen der Sand knirschte. Das sanfte Ruckeln der Maschine und das monotone Motorengeräusch ließen sie schläfrig werden. Müde lehnte sie sich zurück und schlief tatsächlich ein. Erst als ihr Sitznachbarn sie versehentlich mit dem Ellenbogen anstieß, schreckte sie auf.

Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie vier Stunden am Stück geschlafen hatte. Aber das war gut so, denn sie wollte nicht völlig abgekämpft dort auftauchen. Fünf Flugstunden hatte sie noch vor sich. Was wohl Minou gerade machte? Ob Maria das Kätzchen auch wirklich gut versorgte?

Himmel, was waren denn das für bescheuerte Gedanken! Die letzten zwei Wochen hatte sie nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht, was Minou wohl während ihrer Abwesenheit veranstaltete. Sie sollte sich besser auf ihre zukünftigen Aufgaben konzentrieren, um den dortigen Vorkommnissen auf den Grund gehen, anstatt den Befindlichkeiten ihrer kleinen Katze nachzujammern. Also schlug sie das Fachbuch auf und blätterte lustlos durch die Seiten.

Als der Pilot die bevorstehende Landung ankündigte, wurde ihr bewusst, dass auch dröges Nichtstun auf Dauer anstrengend sein konnte. Der lange Flug hatte es in sich und sie freute sich, endlich wieder den Boden unter ihren Füßen zu spüren.

Die Landung ging reibungslos von statten und erleichtert wälzte sie sich mit den anderen Passagieren nach draußen. Der Flughafen Jemeljanowo präsentierte sich modern, mit viel Glas und im westlichen Stil. Das hatte sie so nicht erwartet.

Verloren stand sie da, mit ihrem vollbepackten Rollköfferchen und suchte ein Taxi. Ungefähr vierzig Kilometer lagen noch vor ihr und den Taxifahrer würde es bestimmt freuen, sie nach Krasnojarsk zu befördern.

Ein Herr um die fünfzig steuerte auf sie zu und sprach sie auf Englisch an: „Do you need a Taxi?“

„Yes!“

Beherzt griff er nach ihrem Gepäck und verfrachtete es in den Kofferraum. Dann hielt er ihr die Tür vom Taxi auf und half ihr gentlemanlike beim Einsteigen. Erst im Inneren des Wagens fiel ihr der Alkoholgeruch auf. Na fein, wie sollte es auch anders sein, der Taxifahrer hatte anscheinend Wodka gefrühstückt. Sollte sie das Fahrzeug fluchtartig verlassen oder half eventuell ein Gebet?

Ehe sie weiter über einen möglichen Fluchtplan sinnieren konnte, startete der Fahrer den Wagen und lenkte ihn zügig auf die Schnellstraße. Nun ja, vielleicht benötigte er den Alkohol, um sicher fahren zu können.

Nett und freundlich war dieser Mann allemal. Höflich erkundigte er sich in gebrochenem Deutsch über den Verlauf des Fluges und fragte nach ihrer Heimat. Ohne Hemmungen erzählte er ihr, dass sein Großvater als deutscher Kriegsgefangener in Sibirien geblieben war, der großen Liebe wegen. Das Gespräch plätscherte angeregt dahin und erst, als er sie nach dem genauen Zielort fragte, wurde er stiller.

„Nicht gut, das Haus, nicht gut“, brabbelte er vor sich hin und bekreuzigte sich. „Niemand gibt dort freiwillig ein Familienmitglied hin, nur der Staat weist kranke Leute ein. Dort wohnt das Böse, so erzählt man sich.“

„Waren Sie schon einmal dort?“

„Gott bewahre!“ Erneut bekreuzigte er sich und küsste den Rosenkranz, der um den Rückspiegel geknüpft war.

„Woher wollen Sie denn dann wissen, was dort drinnen in der Anstalt vor sich geht? Vielleicht fürchten sich die Menschen aus Unwissenheit vor den Patienten?“

„Nein, nein, das hat damit nichts zu tun. So etwas fühlt man, tief in seinem Herzen.“ Theatralisch klopfte er sich auf die Brust. „Was wollen Sie eigentlich dort?“

„Ich bin Ärztin und möchte mir die dortigen Behandlungsmethoden einmal näher anschauen. Man lernt ja nie aus.“

Sie versuchte ein überzeugendes Lächeln aufzusetzen, erkannte aber im Rückspiegel, dass ihr das ziemlich misslungen war.

Vor ihr tauchte Krasnojarsk auf, eine moderne Großstadtmetropole. So eine riesige Stadt hatte sie nicht erwartet. Staunend starrte sie auf die breiten Straßen und die hohen Gebäude.

Eine beeindruckende Brücke spannte sich über den mächtigen Jenissei. Die undefinierbaren Bäume, welche die Hauptstraße säumten, waren tatsächlich aus Plastik und leuchteten in der Dämmerung. Aber sonst konnte man die sibirische Metropole durchaus mit deutschen Großstädten vergleichen.

Neugierig blickte sie aus dem Fenster und sog die neuen Eindrücke in sich auf. Ihr blieb somit verborgen, dass der freundliche Taxifahrer sie ständig besorgt im Rückspiegel musterte. Nach einer Weile zeigten sich die Gebäude weniger mächtig und es wurde grüner.

„Bis zur Klinik ist es nicht mehr weit“, meldete sich der Taxifahrer noch einmal zu Wort. „Sie befindet sich außerhalb der Stadt, zum Glück.“

Die Straßen wurden zunehmend schlechter und sie spürte auf unangenehme Weise jedes Schlagloch. Vereinzelte Bäume am Rande der Straßen bildeten inzwischen kleine Grüppchen, bis nur noch dichter Wald das Fahrzeug umgab. Jetzt spürte sie tatsächlich den ersten Hauch Sibiriens.

Kurze Zeit später hatten sie das Ziel erreicht. Der Taxifahrer schien es eilig zu haben und wuchtete hastig das Gepäck aus dem Kofferraum.

Zum Abschied reichte er ihr die Hand. Sein Händedruck war fest und er sah ihr dabei in die Augen. „Passen Sie gut auf sich auf. Nicht alle Rätsel dieser Welt wollen gelöst werden.“ Er umrundete das Taxi, stieg ein und jagte mit quietschenden Reifen davon. Verwundert blickte sie ihm hinterher. Was hatten seine Worte zu bedeuten?

Erst jetzt spürte sie den Gegenstand in ihrer Hand. Beim Abschied hatte er ihr etwas in die Handfläche gedrückt, das ihre Finger verkrampft umklammerten. Erstaunt öffnete sie die Faust und betrachtete sein Abschiedsgeschenk. Es war der Rosenkranz, der vorher den Rückspiegel des Taxis geziert hatte.

Übertrieben die Russen immer so? Oder war es ein tiefsitzender Aberglaube?

Dennoch spürte sie die Wärme und Sorge, die in dieser Geste lag. Ein wildfremder Mann vertraute ihr einen wirklich sehr persönlichen Talisman an. Sie wusste aus Reiseführern, die sie vorher studiert hatte, dass die Russen ein sehr gastfreundliches Völkchen waren. Egal wie arm oder reich, alles wurde geteilt. Sie wünschte dem Mann für die Zukunft nur das Beste und hoffte, sich irgendwann für dieses Geschenk noch einmal angemessen bedanken zu können.

Jetzt war es also soweit, sie war am Zielort angekommen. Neugierig hob sie ihren Blick und musterte die Umgebung. Die Klinik lag in einem parkähnlich angelegten Waldstück und musste früher als eine Art Residenz oder Ähnliches gedient haben. Die mit reichlich Stuck verzierten Gebäude hatten mit Sicherheit schon bessere Zeiten gesehen. Grau in Grau präsentierte sich die ungepflegte Fassade mit den grob vergitterten Fenstern. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich aus, als sie sich dem Hospital näherte.

In der Dämmerung wirkte das gesamte Areal etwas unheimlich, aber sie wusste, dass mit dem nächsten Morgengrauen dieser Eindruck sicherlich verschwinden würde. Die gespenstische Stille, die über den Gebäuden lag, löste sich allerdings erst auf, als sie durch den Haupteingang ins Innere trat. Hier wurde es zunehmend lauter.

Sie buckelte den schweren Koffer die ausgetretenen Granitstufen hinauf und lief zur vergitterten Rezeption hinüber. Eine ältere, rundliche Dame mit Häubchen sprach sie auf Russisch an.

Hilflos zuckte Katharina mit den Schultern. „Do you speak English?“

„Njet.“

Die Dame eilte zur Tür hinaus und kehrte mit einer jüngeren Pflegerin im Schlepptau zurück. Katharina trug ihr Anliegen vor und wurde daraufhin höflich begrüßt. Die Pflegerin forderte sie auf, ihr zu folgen und schritt einen langen Flur entlang.

Die Patienten befanden sich bereits in ihren Zimmern. Alles wirkte heruntergekommen und stark renovierungsbedürftig. Die Wände waren mit einer hellgrünen Ölfarbe angestrichen, ebenso die Gitter, welche die Flurbereiche trennten. Die ehemals geweißte Decke wirkte gräulich und ein leichter Luftzug bewegte die Spinnweben in den Ecken.

Das Inventar und Mobiliar versetzte sie in die Vergangenheit zurück. Die Zeit schien hier stehengeblieben zu sein, stellte sie mit einem gewissen Grausen fest.

Die junge Pflegerin erklärte ihr die verschiedenen Bereiche, die sie durchschritten. Dann klopfte sie an eine Tür, öffnete diese und schob Katharina in den Raum. Ohne einen Abschiedsgruß ließ die junge Frau sie stehen und verschwand.

Katharina ließ den Raum auf sich wirken. Eine vergilbte, großgemusterte Tapete aus den Siebzigern klebte an den Wänden. Links und rechts quollen Bücherregale über, deren Fächer sich unter ihrer schweren Last bedrohlich nach unten bogen. Geblümte, altmodische Gardinen mit einem Stich ins Graue, hingen vor den Fenstern. Ein kleiner Tisch mit vier Stühlen stand mitten im Raum. Der alte Schreibtisch neben dem Fenster, mit einem schweren Sessel davor, rundete das mehr oder weniger geschmackvolle Ambiente ab. Kein Vergleich zu ihrem hellen, freundlichen Büro in Düsseldorf.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als plötzlich der schwere Sessel knarzte. Sie hatte tatsächlich angenommen, sich allein im Zimmer zu befinden. Ein Mann stand auf und schritt auf sie zu. Galant reichte er ihr seine Hand und begrüßte sie mit einem leichten Akzent auf Deutsch.

„Herzlich willkommen. Es freut mich sehr, dass sie meiner Einladung gefolgt sind. Hatten Sie eine gute Reise?“

„Dankeschön. Der lange Flug war etwas anstrengend, aber jetzt bin ich ja hier.“

„Ich werde Ihnen gleich ihr Zimmer zeigen, dann können Sie sich ausruhen. Es ist Ihnen doch recht, wenn Sie auf dem Klinikgelände wohnen?“ Verlegen nickte sie. „Darf ich Ihnen das Gepäck abnehmen?“

„Ja, sehr gern.“

Seine feingliedrigen, gepflegten Hände griffen nach dem schweren Koffer. Er lief voraus und sie beobachtete ihn. Mit so einer aparten, männlichen Erscheinung hätte sie im Leben nicht gerechnet.

Der Mann war Mitte vierzig und die ersten grauen Haare betonten seine Schläfen. Er hatte ein markantes, eckiges Gesicht, mit teils exotischen Gesichtszügen. Sein tiefschwarzes Haar wellte sich leicht. Die grüne Iris seiner Augen schien zu leuchten und die geschwungenen Augenbrauen betonten seinen magischen Blick. Er war schlank und drahtig und mit seinem dunkelgrauen Rollkragenpullover erinnerte er ein wenig an Steve Jobs. Zumindest von hinten.

Was, um Himmels Willen, hatte dieses männliche Model hier zu suchen?

Er schien ihre Gedanken zu erraten, denn er drehte sich um und lächelte sie an. „Alles in Ordnung?“

„Ja, natürlich.“ Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

Das Hauptgebäude hatten sie inzwischen hinter sich gelassen und der Mann lief zügig auf ein kleineres Häuschen zu. Es sah genauso heruntergekommen aus wie die anderen Gebäude und ihr schwante nichts Gutes.

„So, da wären wir.“

Er stellte den Koffer ab, angelte aus seiner Hosentasche das Schlüsselbund und öffnete die Tür. Muffiger Geruch schlug ihnen entgegen, hier war mit Sicherheit zu selten gelüftet worden. Sie folgte ihm ins Haus und begutachtete die spartanische Einrichtung. Überall lag eine dicke Schicht Staub auf den Möbeln.

„Nicht das Hilton Hotel, aber für die wenigen Nächte wird es Ihnen doch reichen, nicht wahr?“

Verzagt antwortete sie ihm. „Ja, das wird es wohl.“

„In der Küche gibt es einen Kühlschrank und eine Kaffeemaschine, Sie müssen die Geräte nur noch anschließen. Die Mahlzeiten nehmen Sie selbstverständlich mit uns ein. Neben dem Telefon liegt ein Zettel mit den Nummern der einzelnen Stationen. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl. Ich bin übrigens Victor. Victor Wolkow.“

Noch einmal reichte er ihr seine Hand. Die Berührung ihrer Handflächen löste einen minimalen Stromschlag aus, zumindest fühlte es sich elektrisierend an. Erneut errötend, zog sie rasch die Hand zurück.

„Dann lasse ich Sie jetzt allein, schlafen Sie gut.“ Victor machte auf dem Absatz kehrt und lief in die Nacht hinaus.

Kaum hatte er das Häuschen verlassen, rannte sie zur Tür und drehte den Schlüssel herum. Sicher war sicher. Anschließend schritt sie von Raum zu Raum und inspizierte das Haus. Alles wirkte so verlebt, so kalt, so ungemütlich.

Einsam saß sie auf dem unbequemen Küchenstuhl. Die hässliche Lampe warf ein diffuses Licht an die Wände und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, was sie hier eigentlich verloren hatte. Ab und zu hörte sie das Kreischen der Patienten, aber das war in Deutschland auch nicht anders. Sie überlegte ernsthaft, sich ein Taxi zu rufen, damit sie der Fahrer zu einem Hotel in der Innenstadt brachte. Fünf lange Nächte in diesem Kabuff, wie sollte sie das durchhalten?

Ehrlicherweise musste sie sich auch eingestehen, dass sie sich fürchtete. Der nahe Wald und die Parkanlage wirkten in der Dunkelheit bedrohlich und fremd. Das kleine Häuschen war weder wohnlich eingerichtet, noch lud es zum längeren Verweilen ein. Selten hatte sie sich das eigene Bett so sehr herbeigesehnt, wie in diesem Augenblick.

Ein leises Kratzen an der Fensterscheibe ließ sie zusammenzucken. Erschrocken sprang sie auf und der Stuhl kippte nach hinten. Mühsam sie riss den verzogenen Fensterflügel auf und stierte in die Dunkelheit. Aber niemand war zu sehen.

„Ist da jemand?“, fragte sie ängstlich in die Stille der Nacht, doch eine Antwort blieb aus.

Sie schloss das Fenster und zog in allen Räumen die Vorhänge zu. Ein prüfender Blick ins winzige Badezimmer jagte ihr einen weiteren Schauer über den Rücken. Schimmelige Fliesenfugen und Kalkablagerungen an sämtlichen Oberflächen. Der Raum wirkte schmuddelig, da konnte man sich nichts schönreden. Sie hatte sich auf eine warme Dusche gefreut, aber angesichts dieser Wellnessoase ließ sie es besser bleiben.

Im Schlafzimmer packte sie den Koffer gar nicht erst aus. Statt des Schlafanzuges, legte sie sich mit einer Jeans und einem Shirt ins Bett, so sehr ekelte sie sich. Zum ersten Mal nach so langer Zeit, wurde sie sich des eigenen Luxuslebens bewusst. Sie sollte endlich einmal zu schätzen lernen, wie gut es ihr doch ging, anstatt immer nur zu jammern.

Obwohl sie hundemüde war, hatte sie Schwierigkeiten, in einen erholsamen Schlaf zu finden. Sie beschlich das untrügliche Gefühl, hier nicht allein zu sein. Besorgt knipste sie die Nachttischlampe an und durchstreifte sämtliche Zimmer. Während der nächtlichen Tour begegnete ihr niemand, aber das war schließlich auch zu erwarten gewesen. Sie hätte einfach liegenbleiben sollen.

Ständig schaute sie auf die Uhr, aber die Zeit verging quälend langsam. Der muffige, abgestandene Geruch des Hauses waberte um ihre Nase, aber sie traute sich nicht, das Fenster zu öffnen. Im Gebälk knackte und knarzte es ständig und sie zuckte mehr als einmal zusammen. Wenn sie jetzt nicht bald einschlief, konnte sie den morgigen Tag vergessen. Zwei Nächte ohne Schlaf steckte sie nicht mehr so einfach weg, wie in ihrer Jugendzeit.

Schließlich machte sie das Licht wieder an und kramte das Buch aus ihrem Koffer. Vielleicht sorgte der trockene Lesestoff für die nötige Bettschwere. Erneut überkam sie das Gefühl, sich nicht allein im Haus zu befinden. Immer wieder lauschte sie angestrengt, hörte aber keinen Mucks. Das war definitiv die letzte Nacht in diesem Bett. Die erste Amtshandlung des morgigen Tages wäre die Buchung eines anständigen Hotelzimmers.

Nach einer Stunde lustlosem Herumblätterns in der Fachliteratur, schlug sie das Buch zu und löschte das Licht. Langsam senkten sich ihre Lider und sie triftete in einen seichten Schlaf.

Schlagartig wurde sie wach und neigte ihren Kopf zur Tür. Eine Gestalt lehnte lässig am Türrahmen und betrachtete sie. Wie kam derjenige ins Haus und was machte er hier?

Mit aller Macht versuchte sie ihren Kopf zu heben, scheiterte aber kläglich. Gefangen in ihrem eigenen Körper, konnte sie sich weder bewegen, noch brachte sie ein einziges Wort hervor. Immer wieder schlossen sich ihre Lider und sie döste ein. Vergeblich kämpfte sie gegen diese lähmende Müdigkeit an.

Kurze Zeit später erwachte sie erneut und nahm all ihre Kräfte zusammen. Ein Ruck durchfuhr ihren Körper und sie hob ihren Kopf. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen. Die Gestalt, die eben noch am Türrahmen gelehnt hatte, war verschwunden.

Sie kannte diesen Zustand der Bewegungslosigkeit noch aus ihrer Kindheit. Ziemlich deutlich hatte sie damals gespürt, wie sich eine fremde Person in ihrem Kinderzimmer befand. Trotz aller Anstrengungen blieb es ihr jedoch verwehrt, die Augen zu öffnen oder gar zu sprechen. Die Schlafparalyse hatte sie meist fest im Griff.

Und ausgerechnet hier traf sie wieder auf dieses Phänomen. Garantiert hatte sie sich mit dieser Reise zu viel zugemutet. Aber das Kind befand sich bereits im Brunnen und sie in Russland. Es gab nicht mehr viel zu retten und eine überstürzte Abreise könnte ihren Ruf in der Fachwelt ruinieren. Also wünschte sie sich den nächsten Morgen herbei und starrte emotionslos an die Zimmerdecke.

Das Böse in mir

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